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Sicherheit und Risiko im Radsport: Gründe, Maßnahmen, Effekte

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Sicherheit und Risiko im Radsport: Gründe, Maßnahmen, Effekte

Radsport ist eine Risiko-Sportart. Für Rennfahrer gehören Stürze und Verletzungen dazu. Wie kann man das Risiko senken? Ein Leitartikel von Chefredakteur David Binnig.
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„Wenn Radrennen-Fahren eine neue Sportart wäre, würde es niemals erlaubt werden.“ Wer zu diesem Fazit kommt, ist kein sportferner „Experte“, sondern der Tour-de-France-Sieger von 2018, Geraint Thomas. Das Zitat stammt aus einem Interview mit „The Guardian“ mit ihm zum Thema Sicherheit im Radsport. Dessen Anlass: etliche Stürze im Verlauf von Radrennen, aber vor allem ein einzelner, besonderer. Jener eine Massensturz während der vierten Etappe der Baskenlandrundfahrt in diesem April. Es geschieht in einer unscheinbaren Abfahrt, einer unspektakulären Kurve: Die vorderen Fahrer des Pelotons fahren mit knapp 80 km/h über eine Bodenwelle. Einige von ihnen verlieren dabei die Kontrolle über ihr Rad und stürzen in einen Betongraben links neben der Straße. Dieser Sturz kann als ein Symbol für das hohe Gesundheitsrisiko im Radsport verstanden werden.

Es war nur ein Unfall von etlichen aktuellen. Für mehr Medienpräsenz und Diskussionen als andere sorgte er nur wegen der Fahrer, die diesmal verletzt wurden: Rund ein Dutzend Radprofis stürzte dabei, unter anderem Remco Evenepoel, Primož Roglič und Jonas Vingegaard. Damit waren drei der vier Top-Favoriten für das wichtigste Radrennen der Welt, La Grande Boucle, betroffen. Der zweimalige Tour-de-France-Sieger aus Dänemark trug die schwersten Verletzungen davon. Er brach sich das Schlüsselbein, einen Finger und mehrere Rippen. Doch seine schlimmste Verletzung war eine punktierte Lunge. Erst nach mehreren Operationen und zwölf Tagen wurde er aus dem Krankenhaus in Vitoria entlassen. Dieser eine Sturz hat demnach enorme Auswirkungen – auf den Verlauf der gesamten folgenden Saison, auf Rennergebnisse, auf die Taktiken und die Machtverhältnisse der Teams.

„Jetzt reden alle darüber, weil die bekanntesten Fahrer gestürzt sind, aber genau das passiert schon seit Jahren“, sagt Geraint Thomas. „Bei fast allen Rennen gibt es verschiedene Gefahrenstellen, aber ich habe das Gefühl, dass man viel mehr für die Sicherheit der Fahrer tun könnte. Es gibt Verkehrsinseln, Blumenkübel, Fahrbahnverengungen und weitere Elemente, die für die Fahrer im Rennen gefährlich sein können. Wenn ich darüber nachdenken würde, müsste ich ganz hinten fahren. Es ist ein großes Problem, dass nicht alle Fahrer die Möglichkeit haben, die Strecke im Vorfeld zu besichtigen. 90 Prozent von ihnen kennen die Strecken nicht. Und dann rasen sie im Rennen die Abfahrten hinunter.“

Der folgenschwere Sturz des Wout van Aert

Bereits die Klassiker-Saison im Frühjahr war von vielen Stürzen geprägt. Einer davon hatte potenziell sehr weitreichende Konsequenzen – jener des Wout van Aert. Der Belgier aus dem Top-Team Visma-Lease a Bike hatte sich vor dieser Saison speziell auf die Klassiker vorbereitet. Laut Grischa Niermann, einem der Sportlichen Leiter des Teams, war er in der Form seines Lebens. Er wäre – neben Fahrern wie Mathieu van der Poel und Tadej Pogačar – als einer der absoluten Top-Favoriten in jedes große Rennen gegangen. Doch ein Sturz änderte alles. Während des Semi-Klassikers Dwars door Vlaanderen am 27. März stürzte er bei einem Massencrash des Hauptfeldes schwer. Er brach sich das Schlüsselbein, das Brustbein und mehrere Rippen und verpasste dadurch alle geplanten Saison-Highlights: Paris-Roubaix, die Flandernrundfahrt und den Giro d’Italia.

