Nahrungsergänzung: Gängig aber gefährlich?
Ernährung im Radsport: Nahrungsergänzungsmittel und Nährstoffe
in Ernährung
Der Tour-Sieger liebte zwei Dinge: Wein und Zigaretten. Trotzdem hatte er am Ende drei Stunden Vorsprung auf den Zweiten. Der letzte der 21 Fahrer, die das Ziel in Paris erreichten, hatte 64 Stunden Rückstand. Auf den Sieger der ersten Tour de France: Maurice Garin.
Die Etappen des Jahres 1903 waren durchschnittlich mehr als 400 Kilometer lang. Die Fahrer aßen davor und danach auf dem Rad: Kartoffeln, Brot, Gebäck, Obst, Gemüse, Nudeln, Fleisch, Fisch. Was ein normaler Mensch so isst. Nur mehr.
Heute, 110 Jahre später, ist die Zeit der Kartoffel vorbei. Wir leben im Zeitalter der Tablette. Nicht nur Radprofis greifen zu Energie in Riegel- oder Gel-Form. Fast jeder Hobbysportler hat heute einen Vorrat an Mittelchen zu Hause. Auf den Nachttischschränkchen der Republik stehen und liegen Tabletten, Dosen, Tuben, Tigel.
Nahrungsergänzungsmittel: Boomender Markt mit Geschichte und Mythos
Vitamine, Mineralien, Spurenelemente, Kohlenhydrate, Aminosäuren, Aloe-Vera-, Algen- und südamerikanischer Wunderstrauchextrakt. Deutschland schluckt. Alles. Jeder dritte Deutsche glaubt, nicht genug „Wertvolles“ aus der Nahrung zu bekommen. Deshalb wird sie „ergänzt“. Mit Nahrungsergänzungsmitteln (NEM). Allein in Deutschland werden damit pro Jahr mehr als 1,3 Milliarden Euro umgesetzt. Europaweit rund sechs Milliarden.
Nahrungsergänzungsmittel sind keine Medikamente, offiziell dürfen sie nicht mit gesundheitsbezogenen Aussagen beworben werden. Rechtlich gesehen sind sie Lebensmittel. Deshalb unterliegen sie auch keinen strengen Prüfverfahren.
Seine Nahrung mit „Wertvollem“ zu ergänzen, hat Tradition. Die begann spätestens im Zweiten Weltkrieg. In den Zeiten der V1- und V2-Raketen – und der V-Drops: Vitaminpillen, die Soldaten an der Front erhielten. Seitdem breitet sich der Glaube an die Pillen aus. Manche der Glaubensgrundsätze gehen in Form von Mantras ins kollektive Gedächtnis ein: „Wer viel schwitzt, braucht viel Magnesium“ zum Beispiel. Das Problem mit dieser Weisheit: Sie wurde nie bewiesen.
Tipps für den Alltag: Wie ernähre ich mich als Sportler am besten?
Gefährliche Wahrheiten: Zu viel Nahrungsergänzung gesundheitsschädlich
Fakt ist, dass unsere heutigen Nahrungsmittel nicht weniger Nährstoffe enthalten als die früherer Generationen. Das ist aus vielen Studien bekannt. Ebenso bekannt sollten die Ergebnisse einiger finnischer und US-amerikanischer Studien sein, die alle zum selben Ergebnis kamen: Wer zu viele Nahrungsergänzungsmittel einnimmt, gefährdet seine Gesundheit.
Multivitamine, Folsäure, Magnesium, Zink, Kupfer, Eisen. In hohen Dosierungen können diese Stoffe – etwa einer Studie der Universitäten Kuopio und Minneapolis nach – das Leben eher verkürzen als verlängern. Schon 1994 fanden finnische Forscher in einer Studie an Rauchern in der Gruppe, die Betacarotin schluckte, eine um 18 Prozent erhöhte Lungenkrebshäufigkeit.
In einer 2008 erschienen Metaanalyse der Cochrane-Collaboration, in der 67 Studien mit 233.000 Teilnehmern ausgewertet wurden, kam es zu ähnlichen Ergebnissen: Die Einnahme von Vitamin-A-, E- und Betacarotin-Präparaten erhöhte die Sterblichkeit signifikant.
Andere Wirkung als natürliche Nährstoffe
Die Erklärung, warum einzeln zugeführte Nährstoffe anders wirken als in Lebensmitteln, ist komplex. Man schätzt, dass in der natürlichen Nahrung etwa 10.000 verschiedene Nährstoffe enthalten sind. Viele davon sind noch unbekannt. Auch wie sie zusammenwirken, ist noch immer nicht gänzlich erforscht.
