Vor dem Sturm
Rennrad-Training: Wie trainiere ich richtig?
in Training
In den letzten 24 Stunden vor einem Rennen kann man das Rennen nicht mehr gewinnen. Die Grundlagen dazu musste man schon viel früher legen. Aber man kann seine Form zerstören. Man kann Fehler machen. Was man am Tag vor dem großen Tag macht, kann entscheidend sein.
Die Trainingsfahrt am Tag vor einem Rennen wird in der Fachsprache nicht gerade fantasiereich „Vorbelastung“ genannt. Unter Rennfahrern sind die Meinungen dazu genauso unterschiedlich wie die zum idealen Training. Viele Amateure und Profis schwören auf ein längeres, bis zu zweistündiges Training mit einigen intensiven Intervallen. Andere sind überzeugt, dass die beste Rennvorbereitung darin besteht, am besten nur auf dem Sofa rumzugammeln. Kein Meter zu viel, lautet ihr Motto.
Tapering – oder nicht
Zu den Profis, die vor jedem Rennen aufs Rad steigen, gehört Gerald Ciolek: „Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, muss ich am Tag vor einem Wettkampf auf mein Rad“, sagt er, „das geht jedoch nicht immer, denn bei dem Reisestress im internationalen Rennzirkus passt es einfach manchmal nicht. Dann fahre ich zumindest noch kurz auf der Rolle.“ Ein Amateur aus dem Kölner Raum geht noch weiter: „Ich fahre fast nur Rundstreckenrennen, und wenn ich am Tag vorher nicht mindestens 90 Minuten trainiere, geht am Tag darauf bei mir gar nichts.“ Natürlich gibt es auch ganz andere Extreme. Viele Radprofis und Triathleten versuchen, sich vor einem Wettkampf wenig bis gar nicht zu belasten. Diese Phase der verminderten Belastung, auch Tapering genannt, beginnt meist schon Wochen vor dem Hauptwettkampf. Man reduziert Trainingsumfang und -intensität, um alle Energie für den Wettkampf zu sammeln. Dabei regenerieren sich alle Organsysteme und die Energiespeicher sind übervoll.
Doch was passiert physiologisch bei einer über Tage reduzierten Belastung? Der Körper schüttet als Folge von Belastung die Stresshormone Kortisol und Adrenalin aus. Diese beiden Hormone steuern unter anderem die Herzfrequenz, den Blutdruck, die Weitstellung der Bronchien sowie die Energiegewinnung – sie steuern damit alles, was für die sportliche Höchstleistung notwendig ist. Trainiert man immer gleichmäßig intensiv und umfangreich, scheinen die Rezeptoren für diese Hormone unempfindlicher zu werden. Dann reicht am Wettkampftag die „normale“ Hormonausschüttung nicht aus, um den Körper auf Hochleistung einzustellen.
Reduziert man die Belastung in den Tagen vor einem wichtigen Wettkampf, so regulieren sich die Rezeptoren neu. Sie werden empfindlicher, die durch das Aufwärmen und den Wettkampf erzeugte Hormonantwort wird stärker als zuvor. Die Folge davon ist ein extrem leistungsbereiter Körper.
Gegen den Ruhemodus
Die Gefahr von zu viel Ruhe und Erholung liegt darin, dass sich der Körper „runterfährt“. Er verabschiedet sich in den Ruhemodus. Höchstleistungen sind dann kaum möglich. Soweit die Theorie. Daher schwören viele Rennfahrer auf eine anständige Vorbelastung. Mittlerweile wird auch im Triathlon nicht mehr die absolute Ruhe präferiert, sondern die Leistungsfähigkeit in den letzten Tagen vor einem Wettkampf gezielt mit kurzen, aber intensiven Belastungen aufrechterhalten. In einer bemerkenswerten Studie an Kajaksportlern aus dem Jahr 2010 zeigt sich ein ähnliches Bild: Wird in der Wettkampfvorbereitung mehrere Tage auf Belastungen verzichtet, sinkt die Maximalkraft.
Die ultimative Handlungsanweisung lässt sich daraus jedoch nicht ableiten.
Denn: Menschen sind verschieden. „Offensichtlich sind das Ansprechen auf eine Vorbelastung und die Notwendigkeit dazu bei Radsportlern unterschiedlich ausgeprägt“, sagt Professor Helmut Lötzerich von der Deutschen Sporthochschule Köln. „Ein Etappenspezialist, der während einer Rundfahrt immer stärker wird, braucht offensichtlich Vorbelastungen, um seine volle Leistungsfähigkeit abzurufen. Auch bei Rundstreckenfahrern läuft es oft am zweiten Tag besser, natürlich nur unter der Voraussetzung, dass sich die Fahrer nach dem ersten Rennen optimal mit Nährstoffen und Flüssigkeit versorgen konnten.“
Vorbelastungen sind vor allem dann von großer Bedeutung, wenn die Belastung am darauffolgenden Tag kurz und hochintensiv oder sehr wechselnd intensiv ist: etwa bei Zeitfahren, Rundstrecken- oder Bahnrennen. Bei langen Marathons oder Jedermann-Rennen ist die Belastung über weite Strecken eher gering, Stoffwechsel und Muskulatur haben die Möglichkeit „hochzufahren“. Für solche Wettkämpfe sind Vorbelastungen nicht zwingend notwendig. Schlechte Beine am Anfang eines Rennens wandeln sich nach der ersten Rennstunde nicht selten zu guten. Daher kommt auch die Radfahrerweisheit: Man muss fahren, bis die Beine „aufgehen“.
Kopfsache
Dieses Phänomen hat schon viele Rennfahrer verblüfft. Vor allem, wenn man mit dem Gedanken spielt, sich wegen seiner ach so schlechten Form zurückfallen zu lassen – und es dann, plötzlich, passiert: Man spürt den Druck. Keine Schmerzen, nur Kraft. Was in diesen Fällen genau physiologisch geschieht, ist leider nicht geklärt. Anzunehmen sind jedoch Prozesse auf molekularer Ebene in den Muskelzellen, bei denen es durch Hormonausschüttungen induziert zu einer optimierten Verwendung der Brennstoffe kommt.
Auch die Transportwege werden optimiert, Glykogen und Fette gelangen leichter zu den Muskelzellen und dort zu den Kraftwerken der Zellen, den Mitochondrien. Ob man sich vor einem großen Wettkampf belastet oder nicht, ist auch Kopfsache. Mit einer kleinen Runde, dem dazugehörigen Material- und Formcheck sowie einer Streckenbesichtigung lenkt man sich hervorragend ab. Wer auf dem Sofa oder dem Hotelbett verharrt, dessen Gedanken kreisen unter Umständen ausschließlich um den nächsten Tag. Wer es genau wissen möchte, sollte beide Varianten ausprobieren und dann vergleichen, nach welcher er sich besser fühlt.
Bloß nicht!
Eines sollte man am Tag vor einem Rennen auf jeden Fall vermeiden: ungewohnte körperliche Belastungen. Die könnten nämlich zu Muskelkater oder Verspannungen führen. Ebenso gilt es, nicht lange zu stehen oder zu gehen. Ein stundenlanger Einkaufsbummel kann für richtig dicke Beine am Folgetag sorgen. Auch ausgiebiges Sonnen kann sich negativ auf die Form auswirken. Dann gilt es nur noch eines zu beachten: den Schlaf.
Auch seine Länge und Qualität kann die Leistung beeinflussen. Einige Studien haben schon gezeigt, dass Schlafentzug zu einer schlechteren physischen und psychischen Leistung führen kann. Gleiches gilt übrigens auch für das Gegenteil: zu langes Schlafen