Radrennen und Stürze gehören – leider – zusammen. Aus einer UCI-Studie aus dem Jahr 2023 geht hervor, dass die Zahl der Stürze in den vergangenen fünf Jahren immer weiter zugenommen hat – allein im Vorjahr um 24 Prozent. Detaillierte Informationen zu den Unfällen bei Radrennen bietet unter anderem das auf Krankenhausdaten basierende niederländische Verletzungsüberwachungssystem. 2020 gaben über zehn Prozent der in einer Notaufnahme behandelten Radfahrer an, zum Zeitpunkt des Unfalls ein Radrennen gefahren zu sein. Die gleiche Datenerhebung zeigte zudem, dass mehr als 40 Prozent der Rennradfahrer ohne Fremdeinwirkung gestürzt waren, etwa indem sie weggerutscht sind. Ein gleicher Prozentsatz war mit einem anderen Verkehrsteilnehmer zusammengestoßen, 15 Prozent mit einem Radsportler. 36 Prozent von ihnen machten auch die eigene Unaufmerksamkeit mitverantwortlich für den Sturz.

Gründe und Risiken

41 Prozent führten den Unfall auf die Unachtsamkeit eines anderen Verkehrsteilnehmers zurück. Die Frage nach den Ursachen der Stürze während Radrennen ist eine inzwischen viel diskutierte.

Der UCI-Präsident David Lappartient sagte zu dem Thema in einem AFP-Interview: „Fünfzig Prozent der Stürze sind je auf die Einstellung des Fahrers zurückzuführen. Ich will damit nicht sagen, dass es ihre Schuld ist. Es könnte einfach ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit sein. Auch die Scheibenbremsen sind ein Thema, das wir wieder auf den Tisch bringen müssen. Ein Tabuthema gibt es nicht. Die Ausrüstung ist definitiv eines der Themen. Fahrräder haben einen großen Entwicklungssprung gemacht. Zudem wollen wir in diesem Jahr Gelbe und Rote Karten einführen, so wie im Fußball. Damit soll gefährliches Fahrverhalten besser geahndet werden können.“

Auf X schrieb er: „In den vergangenen Wochen gab es in unserem Sport eine Reihe schwerer Stürze. Ich wünsche allen Fahrern eine schnelle und vollständige Genesung. Genau, um solche Situationen im Profi-Straßenradsport der Männer und Frauen in Zukunft zu vermeiden, haben wir Ende des vergangenen Jahres in Zusammenarbeit mit Fahrern, Teams, Veranstaltern und allen Akteuren des Radsports ‚SafeR‘ geschaffen. Wir erwarten die ersten Auswirkungen dieser Initiative im Jahr 2024.“ Geraint Thomas reagierte auf diese Aussagen: „Ich denke, David Lappartient muss sich mehr auf die 50 Prozent konzentrieren, die er beeinflussen kann. Ich stimme ihm in dem, was er sagt, zu, aber es ergibt für mich einfach keinen Sinn, so etwas zu sagen. Es bedeutet, dass 50 Prozent immer noch von ihm und den Organisatoren abhängen. Sie sollten alles tun, was in ihren Möglichkeiten liegt.“

Sicherheit im Radsport: Maßnahmen und Effekte

Nur 48 Stunden nach dem Interview mit ihm gab es einen weiteren Sturz bei der Tour of the Alps: Chris Harper und Ben O’Connor stießen in einer schnellen Abfahrt zusammen, wobei Ersterer mit dem Kopf gegen einen Laternenpfahl prallte und unter anderem eine Gehirnerschütterung erlitt.

