Geometrie
Sitzposition auf dem Rennrad: Geometrie, Kaufberatung, Bikefitting
in Training
Mehr Kraft, mehr Komfort, mehr Ausdauer – die Versprechen zu den Effekten „der optimalen Sitzposition“ auf dem Rennrad sind groß. Doch die Potenziale sind es auch – auf vielen Ebenen: bei den Hebelverhältnissen, der Kraftübertragung, der Aerodynamik und dem Faktor Fahrkomfort.
Dieselbe Geschwindigkeit mit einem geringeren Krafteinsatz. Längere Strecken mit weniger Ermüdung – und Schmerzen. Für Viele sind solche Verbesserungen möglich. Für alle jene, deren Material noch nicht optimal an sie angepasst ist. Rennradfahren ist ein Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Letztere sollte an ihren Motor – den Fahrer – angepasst werden. Nicht umgekehrt.
Bikefitting ist mehr als ein simples Anpassen
Allerdings gilt auch: Bikefitting ist mehr als ein „simples“ Anpassen des Rads an gegebene Körpermaße oder Winkelstellungen, denn die aktivierte – oder auch nicht-aktivierte – Muskulatur sowie etablierte individuelle Bewegungsmuster sollten betrachtet werden. Zu einer Leistungssteigerung durch eine Sitzpositionsoptimierung gehören auch die Faktoren Anatomie, Ergonomie und Biomechanik. Die Position sollte zudem zum vorrangigen Einsatzzweck des Rades passen. Deshalb sollte sich jeder vor dem Einstellen Fragen stellen wie: Langstrecke oder kurze Rennen? Flach oder bergig? Radmarathons oder Touren?
Beim Bikefitting geht es vor allem darum, das System aus Fahrer und Rad zu „harmonisieren“ – und die Kontaktpunkte zwischen Mensch und Maschine zu optimieren: Sattel, Lenker, Pedale. Es geht um biomechanische Grundsätze, Hüftwinkel, Hebel. Bei der Effizienz des Tritts geht es etwa vor allem darum, während einer Kurbelumdrehung möglichst gleichmäßig Kraft auf das Pedal zu bringen. Gerade die Position der Schuhplatten und der „Kontaktpunkt Sattel“ – wie das Becken mit diesem interagiert und wie die umliegende Muskulatur dadurch eingesetzt werden kann – spielen für viele Bikefitting-Experten entscheidende Rollen.
Komfort und Langstrecke
Jedoch stehen verschiedene Experten auch oftmals für unterschiedliche Ansätze. So sagt Raphael Jung, Sportwissenschaftler und Gründer des Anbieters für Bikefitting, Leistungsdiagnostik und Coaching ‚Diagnose Berlin‘: „Die Sattelposition ist der Schlüssel. Verstellt man den Sattel, verändern sich alle anderen Kontaktpunkte. Der Hüftwinkel verändert sich, die Sattel-Lenker-Überhöhung wird verändert, die Sitzlänge wird verstellt. Hier gilt immer: ausprobieren, fühlen. Wie fühlt es sich an, wenn der Sattel fünf Millimeter nach unten verstellt wird – womit man sich ‚nach vorne‘ bewegt und damit auch die Sitzlänge, die Überhöhung und den Hüftwinkel verändert? Von solchen Erfahrungswerten lebt ein guter Bikefitter.“
Bikefitting ist für Profis ebenso relevant wie für Gelegenheitsfahrer. Das Risiko von Überlastungserscheinungen ist natürlich größer, wenn man öfter auf dem Rad sitzt, doch ambitionierte Sportler oder Profis legen einen größeren Wert auf das Training abseits des Rades. Oft sind es gerade überambitionierte Hobbyathleten, die zu schnell zu viel wollen und zu viel beziehungsweise hart trainieren, die körperliche Probleme entwickeln. Bike-Fitter können oftmals dabei helfen, diese zu lösen.
