Leitartikel, Radmarkt, Inflation
Die Situation auf dem Radmarkt: Inflation, Preis und Leistung

Radmarkt

Die Situation auf dem Radmarkt: Inflation, Preis und Leistung

Inflation, Preis und Leistung: Die Wechselwirkung zwischen Angebot und Nachfrage und die großen aktuellen Entwicklungen innerhalb des Radmarkts. Ein Leitartikel von RennRad-Chefredakteur David Binnig.
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Hoch und runter, hoch, weiter auf einem Plateau, noch etwas hoch und dann runter – das sind die Zyklen sehr vieler Radfahrten. Und jene der Wirtschaft. Eine „Weisheit“ lautet demnach: Auf eine Auffahrt folgt die Abfahrt, auf den Aufstieg der Fall – ‚boom and bust‘.

Die aktuelle Situation des Fahrradmarktes ist mit einem anderen Wirtschaftsbegriff jedoch besser ausgedrückt: „Schweinezyklus“. Dieser beschreibt eine zyklische Schwankung des Angebots und des Marktpreises. Erst ist die Nachfrage da, woraufhin die Hersteller ihre Produktion stark hochfahren und den Markt dann „überschwemmen“. Doch dieser ist dann gesättigt und die Nachfrage nimmt ab.

Lifestyle und Statussymbol

Im Fahrradmarkt fanden sich viele „Gewinner“ der Corona-Jahre. Auch aufgrund mangelnder Alternativen – geschlossene Sporthallen und Fitnessstudios, eingeschränkte Reisemöglichkeiten, verbotener Vereinssport et cetera – „entdeckten“ sehr viele Menschen ein neues Mittel zur mehr oder weniger sportiven Fortbewegung für sich: das Fahrrad.

Für Viele, die es bislang nur als Mittel zum Zweck oder notwendiges Übel sahen, wurde es zum Sportgerät, Urlaubs- oder „Mini-Abenteuer“-Vehikel. Die Nachfrage war oftmals so hoch, dass sie – primär wegen der unterbrochenen Lieferketten aus Asien – nicht bedient werden konnte. Viele Menschen waren dann bereit, für das Wenige, das zu erwerben war, höhere Preise zu zahlen. „Das Fahrrad ist zum Statussymbol geworden. Das hat schon vor Corona angefangen, die Pandemie hat es nur beschleunigt. (…) Nachhaltigkeit und Fitness sind wichtig für den Lifestyle geworden, das Fahrrad symbolisiert beides. Radfahren wird noch beliebter werden, mit dem Rad zur Arbeit pendeln wird normal sein. Die Gesellschaft denkt um, in Städten werden Radwege ausgebaut“, sagte im September 2021 der damalige Canyon-CEO Armin Landgraf, der inzwischen für Specialized tätig ist.

Deutschlandweit liegt die summierte Gesamt-Inflationsrate seit Juni offiziell bei 2,2 Prozent. Doch der dieser Rechnung zugrunde liegende hypothetische „Warenkorb“ ist für Viele eher wenig repräsentativ.

Angebot und Nachfrage

Der Alltag der meisten Menschen hat sich sehr viel stärker verteuert. So sind etwa die Preise für Nahrungsmittel zwischen Januar 2020 und Mai 2024 im Mittel um mehr als 30 Prozent gestiegen. Einzelne Lebensmittel verteuerten sich noch sehr viel deutlicher. Der Preis für Sonnenblumenöl nahm beispielsweise um mehr als 63, der für Kartoffeln um fast 50, der für Zucker um 80 Prozent zu.

Im Rennradmarkt betrug die Preissteigerung, laut Idealo, allein zwischen 2019 und 2021 30 Prozent. Seit mehreren Monaten hat sich der „Trend“ nun umgekehrt: Die Radindustrie ist in einer Art Schweinezyklus. Das Angebot ist sehr groß, die Nachfrage geringer – der Markt ist gesättigt. Oder? Jahrelang stiegen im Radmarkt der Absatz und die Produktion.