Im Sport braucht es oft zunächst ein tragisches Ereignis, um einen Wandel herbeizuführen. Erst nachdem der Top-Sprinter Fabio Jakobsen während der Eröffnungsetappe der Polen-Rundfahrt 2020 so schwer gestürzt war, dass er beinahe gestorben wäre, rückte man das Thema „Fahrersicherheit“ stärker in den Mittelpunkt. Die Fahrer-Gewerkschaft hat Rennveranstaltern seitdem immer wieder mit rechtlichen Schritten gedroht, Proteste der Profis unterstützt und sich bereits mehrfach erfolgreich dafür eingesetzt, dass gefährliche Streckenabschnitte gestrichen werden.

Nach dem sturzbedingten Tod von Gino Mäder bei der Tour de Suisse im Juni 2023 drängte Adam Hansen, der Präsident der Fahrer-Gewerkschaft, darauf, dass die Organisatoren in den Auslaufzonen besonders gefährlicher Kurven Heuballen oder Matten anbringen. Dass sich Mäders Unfall nur einen Tag, nachdem mehrere Fahrer ihre Bedenken über die anspruchsvolle High-Speed-Abfahrt ins Ziel geäußert hatten, ereignete, schien die Bemühungen um die Sicherheit der Fahrer zu verstärken.

Sicherheit bei der Tour de France

Vor dieser Tour de France wurde nun ein neues unabhängiges Gremium gegründet, das sich mit der Sicherheit der Fahrer befasst: das SAROC, ein Akronym für „Safe Road Cycling“. Initiiert wurde es von mehreren Teams – unter anderem Soudal Quick-Step, Visma-Lease a Bike, dsm-firmenich PostNL und Ineos Grenadiers – gemeinsam mit der UCI und verschiedenen Rennveranstaltern. Das Ziel: eine deutliche Verbesserung der Sicherheit der Fahrer.

Als eine der ersten Maßnahmen wurde eine Datenbank, in der alle Stürze erfasst werden, erstellt, um deren Ursachen besser analysieren zu können – und damit auch Lösungen dagegen zu finden. Es zeigte sich, dass die meisten Stürze auf zwei Faktoren zurückzuführen sind: Die Beschaffenheit der Strecke, bezogen vor allem auf Hindernisse und den Zustand der Straßen, sowie auf das Verhalten der Teilnehmer, zu denen nicht nur die Profis, sondern auch die Fahrer der Team- und Begleitfahrzeuge, die Zuschauer und die Kamerateams gehören.

Geraint Thomas analysierte bereits 2023: „Ich denke, es ist vernünftig, die Fahrer dazu aufzufordern, langsamer zu fahren, wenn die Straßen rutschig sind. Ich verstehe völlig, dass man die Etappe gewinnen will, aber es sollte auf eine vernünftige Art und Weise passieren und nicht dadurch, dass man mit Vollgas in Kreisverkehre fährt. Es geht darum, mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen. Ja, natürlich will man im Rennen gut abschneiden, aber das ist es meiner Meinung nach nicht wert, zu stürzen. Aber so ist der Radsport nun einmal und so wird er immer sein.“

Die Rennen werden immer schneller – und immer offensiver gefahren. „Neutrale“ Renn-Phasen gibt es kaum mehr. Damit steigt auch das Risiko. Strecken-Entschärfungen und passive Sicherheitsmaßnahmen wie mehr und andere Barrieren oder das Aufstellen von Aufprallschutzmaterialien können – in geringem Umfang – potenzielle Sturzschäden mindern. Doch das Risiko bleibt bestehen. Es ist im Radsport system-immanent.

Philippe Gilbert, der ehemalige Klassiker-Spezialist und Straßenweltmeister von 2012, bilanzierte einst in einem Interview: „Ich bin in meiner Karriere mehr als 1000 Radrennen gefahren und es gab vielleicht nur ein einziges ohne Sturz.“

Dieser Artikel erschien in der RennRad 7/2024. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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