Motivation & Leistung
Publikumseffekt: Einfluss von Publikum auf die Leistungsfähigkeit
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„Loulou“ leidet – und eine ganze Nation mit ihm. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, sein Mund weit aufgerissen, sein Oberkörper wiegt über dem Lenker hin und her. Jede Pedalumdrehung schmerzt ihn – und die vielen Millionen Menschen vor ihren Fernsehgeräten sehen es. Julian Alaphilippe fährt längst am Limit – und darüber. Doch er wird nicht langsamer, sondern hält sich in der Gruppe der besten Bergfahrer der Welt: Pinot, Buchmann, Bernal, Kruijswijk, Landa. Sie alle kämpfen um den Etappensieg, jetzt im Finale, an diesem finalen Anstieg, an diesem heißen Julitag 2019, an diesem legendären Anstieg: dem Col du Tourmalet in den Pyrenäen – 19 Kilometer bergauf, 7,4 Prozent Durchschnittssteigung. Kein anderer Pass wurde in der Tour-de-France-Geschichte häufiger befahren: 83 Mal.
Julian Alaphilippe ist bis dahin nicht als Spezialist für Hochgebirgsetappen und lange Pässe bekannt. Doch an diesem Tag „wächst er über sich hinaus“. Es ist sein neunter Tag im Gelben Trikot. Am Vortag gewann er, der eigentliche Klassikerspezialist, überraschend das Einzelzeitfahren. Viele seiner Landsleute trauen ihm nun den Tour-Sieg zu. „So ein Gelbes Trikot verleiht Flügel“, sagt der Bora-Hansgrohe-Teamchef Ralph Denk in einem DPA-Interview. Julian Alaphilippe ist sich sicher: „Dieses Trikot macht mich noch stärker.“ Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da. Wer das Gelbe Trikot bei der Tour de France trägt, fährt stark. Was nach Phrasen und Humbug klingt, ist ein wissenschaftlicher Fakt. Dass dieses gelbe Stück Stoff seinem Träger „Flügel verleihen“ kann, hat eine mess- und verifizierbare Ursache: den sogenannten Publikumseffekt.
Publikumseffekt: Fokus und Leistungsgrenzen
Das Gelbe Trikot sorgt dafür, dass sein Träger im Fokus der Öffentlichkeit steht – was für diesen sowohl ein Ansporn als auch eine Last sein kann. Wer beim größten Radrennen der Welt das Führungstrikot trägt, der bildet für eine Weile den Mittelpunkt des Radsport-Kosmos. Mindestens. Ist der Träger zudem Franzose, wird er zum Hoffnungsträger einer ganzen Nation.
Medien, Fans, Betreuer – alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Mit einer solchen Aufmerksamkeit gehen verschiedene Menschen ganz unterschiedlich um. Was einen Athleten zu Höchstleistungen animiert, kann bei einem anderen zu einem Leistungseinbruch führen.
Dieser Effekt wird in der Sportpsychologie als Publikumseffekt bezeichnet. Er definiert „die Einwirkung des Publikums beziehungsweise den Einfluss der Anwesenheit anderer Personen auf die Leistungsfähigkeit des Sportlers“.
Publikumseffekt im Training und Wettkampf
Das Gelbe Trikot der Tour de France verbessert die körperlichen Fähigkeiten seines Trägers nicht, sondern es motiviert ihn – so scheint es – einen noch größeren Teil seiner Leistungsreserven zu nutzen, als er es sonst tut. Oder anders ausgedrückt: Der Trikot-Träger strengt sich noch ein bisschen mehr an als sonst. Er geht, wie das Beispiel Julian Alaphilippe zeigt, noch tiefer oder länger in den „roten Bereich“.
Der Grund für diesen Effekt liegt wohl in einem sogenannte Soziometer: Dabei handelt es sich um einen Mechanismus, der mehrere Gehirnregionen einschließt, unter anderem die anteriore Insula und die untere Stirnwindung. Durch diesen Mechanismus bemerken und interpretieren Menschen die erhöhte Aufmerksamkeit derer um sich herum und nutzen ihn. Sie passen ihr Verhalten dahingehend an, dass sie möglichst noch mehr positive Aufmerksamkeit erhalten. Somit sorgt der Publikumseffekt dafür, dass Menschen noch mehr von sich selbst erwarten. Das gilt insbesondere auch im Training und Wettkampf.
Erwartungshaltung
2003 veröffentlichten Forscher der Arizona State University, USA, ihre Studien-Ergebnisse zum Einfluss des Publikums auf die Leistungsfähigkeit von Athleten. Für ihre Untersuchung baten sie Studenten in drei verschiedenen Situationen, je ein so hohes Gewicht zu stemmen, wie sie konnten: in einem nicht-kompetitiven Gruppenumfeld, im Wettkampf mit anderen Studenten und einzeln vor einem passiven Publikum.
Das Ergebnis: Die Probanden stemmten signifikant höhere Gewichte, wenn sie allein vor dem passiven Publikum agierten, als wenn sie im direkten Wettkampf gegeneinander antraten. Die Leistungen lagen dabei erstaunlich weit auseinander: Vor Publikum stemmten die Probanden ein um 13,2 Prozent höheres Gewicht als ohne Zuschauer. Die geringste Leistung erbrachten die Probanden in dem nicht-kompetitiven Gruppenumfeld.
