Verkehrswende
Nachhaltigkeit und Kosten: Fern- und Nahverkehr im Vergleich
in Service
3,50 Euro – dafür kommt man zwei oder 100 Kilometer weit. Je nachdem, in welchem Land man gerade ist. In München kostet eine U-Bahnfahrt, Normalstrecke, so viel. In Tschechien kann man für diese Summe mehr als zehn Mal so weit fahren. Von Prag nach Pilsen etwa. In Berlin und Düsseldorf zahlt man für eine Nahverkehrsfahrt in der Innenstadt drei Euro, in Hamburg 3,50, in Dresden 2,50. In Madrid zwei Euro, in Prag einen, in Rom 1,60. In Athen kommt man für 1,20 Euro vom Stadtzentrum bis ans 20 Kilometer entfernte Meer. Der Standardticketpreis in Tallinn: null. Seit 2013 ist das Nutzen von Bussen und Bahnen für die Bewohner der estnischen Hauptstadt gratis. Wohin man hierzulande blickt und hört, sieht und hört man dieselben Schlagworte: Verkehrswende, Energiewende, Klimawandel, CO2-Sparen, soziale Gerechtigkeit. Wie passen diese Reden und diese Preise zusammen? Gar nicht.
Eine Teil-Lösung, zumindest im Bereich des Verkehrs, läge auf der Hand. Eine Lösung, auf der das Wirtschaftssystem basiert: Wenn etwas Neues besser und günstiger ist als das Alte, wird es sich durchsetzen. Ganz ohne Verbote, extreme Subventionen aus Steuergeld und neue teure Bürokratie.
Ein quasi-planwirtschaftliches Gegenbeispiel zu diesem Angebot-Nachfrage-Prinzip heißt: „Energiewende“. Diese wird die Deutschen bis 2050, nach Berechnungen des ifo-Instituts, das alternativ zu dieser uneffizienten Feinsteuerung eine einfache unbürokratische CO2-Bepreisung empfiehlt, bis zu 3000 Milliarden Euro kosten.
„Die dümmste Energiepolitik der Welt“
Das renommierte ‚Wall Street Journal‘ überschrieb, schon vor dem Zutagetreten der fatalen Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen, einen Artikel zur Deutschen Energiepolitik mit: „the world’s dumbest energy policy“ – die dümmste Energiepolitik der Welt. Die Strompreise in Deutschland sind inzwischen die höchsten der Welt.
Zwischen 2000 und 2020 hat sich der Strompreis für private Haushalte mehr als verdoppelt – noch weit vor den Einflüssen des Kriegs in der Ukraine. Wie im Bereich „Energie“, so gilt auch für das Thema „Nachhaltigkeit des Verkehrs“: Es gibt einen riesigen Elefanten im Raum, über den zu wenig gesprochen wird. Das Thema Kosten.
Kosten für die Bahn im internationalen Vergleich
Eine 120 Kilometer weite und auf die Minute pünktliche Bahnfahrt von Verona nach Venedig kostete den Autor 2021 – Normalpreis ohne Rabatte – 4,80 Euro. Der Preis für die gleichlange Fahrt von Frankfurt nach Würzburg mit der Deutschen Bahn: ab 39,50 Euro. Der „Flexpreis“ für eine Fahrt von Hamburg nach München in der zweiten Klasse: 159,50 Euro.
Beispiel Schweden: Ein Zugticket von Malmö nach Göteborg kostet ab 21 Euro – für 300 Kilometer. Die Fahrradmitnahme ist gratis. Beispiel Finnland: Eine Fahrt von Kemi nach Helsinki, 800 Kilometer – der Preis, selbst wenn man das Ticket am Tag der Abfahrt kauft: 59 Euro. Der Preis eines Tickets für die Fahrt von Danzig nach Warschau, gültig ab sofort: 14 Euro.
Der Nahverkehr: Die Monatskarte für den Öffentlichen Nahverkehr von Hamburg kostete 2021, nach einer Auswertung des ADAC, 112,80 Euro. Deutscher Rekord. Der Durchschnittspreis in deutschen Großstädten: 80,60 Euro pro Monatskarte. Die Tageskartenpreise: Zwischen 5,35 Euro in Frankfurt und 8,80 Euro in Berlin, Köln und Bonn. Der Mittelwert aller Verkehrsverbünde: 7,30 Euro. Drei, vier, fünf Kilometer beziehungsweise drei, vier, fünf, sieben U-Bahnstationen zu fahren, kostet vier Personen in München 14 Euro – oft mehr als das Fahren mit dem eigenen Auto. Das. Darf. Nicht. Sein. Nach einer Analyse des Bündnisses „Allianz pro Schiene“ aus dem Jahr 2021 zahlten Bahn-Arbeitspendler im Jahr zuvor im Durchschnitt 16 Prozent mehr als noch 2015. Das Autofahren verteuerte sich im selben Zeitraum um „nur“ vier Prozent.
