Schnellkraft
Schnellkraft: Tipps, Anleitungen & ein Trainingslager
in Training
500 Meter vor dem Ziel, 400, 300, 200 – Vollsprint: 100 Prozent Intensität, 500, 600, 700, 800 Watt. Ziehen am Lenker, Ziehen am Pedal – gefühlt ist jeder Muskel des Körpers angespannt. Das Ringen nach Luft. Die Herzfrequenz: 170, 180, 190 Schläge pro Minute. Dies ist, was den Radsport mit definiert: die absolute Intensität, die 100-Prozent-Fokussierung während des Sprintens, das Alles-Geben. Egal, ob man gerade die Vorarbeit anderer auf einer Zielgerade „vollendet“, im Finale eines Radmarathons noch einmal alles aus sich herausholt, an seinem Hausberg Beschleunigungen trainiert oder mit – und gegen – seine Freunde „Ortsschild-Sprints“ fährt: Man gibt 100 Prozent.
Wie sich effiziente Sprint-Einheiten in einem Kurz-Trainingslager trainieren lassen – im Beispielfall während eines Rad-Urlaubs im für viele nahen Tannheimer Tal in Tirol – zeigen unsere Trainings-Beispiele. Fakt ist: Das Sprinten und Attackieren gehört zum Rennradfahren – und es ist gut trainierbar. Mit einem gezielten Trainingsprogramm kann man seine Sprint-Power innerhalb weniger Wochen um 60, 80, 100 oder gar mehr Watt steigern. Viele verbinden mit Schnelligkeit und Sprints vor allem Kraft. Die Überlegung: Je mehr Kraft auf die Pedale gebracht werden kann, desto schneller wird der Sprint. Aber die Leistung hängt neben der Kraft mit einer weiteren Komponente zusammen: der Schnelligkeit. Eine höhere Kontraktionsgeschwindigkeit in Verbindung mit einer optimierten muskulären Koordination führt zu höheren Trittfrequenzen. Es gilt dabei die folgende Gleichung:
Leistung = (Kraft x Weg) / Zeit
Trittfrequenz
Ergo gilt: Die maximale Sprintleistung entsteht dann, wenn Schnelligkeit und Krafteinsatz vereint werden. Weltklassesprinter wie Caleb Ewan erreichen im Sprint Trittfrequenzwerte von mehr als 120 Umdrehungen pro Minute. Bahnsprinter kommen auf mehr als 150 Umdrehungen pro Minute während eines Sprints.
In einer Studie von Douglas et al. aus 2021 wurden die Maximalkraft beim Radfahren sowie die Beteiligung der einzelnen Muskelgruppen während des Pedalzyklus untersucht. Dabei zeigte sich, dass 80 bis 85 Prozent der über einen Pedalzyklus erzeugten Kraft während der Beinstreckung erzeugt werden und nur etwa 15 bis 20 Prozent während der Beinbeugung. Die Hüftstreckung erzeugt den größten Anteil der Gesamtkraft, gefolgt von der Kniestreckung, der Kniebeugung und der Plantarflexion des Fußgelenks. Im Wiegetritt können durch eine zusätzliche Kraftübertragung vom Oberkörper über die Hüfte etwa acht bis zwölf Prozent mehr Maximalkraft erzeugt werden als im Sitzen. Die höchsten Maximalleistungen wurden bisher bei Bahnsprintern und BMX-Fahrern gemessen – 2400 bis 2500 Watt und somit 25 bis 26 Watt pro Kilogramm. Frauen erreichen Spitzenwerte von 20 bis 23 Watt pro Kilogramm. Bei einem Körpergewicht von 70 Kilogramm entspricht dies 1400 bis 1600 Watt.
Kraftsport
In einer anderen Studie konnten Forscher der Universität Trondheim nachweisen, dass eine Versuchsgruppe, die ergänzend zum Rad- auch Krafttraining durchführte, im hochintensiven Bereich bei einer fünfminütigen All-out-Fahrt und bei einer 40 Minuten dauernden Ausbelastung signifikant bessere Leistungen erbrachte als die Teilnehmer der Vergleichsgruppe. Ähnliche Effekte stellten Forscher der Sporthochschule Oslo fest: Sie ließen einen Teil der 19 hochtrainierten Probandinnen während des Untersuchungszeitraums von elf Wochen zusätzlich zu deren Ausdauerprogramm auch Krafteinheiten trainieren. Zwei Mal pro Woche vier Beinübungen, je drei Serien von vier bis zehn Wiederholungen. Ergebnis: Die „Stoffwechsel-Effektivität“ der Radfahrerinnen, die das Kraftprogramm absolviert hatten, hatte sich im Vergleich zu den nur ausdauertrainierenden Athletinnen signifikant verbessert. Zudem konnten sie mehr Sauerstoff verwerten. In einer Studie im Journal of Strength and Conditioning Research stand die Ökonomie auf dem Rennrad im Vordergrund.