Keine einmalige Sache
Jedoch ist das Fitting keine einmalige Sache, sondern ein Prozess zwischen Mensch und Maschine, die sich gegenseitig beeinflussen. Die Geometrie eines Rades bestimmt über dessen Einsatzzweck und -gebiet. Der Rennrad- und Gravelbike-Markt differenziert sich immer weiter aus – die Modelle werden immer spezifischer. Wie wählt man nun das am besten zu einem und den eigenen Ansprüchen und Einsatzzwecken passende Rad aus? Wie stellt man es ein? Denn die Parameter Komfort und Effizienz kann nur verbessern, wer die Kontaktpunkte Pedal, Lenker und Sattel optimal einstellt. Welche Faktoren beeinflussen das Fahrverhalten eines Rades primär?
Die Sitzposition wird stark durch den Stack-to-Reach-Wert beeinflusst. Dabei werden der Stack – die Länge des Lots von der Mitte des Tretlagers bis zur verlängerten Oberkante des Steuerrohrs – und der Reach – der horizontale Abstand der verlängerten Tretlagermitte zur Oberkante des Steuerrohrs – in ein Verhältnis gesetzt. So werden verschiedene Rahmengrößen unterschiedlicher Hersteller besser vergleichbar. Ein niedriger Stack-to-Reach-Wert von 1,45 oder tiefer steht für eine sportive, tiefe, gestreckte, aerodynamische Race-Sitz-Position. Ein hoher Stack-to-Reach-Wert von rund 1,5 oder höher steht für: mehr Komfort, eine aufrechte Körperposition, einen großen Hüftwinkel, Langstreckentauglichkeit, Einsteigerfreundlichkeit.
Achtung: Auch der Sitzwinkel kann den Reach beeinflussen. In der Regel geht ein geringer Stack-to-Reach-Wert mit einem steilen Lenkwinkel einher. Dieser sorgt im Normalfall für eine hohe Agilität und ein sportiv-direktes Lenk- und Fahrverhalten.
Unterschiede
Die Unterschiede hinsichtlich des Fahrverhaltens zwischen Modellen mit steilen und flachen Lenkwinkeln sind gerade in schnellen Abfahrten mit engen Kurven in der Regel sehr ausgeprägt. Ein flacher Lenkwinkel verspricht eine hohe Laufruhe – und somit auch für Rennrad-Einsteiger eine einfachere Kontrollierbarkeit. Diese Eigenschaft ist einer der größten Unterschiede zwischen Race-Modellen auf der einen und Komfort- beziehungsweise Endurance-Modellen auf der anderen Seite.
Bei Ersteren spielt der Faktor „Aerodynamik“ gerade im Renneinsatz natürlich eine sehr viel wichtigere Rolle. Im Amateur- und Profi-Radsport wird ein niedriger Stack-to-Reach häufig noch durch den Einsatz sehr langer Vorbauten von 130 bis 150 Millimetern Länge und mit teilweise negativer Neigung ergänzt.
Welches Rad und welche Ausrichtung passen zu welchem Fahrertypen? „Besonders Aero-Rennräder sind gerade für Hobbysportler sehr verlockend“, sagt Raphael Jung. „Der lange und flache Rahmen lässt aber oft nur eine tiefe und gestreckte Sitzposition zu. Aber: Durch einen oftmals recht bewegungsarmen Alltag, gerade im Büro mit langen Sitzzeiten, sind sehr viele Hobbyathleten im Hüftbeuger sehr unflexibel und verkürzt. Viele haben zudem mit einer schwachen Muskulatur an der Rückseite des Körpers, der wichtigen sogenannten ‚hinteren Kette‘, zu kämpfen und riskieren daher mit einer aggressiven und gestreckten Sitzposition aktute und sogar langfristige Folgebeschwerden in diesem Bereich.“
Cyclocross vs. Gravel
Was macht eine „Langstreckengeometrie“ aus? Vereinfacht gesagt: ein höherer Stack-to-Reach-Wert – und damit mehr Komfort. Der Nachteil: ein „trägeres“ Fahrverhalten. Doch gerade an langen Anstiegen kann diese aufrechtere Sitzposition zu Vorteilen führen. So erleichtert sie etwa das Atmen. Ein flacher Lenkwinkel sorgt zudem für eine hohe Laufruhe, was das Steuern vereinfacht. „Gerade wer meist längere semi-sportliche Touren fährt, ist mit einer Endurance-Geometrie gut beraten und kann eine aufrechtere Sitzposition einnehmen, die zudem die stabilisierende Muskulatur weniger belastet und somit auch Komfort-Vorteile bringen kann“, sagt Raphael Jung.
