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Gesundheit, Krankheiten, Bewegung: Leitartikel über Zusammenhänge

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Gesundheit, Krankheiten, Bewegung: Leitartikel über Zusammenhänge

Weniger Bewegung, mehr Krankheiten, mehr Probleme, mehr Kosten. Einblicke und potenzielle Zusammenhänge.
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Es geht aufwärts. Wohlstand, Lebenserwartung, Sicherheit, Gesundheit – alles ist auf einem hohen Niveau und wird besser. Der nächsten Generation wird es einmal besser gehen. So war es. So wurde es, dummerweise, vielfach als Selbstverständlichkeit wahrgenommen.

Wirtschaftlich ist Deutschland aktuell, wieder, der „kranke Mann“ Europas. Es weist das mit Abstand geringste Wirtschaftswachstum aller Industrieländer auf. Unter den 20 Euro-Ländern ist Deutschland das Schlusslicht. Viel spricht dafür, dass dies keine vorübergehende Schwäche sein wird. Mehr Zahlen, Daten, Fakten dazu finden Sie in einem Leitartikel der kommenden Ausgaben. Mehr als 75 Prozent der 25- bis 49-jährigen Deutschen sind, laut einer Umfrage des Opaschowski Instituts für Zukunftsfragen, der Meinung, dass es ihren Kindern finanziell eher schlechter gehen wird als ihnen.

Gesundheitlich könnte dies wohl bereits jetzt der Fall sein. So verglich eine Forschergruppe der Medizinischen Hochschule Hannover die Gesundheitsdaten verschiedener Generationen – mit einem alarmierenden Ergebnis: Demnach werden gerade jüngere Menschen häufiger krank als ältere. Von den Verbesserungen der Lebensbedingungen, den Fortschritten in der Medizin und dem Wissen um eine gesunde Lebensweise hat der Studie zufolge vor allem die ältere Generation profitiert. So habe sich etwa der Gesundheitszustand der Menschen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren geboren wurden, gegenüber ihrer Elterngeneration deutlich verbessert. Krankheiten oder Behinderungen seien seltener oder im Lebensverlauf später aufgetreten – gesunde Lebenszeit wurde gewonnen.

Herz-Erkrankungen und Diabetes

Doch: Dieser Trend setzte sich in der Nachfolgegeneration nicht fort. So stieg etwa die Diabetes-Typ-2-Erkrankungsrate über alle Altersklassen hinweg klar an. Zudem trat die Erkrankung immer häufiger bereits im frühen Erwachsenenalter auf. Ob Herz-Erkrankungen oder Diabetes: Die ab 1961 Geborenen werden heute eher und häufiger krank als Menschen im selben Alter früher.

„Wir sehen, dass das Durchschnittsalter für das Auftreten von Diabetes Typ 2 in den letzten Jahren gesunken ist. Je länger man daran erkrankt ist, desto größer ist das Risiko, dass sich Folgeerkrankungen ergeben, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Krankheiten. Wir vermuten, dass es eine Ausbreitung ungesunder Lebensweisen gibt. Zum Beispiel ungesunde Ernährung. Aber auch das Arbeitsumfeld kann eine Rolle spielen. Menschen sitzen in ihrem Beruf länger als noch vor einigen Jahren. Das ist eine Kehrseite der Digitalisierung. Im papierlosen Büro hat der Mitarbeiter auf dem Bildschirm alles vor sich und muss sich weniger bewegen als früher. […] Das Problem ist, dass die höheren Altersgruppen – die Babyboomer – sehr viele sind. In den jüngeren Altersgruppen gibt es weniger Menschen. Wenn die aber früher und häufiger krank werden, entsteht eine nachteilige Situation. Sie fallen dann bei der Arbeit aus und sind weniger produktiv. Gleichzeitig steigen die Gesundheitskosten. Da muss man sich fragen, wie sich die Krankenversicherungsbeiträge in Zukunft entwickeln“, sagte der Studienleiter Siegfried Geyer in einem ‚Welt‘-Interview.

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Adipositas und degenerative Erkrankungen

Der Anteil adipöser Menschen in der Altersklasse 25 bis 55 Jahren hat sich demnach im Zeitraum von 2004 bis 2020 fast verdoppelt – von 12,7 auf 23,4 Prozent. Adipositas begünstigt etliche degenerative Erkrankungen wie etwa Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Herzinfarkte, Schlaganfälle und mehr. „Die Krankheitsfälle werden zukünftig zunehmen und die Gesundheitskosten steigen“, sagt Geyer. Statt körperlicher Belastungen und Schadstoffexpositionen seien heute vor allem überwiegend sitzende Tätigkeiten und eine zu hohe Kalorienzufuhr die größten Risiken für die Gesundheit.

Fakt ist: Deutschland hat ein ineffizientes Gesundheitssystem. Bei einem Ranking zur Lebenserwartung in 16 Ländern Westeuropas erreicht Deutschland bei den Männern den 15. Platz – bei den Frauen Rang 14. Der Hauptgrund für diese medial erstaunlich wenig thematisierte Bilanz: eine sehr hohe Zahl von Herz-Kreislauf-Erkrankten beziehungsweise -Opfern. Die Zahlen stammen aus einer Studie des Max-Planck-Instituts und des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung.