Die Forscher unterteilen 16 Spitzen-Radsportler in zwei Gruppen. Eine davon absolvierte zusätzlich zu dem normalen Rad-Training ein Kraft-Programm in Form von freien Kniebeugen mit Zusatzgewichten: vier Serien mit je vier Wiederholungen, dreimal pro Woche über einen Zeitraum von acht Wochen. Das Ergebnis: Diese Athleten steigerten nicht nur ihre Kraft – um durchschnittlich 16,7 Prozent – sondern verbesserten auch signifikant die Ökonomie der Tretbewegung auf dem Rennrad um durchschnittlich 4,8 Prozent. Besonders aussagekräftig – wenn es darum geht, alte negative „Weisheiten“ zu entkräften – sind die Ergebnisse einer großen 2018 im British Journal of Sports Medicine veröffentlichten Meta-Analyse zu dem Zusammenhang von Krafttraining und Verletzungen. Das Ergebnis: Eine quantitative Steigerung des Krafttrainings um zehn Prozent führte bei den zahlreichen in mehreren Studien untersuchten Athleten zu einer um vier Prozent geringeren Verletzungsrate. Klar ist: Ein Maximalkraft-Training kann nicht auf dem Rad erfolgen – sondern nur im Kraftraum. Am besten mit freien Hanteln.
Schnellkraft: Leistung und Muskeln
Aufgrund der fehlenden muskulären Kraftanpassungen kam etwa das traditionelle K3- beziehungsweise „Kraft-mit-Rad“-Training in Verruf. Dennoch setzen es viele Profis, Amateure und Radmarathon-Spezialisten noch regelmäßig ein. So etwa die Fahrer des renommierten KTM-Tirol-Continental-Teams. Dessen Trainer Peter Leo sagt: „Wir setzen auch das klassische kraftbetonte K3-Training ein. Es kann zwar nicht dazu dienen, die Maximalkraft zu erhöhen, aber es ist ein metabolischer Reiz: Man arbeitet bewusst mit erhöhten Drehmomenten. Zu den Effekten zählt, dass mehr Typ-Zwei-Muskelfasern rekrutiert und zugeschaltet werden.
Viele Amateur- und Hobbyathleten vernachlässigen es, regelmäßig an ihrem Drehmomentspektrum zu arbeiten. Wir fahren diese Einheiten meist knapp unterhalb der Schwelle.“ Ein Trainingsgebiet in Tirol: die Region Tannheimer Tal. Hier lässt sich innerhalb weniger Tage mit geringem Aufwand viel kombinieren: Kraft-, Sprint- und Ausdauer-Training. Etwa in Form von K1-, K2-, K3- oder K4-Einheiten am Berg. Ideal dafür: gleichmäßige nicht zu steile Anstiege – wie etwa der bis auf 1100 Meter führende Gaichtpass. Die Daten: 4,3 Kilometer, 211 Höhenmeter. Weitere nahe Anstiege sind etwa der 1420 Meter hohe Riedbergpass mit seinen 6 Kilometern und 573 Höhenmetern sowie der Hochtannbergpass im Bregenzer Wald. Die Daten: 13 Kilometer, 906 Höhenmeter.
Steigerung der Maximalkraft
Schneller Sprinten bedeutet: Man muss die „Mutter aller Kraftfähigkeiten“ verbessern – die Maximalkraft beziehungsweise „Fmax.“ Die Maximalkraft lässt sich über drei Faktoren verbessern: über den Muskelquerschnitt, die intramuskuläre und die intermuskuläre Koordination. Beim ersten Faktor geht es um den Muskelquerschnitt beziehungsweise die Masse, beim zweiten um das Zusammenspiel der Muskelfasern innerhalb eines Muskels und beim dritten um das Zusammenwirken mehrerer Muskeln in einer Kette. Im Radsportlerfall: die Streckerschlingen der Beine. Daraus ergeben sich die wirksamen Krafttrainingsmethoden: Die Hypertrophiemethode als Muskelquerschnitt-Methode, die sogenannte IK- oder Intramuskuläre-Koordination-Methode sowie die Maximalkraftmethode. Die beiden letztgenannten zielen vornehmlich auf die Verbesserung der intramuskulären Koordination ab und weniger auf Masse. Da man die Beinmuskulatur sowohl isoliert – etwa den Beinstrecker alleine an der Leg-Extension-Maschine – als auch komplex – zum Beispiel als freie Kniebeuge – trainieren kann, führt man bei diesen Einheiten stets komplexe Bewegungen aus.