Viele Effekte einzelner Nährstoffe werden erst in natürlichen Kombinationen, zum Beispiel mit sekundären Pflanzenstoffen wie sie in Obst und Gemüse vorkommen, wirksam. Daher wirken sie künstlich und isoliert anders, meist weniger effizient.
Riegel, Gels, Pulver: Nahrungsergänzungsmittel im Test
Bedürfnisse eines Sportlers: Profis machen es mit eigener Ernährung vor
Sportler brauchen mehr – mehr Nudeln, mehr Mineralien, mehr Vitamine. Das glauben viele. Tatsache ist, dass man beim Sport mit dem Schweiß Natrium und Kalium ausscheidet. Dennoch ist es in der Regel kein Problem, diesen Verlust mit „normalen“ Getränken auszugleichen. Die gute alte Apfelsaftschorle ist zum Beispiel recht kaliumreich. Den Natrium-Verlust kann die altbewährte Prise Salz in der Trinkflasche ersetzen.
Dennoch ist die Verbreitung diverser Ergänzungsmittel gerade unter Sportlern enorm. Das zeigt beispielhaft eine Studie der Deutschen Sporthochschule Köln. Die Forscher befragten die Mitglieder des deutschen Olympiakaders 2008. Dabei gaben 88 Prozent der Athleten an, im Monat vor der Befragung mindestens ein NEM eingenommen zu haben. Manche bis zu 19 Produkte.
Ernährung im Radsport: Kohlenhydrate und Proteine
Gels und Riegel gehören heute zur Standardernährung im Radsport. Das dominierende Ernährungsthema im Ausdauersport heißt traditionell: Kohlenhydrate. Seit einigen Jahren rücken jedoch auch Proteine immer mehr in den Fokus: Studien zeigen, dass Recoverydrinks mit einem relativ hohen Proteinanteil die Regeneration verbessern können.
Eiweiß-Shakes sollen im Winter beim Muskelaufbau helfen. Dass jedoch selbst bei diesem Ziel keine besonders hohe Proteinzufuhr nötig ist, zeigte eine Studie der kanadischen McMaster Universität. Die teilnehmenden Sportler verzehrten zwölf Wochen lang zwischen 1,2 und 1,6 Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht. Diese – aus Sicht vieler Trainer und Athleten – geringe Zufuhr reichte aus, um Muskelmasse und Kraft signifikant zu steigern. Deutlich höhere Proteinmengen bewirkten keine zusätzlichen Zuwächse.
Die Ernährung am Wettkampftag: So sollte sie aussehen
Puffersubstanzen, Koffein, Kreatin und Co.
Zu den anderen Mitteln, die aktuell besonders im Trend sind, gehören etwa die sogenannten Puffersubstanzen. Vereinfacht gesagt sollen sie die schädliche Wirkung bestimmter bei hohen Intensitäten anfallender Stoffe im Körper neutralisieren. Oder besser gesagt: abpuffern.
Denn bei sehr starken anaeroben Belastungen tragen bestimmte Stoffwechselzwischenprodukte wie Säuren und Ammoniak in Muskeln und Blut zur Ermüdung bei. Puffersubstanzenwie etwa Natrium-Bikarbonat sollen dazu beitragen, diese Ermüdung hinauszuzögern. Einige Studienergebnisse zeigen auch vielversprechende Effekte.
Es gibt demnach durchaus einige Mittel, die positive Wirkungen auf die sportliche Leistung haben können. Koffein und Kreatin etwa. Seit einigen Monaten ist auch ein anderes Mittel in einigen Studien und im Einsatz vieler Radprofis positiv aufgefallen: Rote-Beete-Saft.
Wissenszeitalter: Wie funktioniert eigentlich ausgewogene Ernährung?
Rot, gelb, grün – Ernährung sollte bunt und vielfältig sein. Frisch und selbstgemacht. Wenn es über natürliche Nahrungsmittel hinausgeht, sollte das Wissen entscheiden, nicht der Glaube.
Denn bis heute, im Jahr 2013, mitten im Technologiezeitalter des jederzeit und überall per Smartphone vorhandenen Wikipedia-Wissens herrscht im Reich der Sporternährung oft noch finsteres Mittelalter.
Es wird Zeit für eine Aufklärung. Es wird Zeit, dass das Wissen den Glauben ersetzt.
Damit nicht wahr wird, was Starkoch Paul Bocuse schon vor Jahren analysierte: „Viele Menschen haben das Essen verlernt. Sie können nur noch schlucken.“