Schmerz & Mittel
Doping, Profisport, Statistiken: Zahlen und Hintergründe
in Sport & Gesellschaft
25 Jahre ist es her, dass Deutschland zu einer Radsportnation wurde. Kurzfristig. Ein junger Held war emporgestiegen – und hatte als erster Deutscher überhaupt das größte und für Nicht-Radsportfans wohl einzige bedeutende Radrennen der Welt gewonnen: die Tour de France. Jan Ullrich war damals 23 Jahre alt. Man, die Medien und die Gesellschaft, ging davon aus, dass er die Tour über Jahre hinweg dominieren würde. Es kam alles anders. Er stieg weit hinauf – und fiel umso tiefer. Die Medien waren erst extrem begeistert, euphorisch und vergleichsweise distanzlos und dann umso enttäuschter. Die ARD ging gar so weit, Trikotsponsor von Ullrichs damaligem Team Telekom zu werden.
1998 war Willy Voet, ein Betreuer des Teams Festina, noch mit einem Kofferraum voller Dopingmittel durch Frankreich gefahren. Um das Jahr 2005 verspritzte der niederländische Profi Thomas Dekker, der einst als „Wunderkind“ des Radsports galt, sein Blut über den Boden eines Hotelzimmerbades – bei dem verzweifelten Versuch, sich selbst einen Beutel voller Eigenblut per Infusion „einzutrichtern“.
2006 folgte der sogenannte Fuentes-Skandal. Durch die „Operación Puerto“ der spanischen Behörden wurde ein ganzes Doping-System aufgedeckt. Auf der berühmten Kundenliste des Dr. Eufemiano Fuentes standen, angeblich, rund 200 Namen. Darunter neben 60 Radsportlern auch Leichtathleten, Tennis- und Fußballspieler. Nur 50 Athleten wurden identifiziert – alles Radsportler.
Ist der Profi-Radsport „sauberer“ geworden?
Seither hat sich viel verändert. Der Profi-Radsport ist mit Sicherheit „sauberer“ geworden. Seit 2008 ist ein biologischer Pass im Profi-Radsport obligatorisch. Dabei werden die Ergebnisse aus Blut- und Urintests zu einem biologischen Profil des Sportlers zusammengetragen. Dies soll einen Hinweis darauf geben, ob manipuliert wurde – auch wenn das genaue Mittel nicht zu erfassen ist.
2011 wurde die „No Needle Policy“ eingeführt. Diese verbietet den Fahrern alle Arten von Injektionen, ergo alle „nicht medizinischen“ Spritzen. 2013 wurde diese Regel noch einmal verschärft.
In Sachen Anti-Doping-Kampf kann man aktuell eine extrem beeindruckende Erfolgsbilanz vorweisen: In den vergangenen 20 Monaten wurde kein einziger WorldTour-Profi positiv getestet. Dafür gibt es drei potenzielle Erklärungen: 1. Der Profi-Radsport ist zu 100 Prozent sauber. 2. Das Testsystem ist dysfunktional. 3. Eine Kombination aus beidem.
Tests und Abschreckung
Seit zwanzig Monaten ist eine neue Test-Agentur für den Radsport zuständig. Jahrelang nahmen Abgesandte der Stiftung „Cycling Anti-Doping Foundation“, CADF, die Kontrollen beziehungsweise Tests vor. Anfang 2021 verkündete der Radsport-Weltverband UCI dann deren Ausbootung. Die noch junge „International Testing Agency“, ITA, wurde eingesetzt. Seitdem wurde kein Profi aus der ersten Liga des Radsports mehr des Dopings überführt.
Der UCI-Präsident David Lappartient kommentiert diese Bilanz mit: „Wir wären naiv, wenn wir glaubten, es gäbe keinen Betrug mehr. Glaubwürdigkeit kann in fünf Minuten verloren gehen. Und dann dauert es zwanzig Jahre, sie wiederaufzubauen.“ Das Ziel des Kontrollsystems sei es nicht, möglichst viele positive Tests zu generieren. Sondern potenzielle Betrüger von Beginn an abzuschrecken.