Kosten und Nutzen
In der Analyse wird eine „Sonderlast für klimafreundliche Pendler“ konstatiert. Darin werden klare Preissenkungen gefordert. Zurecht. In Wien existiert seit 2012 ein 365-Euro-Jahresticket-Angebot. Für 2021 wurde in Österreich das „Klimaticket“ eingeführt. Die Kosten: zwischen 699 – für das U25- beziehungsweise Ü65-Ticket mit Frühbucherrabatt – und 1095 Euro.
Hierzulande könnten mit der landesweiten Einführung eines 365-Euro-Tickets für die Verkehrsbetriebe rund 13 Milliarden Euro Einnahmen pro Jahr wegfallen, schätzt man beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. „Wenn wir die Klimaschutzziele im Verkehrssektor erreichen wollen, indem deutlich mehr Menschen in Busse und Bahnen umsteigen, dann gelingt das in erster Linie durch Ausbau und Verbesserung des Angebots“, sagt der VDV-Geschäftsführer Jan Schilling. „Insofern müssen wir den ÖPNV in Deutschland in den kommenden Jahren zunächst massiv ausbauen, modernisieren und zusätzliche Angebote schaffen. Dazu brauchen wir dringend auch die Ticketeinnahmen.“
Der VDV-Präsident Ingo Wortmann analysiert: „In den Spitzenzeiten sind die Busse und Bahnen in den Ballungsräumen und Großstädten zu voll, viel mehr geht nicht. Wenn wir dann rein über den Ticketpreis und ohne die nötigen zusätzlichen Kapazitäten die Menschen vom Umstieg überzeugen wollen, dann geht der Schuss nach hinten los. Die Klimaschutzziele im Verkehrssektor erreichen wir nicht über volle Fahrzeuge und Bahnsteige, damit schrecken wir höchstens potenzielle Neukunden ab.“
Fakt ist: In den städtischen Bereichen sind die Busse, Bahnen und Trams oft zu voll – auf dem Land fahren sie in sehr vielen Regionen zu selten, zu langsam oder gar nicht. Zu teuer sind sie überall – gerade in der Relation zu anderen Ländern, zu Klimaschutzappellen und zur höchsten Abgabenquote der Welt, die die Politik den Bürgern aufbürdet.
Statistisch gesehen arbeitete, laut Berechnungen des Bundes der Steuerzahler, ein durchschnittlicher Bürger 2021 bis zum 13. Juli nur für den Staat. Von jedem verdienten Euro bleiben einem durchschnittlichen Arbeitnehmer-Haushalt demnach nur 47 Cent. Somit sollte es nicht um „Ausbau oder Preissenkung“ gehen – sondern, selbstverständlich, um beides.
Verkehrswende und Abgaben
Natürlich ist man beim Ausbau der Infrastruktur an finanzielle Realitäten gebunden. So sind etwa in ländlichen Regionen Pendelzugverbindungen mit weniger als 2000 Fahrgästen pro Tag wohl kaum rentabel. Die Kosten pro Fahrgast liegen laut einer Studie der Universität Gießen ein Drittel über jenen von Bussen.
Die Bahn-Infrastruktur hierzulande ist – entgegen der großspurigen Rhetorik von Seiten der Politik – ohnehin a) marode und b) massiv geschrumpft. So beträgt das Durchschnittsalter der 25.710 deutschen Eisenbahnbrücken 73,5 Jahre. Von einem Moment auf den anderen stieg es um 16,4 Jahre an. Der Grund: Jahrelang wurden mehr als die Hälfte aller Brücken mit einem falschen, meist deutlich jüngeren Alter ausgewiesen. Der gesamte Investitionsrückstau im Gleisnetz wird von der DB AG mit knapp 50 Milliarden Euro angegeben – fast 50 Prozent mehr als noch 2016. In den vergangenen 25 Jahren schrumpfte das deutsche Schienennetz um rund 20 Prozent. Allein im ersten Halbjahr 2021 fuhr der Deutsche-Bahn-Konzern einen Verlust von 1,4 Milliarden Euro ein. Die Konzernschulden haben sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt – auf mehr als 30 Milliarden Euro – während der Umsatz schrumpfte.