Schnelle Räder für den Einsatz im Gelände – Gravelbikes – werden immer beliebter. Doch für welche Einsatzzwecke eignen sie sich am besten – und wo liegen die Unterschiede zu Cyclocross-Modellen? Ein Cyclorossrad ist primär auf den Renneinsatz ausgelegt. In seiner Agilität ähnelt ein solch klassisches Race-Modell in der Regel einem sportiven Rennrad. Die Sitzposition ist meist auf die in der Regel nur 60 Minuten langen Rennen ausgelegt –und somit: tief, gestreckt, sportiv. Die erlaubte maximale Reifenbreite: 33 Millimeter.
Schon deshalb sind Gravelbikes somit meist vor allem eines: komfortabler. Die Reifenfreiheit ist deutlich größer – die Montage von 45 oder gar 50 Millimeter breiten Reifen ist oft möglich. Ein weiterer Reifentrend lautet: tubeless. Die schlauchlosen Modelle können in der Regel mit einem niedrigen Luftdruck gefahren werden – was sich auf den Komfort und die Traktion, gerade auf losem oder matschigem Untergrund, positiv auswirkt.
Diesen Artikel lesen Sie in der RennRad 1-2/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Bikefitting: Kernpunkte
Der Bikefitting-Ablauf
Zuerst wird die aktuelle Sitzposition analysiert. Auch wenn der jeweilige Sportler „weit vorne“ sitzt, bedeutet dies nicht automatisch, dass auch ein langer Vorbau mit einer großen Überhöhung gefahren werden muss. Denn „weit vorne hat erst einmal nichts mit einer aggressiven Rennposition zu tun“, sagt der Physiotherapeut, Physiologe und Bikefitter Bastian Marks von „MarksWalter“. Denn es steht die grundsätzliche Frage im Vordergrund, welche Position zu dem jeweiligen Fahrer passt. Zuerst wird geprüft – und gemessen – ab welcher Sitzlänge der Fahrer das Becken frei positionieren kann. Danach wird der Athlet so aerodynamisch wie möglich – beziehungsweise wie nötig – auf das Rad gesetzt. Anschließend ermitteln die Bikefitter eventuelle Leistungspotenziale in der Trettechnik.
Typische Fehler
„Die Leute werden beim Radkauf immer nach der Schrittlänge gefragt, dabei ist die Sattelhöhe am leichtesten einzustellen. Nach dem Verhältnis Bein-zu-Oberkörper fragt aber kaum jemand im Handel“, sagt Bastian Marks. So ist die Gefahr für Menschen mit einem kurzen Oberkörper und vergleichsweise langen Beinen groß, einen zu großen Rahmen zu kaufen – auf dem man dann womöglich viel zu gestreckt sitzen wird.