Leistungen sind enorm angestiegen
Fakt ist: Die Leistungen der Top-Profis bei den großen Rennen sind in den vergangenen Jahren wieder enorm angestiegen. Bei den Top-Profis, gerade während der Grand Tours, sieht man: An den Pässen und langen Anstiegen sind die aktuellen Auffahrzeiten – der Wert wird „VAM“ genannt, „velocità ascensionale media“, und definiert die Zahl der Höhenmeter, die man in einer Stunde zurücklegen kann – vergleichbar mit jenen der Top-Fahrer Ende der 90er- und Anfang der 2000er-Jahre. Ergo: während der EPO-Doping-Hochphase.
Der frühere Team-Festina-Trainer und jetzige „Dopingjäger“ Antoine Vayer hat dazu Skalen errechnet, die zeigen sollen, welche Leistungen realistisch, oder wie er es nennt, „noch menschlich“ und welche „mutantisch“ sind. Leistungen am Berg zwischen 430 und 450 Watt kategorisiert er als „Wunder“. Mehr als 450 Watt können demnach nur „Mutanten“ treten.
Peter Leo, der damalige Trainer des Continental-Teams KTM-Tirol und Mitautor von mehr als 25 wissenschaftlichen Studien zu den Leistungen beziehungsweise Leistungsfaktoren und Entwicklungen im Radsport, bilanzierte gegenüber RennRad: „Diese Einschätzungen teile ich – Vayers Werte und Skalen sind definitiv realistisch. Es gibt demnach noch immer Leistungen, die man objektiv eigentlich nicht mehr erklären kann.“ Den ganzen 16-seitigen Hintergrundartikel zu Leistungswerten, Talententwicklung und Training finden Sie in der RennRad-Ausgabe 8/2022.
Die historische Rekordzeit von Tadej Pogačar
Tadej Pogačar setzte während der Tour de France 2020 eine historische Rekordzeit am Col de Peyresourde. Mit 24:35 Minuten war er an dem legendären Anstieg 45 Sekunden schneller als Iban Mayo und Alexander Vinokourov im Jahr 2003. Beide sind überführte Doper. Pogačar fuhr den Anstieg mit einer geschätzten Leistung von 429 Watt, was etwa 6,5 Watt pro Kilogramm entspricht.*
Wobei die Vergleichbarkeit schwierig ist. Die Faktoren lauten: Wind, Taktik, Ermüdung, Material. Thibaut Pinot, der französische Radprofi aus dem Team FDJ, sprach im Frühjahr dennoch von einem „Radsport der zwei Geschwindigkeiten“. Er bezog sich damit unter anderem auch auf den Ge- beziehungsweise Missbrauch von Schmerzmitteln im Peloton.
Cian Uijtdebroeks, 19, eines jener Top-Talente, die direkt von der Juniorenklasse in die WorldTour wechselten, meldete sich nach seinem dritten Rennen als Radprofi, der Saudi-Tour, zu Wort: „Jeder macht damit, was er will. Wenn ich im Finale von einem Fahrer geschlagen werde, der drei Gramm Paracetamol eingenommen hat, bin ich frustriert. Ich habe nicht vor, meine langfristige Gesundheit für die kurzfristige Leistungsfähigkeit aufs Spiel zu setzen.“
Die Kontroverse um Rafael Nadal
Im Juni dieses Jahres kam es zu einer Kontroverse um die Art und Weise eines großen Sieges – im Tennis: Rafael Nadal, 36, gewann zum 13. Mal die French Open. Es war sein 22. Grand-Slam-Titel. Der Spanier leidet seit Jahren am Müller-Weiss-Syndrom, einer degenerativen Knochenkrankheit, bei der sich Teile des Kahnbeins zurückbilden.