Lebenserwartung und Gesundheit

Dafür wurden die nationalen Sterbefälle, je nach den Todesursachen, mit den Daten anderer Länder verglichen. Die Ergebnisse: Im westeuropäischen Vergleich war die Lebenserwartung im Jahr 2019 bei den Frauen in Spanien am höchsten – sie lag bei 86,2 Jahren. Für Männer lag sie in der Schweiz mit 81,9 Jahren am höchsten. In Deutschland betrug die Lebenserwartung von im Jahr 2019 geborenen Mädchen dagegen 83,5 und bei Jungen 78,7 Jahre. Zwei Jahre später, während der Corona-Pandemie, betrugen diese beiden Werte hierzulande: 83,2 beziehungsweise 78,2 Jahre. Im Vergleich zu 2019 verringerte sich die Lebenserwartung demnach deutlich: Bei Jungen um 0,6, bei Mädchen um 0,4 Jahre – in Ostdeutschland gar um 1,3 beziehungsweise 0,9 Jahre.

Laut der Max-Planck-Instituts-Studie gibt es, im Vergleich zu anderen Ländern, bei Männern demnach bereits ab dem Alter von 50 Jahren statistisch negative Auffälligkeiten – bei den Frauen „erst“ ab 65. „Die wesentliche Ursache für den Rückstand ist eine erhöhte Zahl von Todesfällen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, sagt der Forscher Pavel Grigoriev. „Dass Deutschland bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich zurückliegt, ist Anlass zur Sorge, da diese heutzutage als weitgehend vermeidbar gelten.“ Seine Kollegen und er vermuten, dass es hierzulande große Defizite bei der Vorbeugung – und teils deutlich zu späte Diagnosen – gibt. „Große wirtschaftliche Stärke und ein für den Großteil der Bevölkerung gut zugängliches und leistungsfähiges Gesundheitssystem stehen in Kontrast zu einer westeuropäischen Schlusslichtposition bei der Lebenserwartung.“

Der Widerspruch zwischen den hohen Investitionen in die Gesundheitsversorgung und den Ergebnissen bei der Lebenserwartung sei ein klares Warnsignal für die Nachhaltigkeit des Gesundheitssystems. Auch die Zahl der Krankschreibungen in Deutschland steigt seit Jahren. Die Krankentage der Arbeitnehmer erreichten 2023 einen Rekordwert. Im Durchschnitt war jeder Arbeitnehmer fast 20 Tage lang krankgeschrieben, so eine jüngst veröffentlichte DAK-Kassen-Statistik.

Krankheiten und Intelligenz

Die Zahl der durchschnittlichen Krankheitstage bei den Berliner Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst beträgt inzwischen jährlich fast 40. Mindestens acht Millionen Menschen in Deutschland sind von psychischen Problemen betroffen. Während solche Erkrankungen vor 20 Jahren noch nahezu bedeutungslos waren, sind sie heute die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen und Arbeitsunfähigkeit. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl der psychisch bedingten Fehltage mehr als verdoppelt.

Die dadurch entstandenen Produktionsausfälle werden auf rund 12,2 Milliarden Euro geschätzt. 43 Prozent derjenigen, die wegen Erwerbsunfähigkeit vorzeitig in Rente gingen, taten dies wegen psychischer Erkrankungen.

Der Zusammenhang von Medienkonsum und Gesundheit

Auch in anderen Bereichen gibt es eine Rückentwicklung. So ist der durchschnittliche Intelligenzquotient in vielen Industrieländern seit Ende der 1990er-Jahre rückläufig. Wissenschaftler vermuten, dass hierfür eine veränderte Ernährung, mangelhafte Bildung oder auch der zunehmende Medienkonsum verantwortlich sein könnten.

Die Aufmerksamkeitsspanne von jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren ging – einer kanadischen Studie mit mehr als 2000 Probanden zufolge – zwischen dem Jahr 2000 und 2013 von zwölf auf acht Sekunden zurück. Auch die emotionale Intelligenz in westlichen Ländern nahm zwischen 2001 und 2019 deutlich ab. Zu diesem Ergebnis kam eine Metaanalyse von Khan et al., für die Persönlichkeitsstudien mit rund 17.000 Probanden ausgewertet wurden. Besonders negativ entwickelten sich die Werte der Parameter „Wohlbefinden“, „Selbstkontrolle“ und „Emotionalität“.

Zudem zeigten die Analysen, dass es in allen untersuchten Ländern einen Zusammenhang zwischen dem Zugang zu „Technologie“ und niedrigeren Wohlbefindens- und Selbstkontroll-Werten gab. Die Autoren der Metaanalyse diskutieren technologisch-soziale Entwicklungen als potenzielle Ursachen. So würden etwa digitale beziehungsweise „soziale“ Medien immer stärker „die persönliche Kommunikation ersetzen, was zu einer zunehmenden Einsamkeit führt […] und soziale Vergleiche und Neid unter Gleichaltrigen erleichtert […] Die persönliche soziale Interaktion bietet im Vergleich zur Online-Kommunikation eine größere Möglichkeit für emotionale Nähe und Bindung, deshalb ist es problematisch, wenn Menschen persönliche Interaktionen durch Online-Kommunikation ersetzen.“

Bewegungsmangel und Todesfälle

Nach Daten des Deutschen Krebsforschungszentrums sind mehr als sieben Prozent der Todesfälle in Deutschland auf Bewegungsmangel-Effekte zurückzuführen – Tendenz stark steigend – und somit vermeidbar. Von den Gesamtkosten für das Gesundheitssystem gar nicht erst zu reden. Nur scheinen diese Entwicklungen niemanden zu interessieren.

Abseits von medienwirksamen akuten Phasen scheint das Thema Gesundheit in der Politik kaum eine Rolle zu spielen. Anders ist die extreme Vernachlässigung der Faktoren Sport, Bewegung und Prävention kaum zu erklären.

Diesen Leitartikel lesen Sie in der RennRad 8/2024. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.

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