Die Zahl der Bundesbürger, denen einer Studie der Bahntochter Loki zufolge, ein sehr guter öffentlicher Personennahverkehr zur Verfügung steht: 27 Millionen – Bewohner von Großstädten und Metropolregionen. Für rund 56 Millionen Menschen, die im Umland oder im ländlichen Raum wohnen, ist das Angebot demnach deutlich geringer und oft nicht ausreichend. Weniger als die Hälfte der 230.000 Haltestellen für Busse und Bahnen auf dem Land werden mindestens stündlich angefahren.
Pünktlichkeit der Bahn
Auch die Worte „Bahn“ und „Pünktlichkeit“ passen hierzulande nicht zusammen. 2019 fiel der ohnehin schwache, offiziell ausgewiesene Pünklichkeitsanteil deutscher Fernzüge noch einmal dramatisch ab: von 80 auf 69,8 Prozent. Wobei selbst diese Zahl noch geschönt ist, da die Bahn einen Zug erst ab einer mehr als sechsminütigen Verspätung als verspätet wertet. Zum Vergleich: 42 Sekunden – betrug die durchschnittliche „Verspätung“ der Züge zwischen Tokio und Osaka, taifun- und erdbebenbedingte Verzögerungen miteingerechnet. Der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen verkehrt hier im Zehnminutentakt. Die Fahrzeit für die 515 Kilometer: 2:53 Stunden.
In den Fünfzigerjahren wurden mehr als 50 Prozent aller Güter in Deutschland über die Schiene transportiert – heute sind es nur noch 19 Prozent. Der Marktanteil des LKW-Verkehrs stieg – auf 71,4 Prozent.
Laut dem Global Competitiveness Report 2018, der auch die Effizienz des Bahnverkehrs eines Landes bewertet, liegt dort auf Rang eins: die Schweiz. Auf Rang zwei: Japan. 93,1 Prozent der Schweizer Züge waren 2018 pünktlich. 1,25 der rund 8,7 Millionen Schweizer nutzen täglich die Bahn – in der Relation zu nur gut sechs der 83 Millionen Einwohner Deutschlands. In der Relation zum Einkommen ist das Bahnfahren in der Schweiz zudem vergleichsweise preiswert. Spontan gekaufte Tickets ohne Rabattkarte sind zwar ähnlich teuer wie in Deutschland, doch die 50-Prozent-Rabattkarte ist mit 185 Franken klar günstiger als die 234 Euro teure Bahncard 50. Zwischen den größeren Städten verkehren die Züge in einer Halbstunden- oder noch engeren Taktung. Die enorm ungleiche Kaufkraft ist dabei noch nicht einmal berücksichtigt. Das Medianvermögen in der Schweiz: 147.000 Euro. In Deutschland: 70.800 Euro. In Spanien: 119.000 Euro. In Frankreich: 117.000 Euro. In Irland: 185.000 Euro. In Italien: 132.000 Euro.
Deutschland: Das Land der kaputtgesparten Bimmelbahn
Hierzulande entfallen auf die „untere“ Hälfte der Bevölkerung nur 2,6 Prozent des Nettovermögens – im Durchschnitt rund 12.000 Euro. In der Relation dazu besitzen Angehörige der ärmere Hälfte der Italiener durchschnittlich 42.000 Euro – dreimal mehr. Die deutschen Investitionen 2016 in den Bahnverkehr pro Einwohner: 64 Euro. In der Schweiz: 378 Euro. Dort entfielen im Jahr 2016 16,5 Prozent des gesamten Personenverkehrs auf Schienen. In Deutschland: 7,9 Prozent.
Deutschland ist, wie die SZ einst schrieb: „Das Land der kaputtgesparten Bimmelbahn.“ Zu langsam, zu wenig, zu teuer.
Öffentliche Verkehrsmittel müssen günstig, einfach zu nutzen und individuell kombinierbar sein. Das Grundprinzip von Angebot und Nachfrage scheint man hierzulande teils zu negieren. Wird das Angebot „Öffentlicher Nah- und Fernverkehr“ besser, günstiger, schneller und attraktiver, so steigt auch die Nachfrage – auch und gerade im Güterverkehr. Aber das wäre vielleicht zu einfach.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 5/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Leitartikel von Chefredakteur David Binnig aus 2022
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