VO2max unter verschiedenen Bedingungen
Für eine 2002 erschienene Studie ließen Wissenschaftler der University of Pennsylvania die Probanden einen Leistungs- und Atemgas-Test zur Bestimmung ihrer maximalen Sauerstoffaufnahme-Fähigkeit, VO2max, unter vier verschiedenen Bedingungen absolvieren: verbales Anfeuern alle drei Minuten, jede Minute, alle 20 Sekunden und stilles Beobachten.
Die Ergebnisse: Zwischen dem stillen Beobachten und dem Anfeuern alle drei Minuten unterschieden sich die Leistungen der Probanden nicht signifikant. Wenn sie einmal pro Minute angefeuert wurden, zeigten die Athleten jedoch klar höhere Leistungen. Die Bestwerte lieferten sie, wenn sie alle 20 Sekunden angefeuert wurden.
Die Probanden wiesen zudem am Ende des Tests, in dem sie am häufigsten angefeuert wurden, im Durchschnitt signifikant höhere Laktatwerte auf. Dies, so konstatierten die Wissenschaftler, lässt darauf schließen, dass die Sportler eine höhere Leistung von sich selbst erwarteten – und sich dadurch auch mehr anstrengten. Unter dem Anfeuern alle 20 Sekunden kamen sie näher an ihre wirkliche körperliche Leistungsgrenze heran.
Anstrengungswahrnehmung
Die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahr 2014, die in dem Journal Frontiers in Human Neuroscience veröffentlicht wurde, legen die Vermutung nahe, dass das Anfeuern und Ermutigen die Ausdauerleistung nicht nur dadurch verbessert, dass es die Sportler motiviert, noch mehr aus sich herauszuholen. Sondern auch dadurch, dass es dazu führt, ein höheres Maß an „wahrgenommener Anstrengung“ zu tolerieren.
Für die Studie, die Marcora et al. durchführten, fuhren 13 Probanden bei zwei Gelegenheiten bis zur Erschöpfung auf Fahrradergometern. Während beider Tests blickten die Teilnehmer dabei auf Bildschirme vor ihnen, auf denen regelmäßig Fotos von menschlichen Gesichtern angezeigt wurden. Die Bilder verschwanden jedoch so schnell wieder, dass die Probanden sie nur unterbewusst wahrnehmen konnten. Bei einem der beiden Tests wurden den Probanden glückliche Gesichter gezeigt, beim anderen traurige.
Das Ergebnis: Während des Tests mit den glücklichen Gesichtern hielten die Probanden um durchschnittlich zwölf Prozent länger durch. Die höhere Motivation schien jedoch nicht der Grund für die bessere Leistung zu sein. Vielmehr hatte die Konfrontation mit den glücklichen Gesichtern die Stimmung der Teilnehmer verändert – und damit ihre Anstrengungswahrnehmung reduziert. Der Publikumseffekt, so die Schlussfolgerung der Autoren, kann nicht nur die Entschlossenheit eines Athleten erhöhen, sondern ihm auch das Gefühl geben, noch größere Leistungsreserven zu haben.
Publikumseffekt: Konsequenzen und Tipps
Nicht nur der Träger des Gelben Trikots kann sich den Publikumseffekt zunutze machen. Auch als Hobbysportler kann man von ihm profitieren. Zum Beispiel indem man wichtige Wettkämpfe – sofern es die Corona-Situation erlaubt – auf Veranstaltungen mit einer erwartbar hohen Zahl an Zuschauern legt. Im Rahmen der Jedermann-Rennserie „German Cycling Cup“ sind dies zum Beispiel traditionell die Wettbewerbe des Münsterlandgiros oder jene bei Rund um Köln. Im Langdistanz-Triathlon trifft dies etwa auf die Challenge Roth oder den Ironman Frankfurt zu.
Ebenso lässt sich der Publikumseffekt nutzen, indem man Wettkämpfe so auswählt, dass sich die eigene Familie und Freunde am Streckenrand postieren können. Der Blick in vertraute, glückliche Gesichter kann ebenso „Flügel verleihen“ wie das Gelbe Trikot. Zudem beeinflusst nicht nur die bloße Menge an Zuschauern die Leistung, sondern auch die spezifische Zusammensetzung der Zuschauergruppe.
Gelbes Trikot als Symbol
Bereits 1988 fand Stephan Boutcher von der University of New South Wales in Australien heraus, dass männliche Probanden während eines intensiven Trainings auf einem Fahrradergometer ihre wahrgenommene Anstrengung geringer einstuften, wenn sie zuvor und dabei von einer Wissenschaftlerin betreut wurden. Hohe Erwartungen an sich selbst zählen zu den mächtigsten Bewältigungsstrategien für Ausdauersportler.
Das Gelbe Trikot dient als Symbol dieses Mechanismus. Wer es trägt, glaubt an sich und ist dazu bereit, seine Leistungsgrenzen zu verschieben. Die Ehre, das Gelbe Trikot zu tragen, wird nur wenigen Menschen zuteil. Aber auch Hobbyathleten können vom Publikumseffekt profitieren. Wie das Sprichwort sagt: „Wenn du glaubst, du kannst es, hast du Recht. Und wenn du glaubst, du kannst es nicht, hast du auch Recht.“ Manchmal braucht das Potenzial nur die passende Erwartung, um etwas Besonderes hervorzubringen.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 7/2021. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.