Intensivität und Limit
Das Ziel: die intermuskuläre Koordination mit zu trainieren. Jedoch sollten gerade Kraft-Einsteiger zunächst vorsichtig agieren. Anfänger können auch bei der klassischen „Einsteigermethode“, dem Kraftausdauertraining bereits signifikante Verbesserungen der Kraftfähigkeit – durch inter- und intramuskuläre Verbesserungen – erzielen. Der Grund dafür, dass Einsteiger nicht gleich mit hohen Gewichten beginnen sollten, lautet: Das Krafttraining bringt etliche gesundheitliche Vorteile – so werden etwa Gelenke, Bänder, Sehnen, Knorpel stärker und robuster. Doch: Diese Strukturen brauchen Monate, um sich anzupassen, auch wenn der Muskel schon längst bereit für mehr wäre. Denn dieser ist gut durchblutet und reagiert deutlich besser auf Anpassungsstress. Daher müssen diese passiven Strukturen zunächst einmal aufgebaut werden. Dafür sollte man sich in der Regel rund ein Jahr Zeit geben, während der man ein Kraftausdauertrainingsprogramm mit stetig steigenden Gewichten, aber noch recht hohen Wiederholungszahlen von 15 bis 25 Wiederholungen bei zwei bis drei Sätzen und je einer bis zwei Minuten Pause durchführt.
Erst nach dieser Anpassungsphase sollte man die Gewichte steigern. Die klassische Hypertrophiemethode: sechs bis zwölf Wiederholungen, drei bis fünf Sätze pro Übung, Pausen von zwei bis vier Minuten. Auch diese Methode sollte mindestens ein halbes Jahr lang durchgeführt werden, bis die Strukturen einen Anpassungszyklus durchlaufen haben. Der nächste Schritt nach dieser Phase ist: die IK-Methode. Dabei arbeitet man mit noch schwereren Gewichten und geringeren Wiederholungszahlen von zwei bis fünf Repetitionen bei vier bis acht Sätzen und je vier bis fünf Minuten Pause.
Das Ziel ist es, die Kraftfähigkeit des Muskels durch die Ökonomisierung der Muskelfaseransteuerung zu verbessern. Ein Training an der unteren Range dieser Methode ist für Ausdauersportler auch deshalb interessant, weil der Muskelquerschnitt nicht oder kaum vergrößert wird – und die Kraftfähigkeit und die Festigkeit der passiven Strukturen dennoch gesteigert werden. Jedoch gilt auch hier: Das Verletzungsrisiko ist hoch. Deshalb sollte man diese Methode erst anwenden, wenn man die technischen Aspekte perfekt beherrscht.
Maximalkraft und Schnellkraft
Eine weitere Steigerung diese Methode lautet: Maximalkrafttraining. Dieses sollte man zwingend nie alleine durchführen – sondern immer mindestens zu zweit. Denn man geht dabei an sein absolutes Kraftlimit, sodass man gerade noch eine einzige Wiederholung schafft. Man kann dabei bis zu zehn Sätze mit recht langen Pausenzeiten von bis zu fünf oder sechs Minuten absolvieren. Zuletzt bleibt noch die Schnellkraftmethode: Bei dieser führt man mehrere Wiederholungen mit mittelschweren Gewichten maximal schnell durch – so lange, bis die Bewegungsgeschwindigkeit langsamer wird. Das Ziel dabei: eine bessere Nerven-Muskel-Ansteuerung zu erreichen. Klassische Vorgaben lauten: 30 bis 50 Prozent der Fmax und sechs bis acht maximal schnelle Wiederholungen bei drei bis fünf Sätzen und je drei bis fünf Minuten Pause. In der Reihenfolge kommt diese Methode nach der Hypertrophie- beziehungsweise nach der IK-Methode.