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Die Sattel-Position
Der Bikefitter Bastian Marks ist inzwischen dafür bekannt, „seine“ Sportler recht weit nach vorn auf dem Rad zu positionieren. „Den Sattel weit nach vorn zu stellen, bringt nicht für jeden Vorteile, aber für viele.“
Die größten Vorteile davon haben, so Marks, kleine und voluminösere Athleten. „Eine kompaktere Sitzposition gibt dem Oberkörper die Möglichkeit, sich freier zu positionieren. Das kann Vorteile für den Nacken, die Lendenwirbelsäule und die Lunge bringen und somit auch die Atmung erleichtern. Lässt der Rahmen nicht genug Raum, um entsprechend kompakt zu sitzen, kann auch eine Sattelstütze ohne Versatz starke Verbesserungen schaffen. Bei sehr Ambitionierten achte ich darauf, dass beide Positionen möglich sind. Hier empfehle ich einen Sattel, der sowohl ein kompaktes Sitzen als auch eine Sitzposition zulässt, in der man lang auf dem Rad sitzen kann. Der Fahrer ist zudem näher am Lenker oder kann einen längeren Vorbau montieren, was das Handling und den Hebel im Sprint verbessern kann.“
Achtung: Wer seine gesamte Position weiter nach vorne „verschiebt“, sollte parallel auch die Cleats seiner Radschuhe möglichst weit in die Richtung der Ferse versetzen, um zu viel Druck an den Händen zu vermeiden. Sehr große und sehr schlanke Fahrer können dagegen weiter „hinter dem Tretlager“ auf dem Sattel sitzen, denn sie können auch in einer Position weiter hinter dem Tretlager ihr Becken aufrecht positionieren. Raphael Jung ergänzt: „Wer seine gesamte Position auf dem Rad nach vorne verschiebt, sollte allerdings auch auf seine Körperschwerpunktlage auf dem Rad achten. Oft sind taube Hände oder ein Unbehagen im Schulter- und Nackenbereich mit einer zu weit nach vorne verlagerten Position verbunden, die unzureichend gehalten werden kann.“
Die Kurbellänge
Bastian Marks sagt: „Die Kurbellänge ist für die Position auf dem Rad zentral. Sie ist vor allem deshalb wichtig, weil die Kurbel sehr aufwendig zu wechseln ist, wenn man das Rad bereits gekauft hat. Lange wurde die Kurbellänge wenig beachtet – das ändert sich zum Glück. Händler und Hersteller achten vermehrt darauf, zu variieren und vor allem in kleineren Größen auch kürzere Kurbeln anzubieten. Mein Rat: Bei einer Körpergröße von unter 1,70 Metern sollte man eine Kurbellänge von weniger als 170 Millimetern in Betracht ziehen. Dies kann den Tritt enorm erleichtern. Kurz gesagt: Die Kurbellänge gibt den Kreis vor, den die Beine beim Pedalieren umrunden müssen. Der oberste Punkt in diesem Kreis ist der, der für alle am schwierigsten zu erreichen ist, bei dem also oft Kraft verloren geht. Ist der Kreis kleiner, kann das Bein an diesem höchsten Punkt besser bewegt werden. Dabei ist der mögliche Größenunterschied des Kurbelkreises wesentlich kleiner als der Unterschied, den Beinlängen haben können. Je kürzer die Beine sind, desto wichtiger ist es, eine kürzere Kurbel in Betracht zu ziehen. Die Bewegung wird leichter und somit effizienter.“
Das Fazit
Raphael Jung von Diagnose Berlin sagt: „Einsatzzweck und individuelle körperliche Fähigkeiten sind die ausschlaggebenden Faktoren. Möchte ich mich an eine tiefe Position gewöhnen, kann die Hüftbeugung durch kurze Kurbeln, weit hinten montierte Cleats und einen nach vorn montierten Sattel etwas ausgeglichen werden. Vor einem Neukauf ergibt ein Bikefitting mit dem alten Set-up definitiv Sinn. Vorhandene Bewegungsmuster können analysiert und Ziele realistisch gesetzt werden. Auch in Bezug auf das neue Rad. Ein Fazit ist: Die eine, allgemeingültige ‚perfekte Sitzposition‘ gibt es nicht. Denn: Jeder Sportler ist anders. Jede Körperkomposition ist anders und muss demnach individuell betrachtet werden.“