Søren Wærenskjold, Radsport, Norwegen, Leitartikel
Norwegen: Die erfolgreiche Entwicklung zur Sportnation

Norsk måte

Norwegen: Die erfolgreiche Entwicklung zur Sportnation

Norsk måte – zu Deutsch: die norwegische Art. Das kleine Land mit 5,4 Millionen Einwohnern entwickelt sich – im Vergleich mit Deutschland – in die umgekehrte Richtung: hin zu einer Sportnation. Einblicke.
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Norwegen hat 5,4 Millionen Einwohner –und ist eine Weltmacht. Wenn es um den Wintersport geht. 405 Medaillen gewannen norwegische Sportler bislang bei Olympischen Winterspielen, 148 davon waren goldene – mehr als jede andere Nation. Doch: Nicht nur auf Schnee und Eis werden immer mehr Norweger immer erfolgreicher. In Tokio gewannen norwegische Sportler insgesamt acht Medaillen, darunter vier goldene.

Der, nach Marktwert, „wertvollste“ Fußballspieler der Welt: Erling Braut Haaland. Der beste Schachspieler der Welt: Magnus Carlsen. Der beste 400-Meter-Hindernis-Läufer: Karsten Warholm. Der beste 1500-Meter-Läufer: Jakob Ingebrigtsen. Das beste Beachvolleyball-Duo: Anders Mol und Christian Sørum.  Die besten Triathleten: Gustav Iden und Kristian Blummenfelt. Die Heimat all dieser Athleten: Norwegen. Alexander Kristoff, Tobias Foss, der neue Überraschungs-Zeitfahr-Weltmeister, Søren Wærenskjold, der U23-Zeitfahr-Weltmeister, Tobias Halland Johannessen und Co. – auch im Profi-Radsport sind Norweger erfolgreich.

Wert und Bewertung

Letztgenannter ist einer der talentiertesten Fahrer seiner Generation weltweit: Der 23-Jährige gewann im Vorjahr die „Tour de France der U23-Fahrer“, die renommierte Tour de l’Avenir. Seine Einstandsergebnisse bei den Profis in dieser Saison: Dritter des Étoile de Bessèges, Siebter der Katalonien-Rundfahrt, Zehnter der Dauphiné Libéré. Johannessen fährt, wie auch sein Zwillingsbruder Anders und 19 weitere Norweger, für das noch junge Team Uno-X. Der Teamsitz: Oslo, Norwegen. Einen Hintergrundartikel zu diesem noch Team finden Sie in einer der kommenden RennRad-Ausgaben.

Im gesellschaftlichen Teilbereich Sport gehen Norwegen und Deutschland unterschiedliche Wege: Der Weg der Skandinavier führt bergauf – jener der Deutschen bergab. Warum? Wie fast immer gibt es auch auf diese Frage eine einfache Grob-Antwort. In einem Wort zusammengefasst lautet diese: Stellenwert. Politik, Medien und Menschen schätzen Sport und Bewegung wert. Er ist für Viele ein völlig natürlicher Teil des Alltags. Schnitt.

Ein Kontrastschwenk nach Deutschland. Einwohnerzahl: 83 Millionen – 15-Mal so viel wie Norwegen. Die Entwicklung der deutschen Sommer-Olympia-Medaillen-Bilanz seit 1992: 82, 65, 56, 49, 41, 44, 42, 37. Diese Entwicklung bezieht sich nicht nur auf den Spitzensport, sondern beginnt schon viel früher: Anfang der 1990er-Jahre wurden an Deutschlands Haupt- und Realschulen noch bis zu vier Stunden Sport pro Woche unterrichtet – heute liegen die Durchschnittswerte zwischen 2,2 und 2,4 Stunden. In elf der 16 Bundesländer wurde der Sportunterricht an Grundschulen auf zwei Stunden gekürzt. Davon fällt rund jede vierte aus.

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Sport als Investment

Hierzulande gilt für viele: Sport beziehungsweise Leistungssport ist ein Investment. Er kostet Geld und vor allem Zeit. Wer als Eltern ein ambitioniert Sport treibendes Kind hat – von zweien oder mehr gar nicht erst zu reden – der hat vor allem eines nicht mehr: Zeit. Hinfahren, warten, abholen. Dies ist, zumindest wenn man auf dem Land lebt, der Rhythmus, der den Alltag, der einen großen Teil des Lebens bestimmt.

Ein weiterer Faktor: der zunehmende Druck und die Verschulung der Kindheit und Jugend. 47,9 Prozent der deutschen Schüler gehen auf Ganztages-Schulen, in Hamburg sind es 93,4 Prozent. Die Bologna-Reformen „verlängerten“ die Verschulungsstruktur bis zum „Bachelor-Abschluss“. Die in Bildungseinrichtungen verbrachte Zeit steigt massiv an – die Freiheitsgrade nehmen ab. Frühe Arbeitsmarktreife über alles – ganz im Sinne einer, Zitat Angela Merkel, „marktkonformen Demokratie“.