Da man als Radsportler sowohl die einzelnen relevanten Muskeln kräftigen und vergrößern als auch die intermuskuläre Koordination verbessern möchte, bietet es sich an, isolierte und komplexe Übungen zu kombinieren. Leistungsrelevant sind vor allem die Oberschenkel-Vorder- und Rückseiten sowie die Gesäßmuskulatur. Hier sagt das sogenannte „Lombard‘sche Paradoxon“, dass die Knie-Beugemuskulatur im Falle des Radfahrens, bei dem das Becken und die Füße fixiert sind, synergistisch – unterstützend – wirken kann. Als mögliche Geräte für ein Studiotraining kommen bei isolierten Übungen die Leg-Extension-, die Leg-Curl-, die Wadenhebe- sowie die Glutaeus- beziehungsweise Kick-Back-Maschine in Frage.
Für den komplexen Trainings-Anteil eignen sich jegliche Leg-Press-Varianten sowie die klassische Kniebeuge und deren einbeinige Variationen für Geübte. Die Intensität für egal welche Methode sollte immer maximal sein. Die Sätze werden immer bis zur letztmöglichen Wiederholung durchgeführt, sonst hätte der Körper keine Veranlassung für Anpassungsprozesse. Alle vier bis sechs Wochen sollte man sich um jeweils einen Satz steigern. Ist man bereits am oberen Ende der Satzanzahl-Range, wird das Gewicht erhöht.
Sprint und Schnelligkeit
Die Effekte eines solchen dauerhaften Krafttrainings: Es wirkt hinsichtlich der Verletzungsprophylaxe, da es die Gelenke, Sehnen, Bänder und die Knochendichte verbessert beziehungsweise steigert. Zudem wird der Laktatverteilungsraum größer – daher kann man mitunter anaerob mehr leisten, „verträgt“ kurze, harte Antritte besser und kann höhere Wattzahlen erreichen. Auch die Antrittsfähigkeit wird durch eine höhere Muskelkraft deutlich erhöht: einerseits durch die gesteigerte Kraft, andererseits durch vergrößerte Kreatinphosphat-Speicher. Zudem verbessert sich die maximale Laktatbildungsrate VLamax.
Nachteilig ist, dass sich die Kohlenhydratspeicher schneller leeren. Hier muss man seinen „Sweet Spot“ für seine persönlichen Ziele erkennen und das Training dementsprechend gestalten. Das Training auf dem Rad: Sprinten kommt von Sprinten. Anders gesagt: Die neu antrainierte Kraft muss aufs Pedal. Daher bieten sich – wie beim Maximalkrafttraining – maximale Sprintoutputs von zehn bis 30 Sekunden Dauer und lange rund zehnminütige Pausen dazwischen an. Während diesen sollte sehr niedrigintensiv gefahren werden, damit die VLamax bei vielen Wiederholungen nicht über die Wochen zu sinken beginnt.
Schnellkraft: Phasen des Trainings
Die Reihenfolge von Kraft-Ausdauertraining-Phasen wird durch den Saisonverlauf bestimmt. Liegt der Fokus auf der Entwicklung der Muskulatur – wie üblicherweise während der Vorbereitung – dann wird das Krafttraining vollständig ausgeruht durchgeführt und das Radtraining im Anschluss leicht vorermüdet. Während der Saison ändert sich der Fokus: Dann sollte das Radtraining mit der größtmöglichen Frische angegangen werden. Zum Erhalt der Kraftfähigkeit sollte ganzjährig ein- bis zweimal pro Woche mit Gewichten trainiert werden. In Sachen Ernährung gilt: kein Glykogen, keine Intensität. Und: keine Baustoffe, keine Anpassungen.
Dabei ist zu bedenken, dass die Muskeln innerhalb des Körpers am Ende der Versorgungskette stehen – alle lebenswichtigen Organe sind vor ihnen an der Reihe. Ein Richtwert lautet: 1,4 bis zwei Gramm pro Kilogramm Körpergewicht. Je härter trainiert wird, desto mehr. Mitochondrien und Mikrorisse in der Muskulatur von Ausdauer-Vielfahrern müssen „repariert werden“ und nicht nur Bodybuilder müssen auf ihre Proteinversorgung achten. Zu den Effekten des Krafttrainings auf Dauerleistungen liegen unterschiedliche Ergebnisse vor: Leistungssteigerungen bei Sprintbelastungen sind unbestritten. Für Ausdauersportler wurden in keinen beziehungsweise verschwindend wenigen Studien negative Auswirkungen eines Krafttraining-Programms auf die Leistung gefunden. Es gilt: mehr Kraft, höheres Drehmoment.
Diesen Artikel lesen Sie in der RennRad 5/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.