Nach dem Turnier sagte er: „Ich will nicht darüber sprechen, wie viele Spritzen ich bekommen habe, aber ja, vor jedem Spiel brauchte es einige, um den Nerv zu betäuben.“ Sein Leibarzt verabreichte ihm wohl Dutzende von Kortison-Injektionen. Eine Praxis, die im Radsport wegen der dort geltenden No Needle Policy so nicht möglich wäre. „Was Nadal gemacht hat, wäre im Radsport unmöglich“, sagte der Radprofi, studierte Philosoph und Tour-de-France-Achte von 2021, Guillaume Martin, in einem L’Équipe-Interview. „Bist du krank oder verletzt, dann fährst du nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob dies Nadals Gesundheit hilft. Wenn das ein Rad-Profi macht, wird er sofort gesperrt. Und selbst wenn nicht, brandmarken ihn alle als Doper. Einfach, weil unserer Sportart dieses Klischee anhaftet. Die Leute feiern nun Nadal, weil er die Schmerzen unterdrückt. Gleiches gilt für Zlatan Ibrahimović, der sein Knie fitspritzen ließ. Sie gelten als Helden, obwohl sie dafür Substanzen benötigen, die komplett am Limit sind. Und der Tour-Sieger wird systematisch des Dopings beschuldigt, ganz egal, was er macht.“
Schmerzmittel und die Dopingliste
Viele Schmerzmittel stehen nicht auf der Dopingliste. „Im Prinzip geht es dabei jedoch um eine Leistungssteigerung“, sagte der Sportmediziner Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule Köln. „Bei einer hohen Belastung erreichen Sportler eine Schmerzgrenze. Durch die Einnahme von Schmerzmitteln versuchen viele, diese Grenze zu verschieben, um länger Leistung zu bringen.“
Doch das Thema Schmerzmittel-Missbrauch ist nur ein Randbereich des großen Ganzen. Der Anti-Doping-Kampf ist ein Hasel-Igel-Spiel. Ein Wettlauf, in dem der Igel immer schneller ist. Dabei ist man aktuell noch am Anfang der Forschung zu einem potenziellen „Gamechanger“. Dieser lautet: CRISPR/CAS. Diese Technologie erlaubt das gezielte „Herausschneiden“ und Manipulieren von DNA-Strukturen.
Neben dem direkten Eingriff in Genstrukturen existiert eine „einfachere“ Variante des Gen-Dopings: Der Einsatz von Mitteln, die auf die Gen-Expression wirken.
Wie wird das System ausmanövriert?
Doch: Das bestehende System kann bereits mit deutlich weniger Aufwand umgangen beziehungsweise ausmanövriert werden. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Mikrodosierungen, leichte Modifizierungen, die bei einer Analyse nicht mehr auffallen, neusynthetisierte Testosteron-Varianten, Wachstumshormone wie IFG-1, Epitestosteron, Peptidhormone.
Jahr für Jahr führt weit weniger als ein Prozent aller Trainingskontrollen der NADA zu positiven Tests. „Die Wirkung schon bekannter Dopingmittel kann durch die Zugabe anderer Medikamente verstärkt werden – dadurch werden Sportler kurzfristig leistungsfähiger und sie können mit diesen Mitteln unter der detektierbaren Schwelle dopen. All dieses Wissen hat sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit kumuliert“, sagt Professor Perikles Simon von der Universität Mainz in einem Spiegel-Interview.
Er galt jahrelang als einer der Top-Anti-Doping-Forscher. Zuletzt arbeitete er an Nachweisen für Gen-Doping-Substanzen. Bis er sich aus diesem Bereich – aus dem Anti-Doping-Kampf – komplett zurückzog. „Dabei ist mir letztlich klar geworden, dass es zurzeit sinnlos ist, über diesen Extrembereich des Hightech-Dopings nachzudenken. Die Vielfältigkeit, selbst mit alten Ladenhütern zu dopen und damit das Testsystem zu umgehen, ist auch ohne die neuen Methoden exorbitant. Ich könnte immer weiter forschen. Aber an der Grundaussage, dass rund die Hälfte aller Spitzenathleten gegen die Regeln verstoßen, würde sich hierdurch nichts ändern. Auch die Substanzen, mit denen die Athleten dopen, sind aus anderen Quellen hinlänglich bekannt. Es gibt also keinen Forschungsbedarf mehr für mich. Ich habe in all den Jahren nichts erreicht. Nichts, außer vielleicht Kontraproduktives, weil ich das System in Teilen mitgestützt habe.“
Dieser Leitartikel erschien in der RennRad 9/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
* 2022 fielen etwa die Leistungen während der 17. Etappe am Col d‘Azet auf: Drei Fahrer fuhren dort in ihrer eigenen Liga – Tadej Pogacar, Jonas Vingegaard und Brandon McNulty. McNulty fuhr den kompletten Anstieg von vorne – und leistete dort geschätzte 6,58 Watt pro Kilogramm für 22:24 Minuten. Am Ende waren die Top-Drei des Tages an diesem Pass 2:30 Minuten schneller als Marco Pantani, Jan Ullrich und Richard Virenque 1997.
Leitartikel von Chefredakteur David Binnig aus 2022
- 9/2022: Wie sauber ist der Profisport?
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