Sportarten und Spiele

Während der Pandemie und der Lockdownphasen verloren 44 Prozent der deutschen Sportvereine Mitglieder, 35 Prozent verloren ehrenamtliche Trainer und Helfer. Dies sind Ergebnisse der „8. Welle des Sportentwicklungsberichts“, der im Januar 2021 veröffentlicht wurde. Dafür wurden Vertreter von mehr als 20.000 der rund 90.000 Sportvereine in Deutschland befragt. „Je länger Sportvereine ihrem Zweck nicht nachkommen dürfen, desto schwächer wirken sie als stabilisierendes Element der Gesellschaft“, sagt der Studienleiter Professor Christoph Breuer. „Es geht sozialer Kitt verloren, der gerade in einer individualisierten Zuwanderungsgesellschaft von Bedeutung ist. Damit treffen die Folgen nicht nur die Vereinsmitglieder, sondern die gesamte Gesellschaft.“

In Norwegen sind Sport und Bewegung primär einmal: nichts Spezielles, nicht zielgerichtet, sondern einfach nur ein Teil des Alltags. Das Konzept dahinter lautet: „Freude am Sport für alle.“ Kinder und Jugendliche, die Talent für eine Sportart zeigen, werden nicht sofort in eine Leistungssport- und „Elite“-Richtung gedrängt. Stattdessen werden sie angehalten und ermutigt, sich auszuprobieren. Spielerisch. Sie können, und sollen, so viele Sportarten wie möglich betreiben. Zum einen.

Zum anderen sollen dabei die Kosten für die Eltern so niedrig wie möglich gehalten werden. Vereine dürfen für Kinder unter 13 Jahren keine Ranglisten führen oder gar Spielergebnisse aufzeichnen – und es gibt keine Einzelwertungen oder nationalen Meisterschaften für diese Altersgruppe. All dies ist in Norwegens „Kinderrechte im Sport“ geregelt, einem zwölfseitigen Dokument, in dem es heißt, dass „Kinder jedes Mal, wenn sie am Sport teilnehmen, eine positive Erfahrung machen sollten“.

Chancen und Ziele

Vielversprechende Jugendliche können sich, wenn sie wollen, auf eine bestimmte Sportart spezialisieren – und werden dabei unter anderem von erfahrenen Trainern unterstützt. Doch selbst Top-Talente bleiben oftmals sehr lange „Multisportler“. So konzentrierte sich etwa Karsten Warholm erst ab einem Alter von 20 Jahren auf den Hürdenlauf. Vorher nahm er jahrelang regelmäßig an Zehnkämpfen teil. Per Strand Hagenes, 19, eines der Top-Talente des Radsports, Junioren-Weltmeister 2021 und ab 2024 Profi im Weltklasseteam Jumbo-Visma, war lange vor allem Skilangläufer. Erst 2020 wechselte er von den Skiern aufs Rennrad. Weitere Hintergründe zu ihm und anderen Mega-Talenten finden Sie in einem der nächsten RennRad-Magazine.

Vereine bilden das Rückgrat des norwegischen Sports. Im ganzen Land gibt es mehr als 12.000 Vereine, die fast ausschließlich von Ehrenamtlichen geführt werden. Umfragen zeigen, dass 80 Prozent der Norweger in ihrer Kindheit einem Verein angehörten. Rund die Hälfte aller Jugendlichen sind aktive Vereinsmitglieder. Dem „Norwegischen Sportbund“ unterstehen 55 Sportverbände sowie das Norwegische Olympische Komitee. Finanziert wird das Ganze größtenteils durch die nationale „Lotterie Norsk Tipping“, die 64 Prozent ihrer Einnahmen, rund 400 Millionen Dollar jährlich, für den Sport bereitstellt. Käufer von Lotterielosen können zudem je einfach sieben Prozent ihres Wetteinsatzes an einen zuvor ausgewählten Verein spenden.

„Die norwegische Mentalität besagt, dass man Kindern die Chance geben sollte, Kinder zu sein“, sagt Tor Arne Hetland, der Skilanglauf-Olympiasieger von 2002 und aktuelle Skilanglauf-Nationaltrainer: „In vielen Ländern fahren die Eltern die Kinder zum Training. In Norwegen trainieren die Eltern oft zusammen mit den Kindern.“ Er probierte als Kind etliche, teils sehr unterschiedliche Sportarten aus, unter anderem: Skifahren, Sprinten, Diskuswerfen, Speerwurf, Fußball. Selbst auf der Elite-Ebene sei das Training in Norwegen weit weniger „streng“ als in vielen anderen Ländern, sagt Hetland. „Wenn man die Fähigkeiten und die Leidenschaft vermittelt, entwickeln sich die Athleten selbst. Die Sportler coachen sich teilweise selbst – wobei die Trainer eher als Mentoren und weniger als Diktatoren fungieren.“

Norwegen als Vorbild

Auch Norwegen erlebte einen sportlichen Niedergang – wie etwa auch Australien und Großbritannien, deren Wege zurück nach oben in dem Leitartikel der Ausgabe 10/2021 thematisiert werden: 1988, bei den Olympischen Winterspielen in Calgary holten die norwegischen Athleten nur fünf Medaillen – dreimal Silber und zweimal Bronze.

Dies war der Tief- und der Umkehrpunkt. Die Sportförderung und das Sportkonzept wurden umgestellt. Die Vereine wurden viel stärker gefördert – und das Elitesportzentrum „Olympiatoppen“ gegründet. Als Norwegen 1994 die Olympischen Spiele in Lillehammer ausrichtete, war das Land wieder unter den besten drei Nationen. Die Bilanz: 26 Medaillen – darunter zehn goldene. Seitdem hat die kleine Nation bei den Spielen 2002, 2014 und 2018 den Medaillenspiegel angeführt.

Was für eine Wende. Was für ein Weg. Was für eine Sport-Alltags-Verwobenheit. Was für ein Vorbild.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 11-12/2022Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.


Leitartikel von Chefredakteur David Binnig aus 2022

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