Die Hersteller profitierten vor allem auch von dem vor Langem einsetzenden E-Bike-Boom. Denn: Für diese wurden 2023 im Durchschnitt 2950 Euro bezahlt – für klassische „Bio-Bikes“ ohne Akku und Motor nur 470 Euro. In jenem Jahr überstiegen die Motor-Fahrrad-Verkäufe hierzulande auch zum ersten Mal jene der „Bio-Bikes“. Nur neun Prozent der hierzulande verkauften Fahrräder zählen zum sportiven Dropbar-Segment. „Nach dem Boom während der Corona-Pandemie sind in der Branche die Lager voll, das Interesse der Kunden ist geringer als erwartet. Branchenvertreter rechnen auch für das laufende Jahr mit einer angespannten Lage für Hersteller von Fahrrädern und Zubehör“, analysiert die ‚Wirtschaftswoche‘.

Die Lager vieler Radhändler sind voll. Der aktuelle Bestand liegt bei knapp anderthalb Millionen Rädern – und sei damit laut Burkhard Stork, dem Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands, ZIV, „hoch, aber nicht katastrophal hoch“.

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Inflation und Umsatz

Laut dem Branchenverband und vielen Unternehmenssprechern seien primär die generelle Inflation und das schlechte Wetter im Frühjahr und Frühsommer hauptverantwortlich für die geringe Nachfrage. 2022 verzeichnete die Radbranche hierzulande Rekordumsätze. Danach gingen diese auf rund sieben Milliarden Euro leicht zurück. In den ersten vier Monaten des Jahres 2024 blieb nach ZIV-Zahlen der E-Bike-Absatz stabil – doch die Zahl der verkauften „normalen“ Fahrräder sank stark, von 800.000 im selben Vorjahreszeitraum auf nur noch rund 650.000. „Die Nachfrage ist nicht so groß, wie man sie sich im Frühjahr wünschen würde“, sagt Burkhard Stork, „doch auf lange Sicht weist die Kurve nach oben.“

Merida, neben Giant der größte Fahrradhersteller der Welt, konnte seinen Umsatz bereits im April um 24, im Mai um 7,5 und im Juni um 48,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr steigern. Die ‚Wirtschaftswoche‘ widmet dem deutschen Rad-Direktvertriebs-Hersteller Canyon einen eigenen Artikel. Darin wird konstatiert, dass das Unternehmen gegen den aktuellen Branchentrend weiterwächst. Das operative Ergebnis stieg demnach um neun Prozent – nach einem Plus von 26 Prozent im Vorjahr. „Der Umsatz des Unternehmens stieg 2023 laut eigenen Angaben um 22 Prozent auf 791 Millionen Euro. In den vergangenen Jahren stellte das Koblenzer Unternehmen mehrere hundert neue Mitarbeiter ein, heute arbeiten knapp 1700 Menschen bei Canyon.“

Radmarkt als „Corona-Gewinner“

Der gesamte Radmarkt war ein „Corona-Gewinner“. Diese Sondereffekte sind nun vielleicht vorbei. Tagesschau.de bilanziert: „Die Unternehmen haben Jahre mit außergewöhnlich guten Gewinnen hinter sich. Die letzten veröffentlichten Bilanzen betreffen noch das Boomjahr 2022 und zeigen: Zweistellige Umsatzrenditen waren nicht ungewöhnlich.“

Dazu passend zeigen sehr viele Kommentare in den sozialen Medien zu den aktuellen Entwicklungen des Radmarkts eine ähnliche Tendenz: Sie weisen auf den starken Preisanstieg hin. Häufig findet man auch Fragen wie: „Wer soll sich das leisten?“

Fakt ist, dass im Radmarkt die enorme Inflation der vergangenen Jahre stark deutlich wird – etwa dann, wenn man die früheren Gewichte und die Ausstattungen der Räder bestimmter Preisklassen mit jenen der aktuellen Rad-Generation vergleicht. Heutzutage bekommt man selbst im Preisbereich über 5000 oder gar 6000 Euro oftmals nur „Mittelklassegruppen“ wie die Shimano Ultegra Di2 oder die Sram Force AXS. Zudem wurden die Räder in der Relation meist schwerer. Wobei man auch festhalten muss, dass man Felgenbrems-Modelle von damals kaum mit Scheibenbrems-Rennrädern von heute vergleichen kann.

Stark steigende Preise bringen Effekte auf den gesamten Radsport mit sich. So steigt etwa die „Einstiegshürde“ für Jugendliche beziehungsweise potenzielle Nachwuchsfahrer. Allein die finanziellen Ansprüche können potenziell abschreckend wirken. Die Frage ist: Dreht das Angebot hin zu einem Käufermarkt? Werden die Rabatte Bestand haben oder steigen die Preise nach einer Konsolidierungsphase weiter?

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