Mythos mal drei
L’Alpe d’Huez: Der legendäre Pass im Selbstversuch
in Reise
Kopf nach unten, treten. Mein Blick geht auf meinen Computer am Vorbau. 169, die Herzfrequenz passt. Noch. Nur nicht überziehen. So früh schon so steil? Das Treten wird zum Stampfen. Ein Stampfen im Kampf gegen die Legende. Eine Legende mit 21 Serpentinen und einem großen Namen. Eine Legende wegen der großen Namen. In jeder Kurve lese ich einen: Coppi, Hinault, Pantani. Wer hier eine Tour-de-France-Etappe gewinnt, bekommt sein Schild in einer Kehre. Für mich ist es Motivation: Keinen Anstieg wollte ich je so sehr bezwingen. Ein Berg wie eine Skala. Die persönliche Bestzeit hier: Die Visitenkarte eines Bergfahrers. Mein Ziel: L’Alpe d’Huez.
L’Alpe d’Huez: Ein Sehnsuchtsort
Dieser Ort ist so Vieles. Klein, hässlich, ein Retorten-Ski-Dorf mit Bettenburgen für den alpinen Massentourismus, der viel graues Beton in die Natur der Alpenwelt bringt. Einerseits. Doch er ist mehr. Er ist er einer der Sehnsuchtsorte, eine der Pilgerstätten des Radsports. Die Premiere auf den 21 Kehren ist eine Taufe, eine Initiation in den Bund der Bergfahrer, der Pässesammler. Auf jeder Liste mit Anstiegen, die Rennradfahrer in ihrem Leben fahren wollen, steht die Alpe weit oben. Es ist mein erstes Mal, mein erstes Mal Alpe d’Huez. Ich bin frisch, ich habe Druck. Bringe Druck auf das Pedal, höre in mich hinein.
Ich bin bereit für: 14 Kilometer, 1130 Höhenmeter, 21 Kehren. Wie viel Druck darf ich geben, um nicht zu überziehen? Und: Wie viel Druck muss ich geben, um eine passable Zeit zu fahren? Ist es denn nicht ein Anstieg wie jeder andere – mit Asphalt, Steigungsprozenten und Serpentinen? Ich erlebe eine einsame, eine ruhige, eine andächtige Premiere am Party-Ort des wichtigsten härtesten Etappen-Rennens. Keine Fans, kein großes Peloton. Keine Attacken, kein Fahren im roten Bereich. Meine Alpe-d’Huez-Premiere ist ein Bergzeitfahren im Rahmen des Hobby-Etappenrennens Haute Route. So wie die Tour de France in der Öffentlichkeit für den Radsport steht, so steht Alpe d’Huez für die Tour. Zum 30. Mal führt die Strecke der „Grand Boucle“ im Jahr 2018 über den Anstieg in den französischen Nordalpen.
Neben Mont Ventoux, Col du Galibier und Col du Tourmalet gilt Alpe d’Huez als einer der vier heiligen Berge der Tour. Der Klassiker ist die berühmte Südanfahrt von Bourg d’Oisans mit ihren 21 Kurven. Fährt das Tour-Peloton hier hinauf, dann passieren sie ein Volksfest, das sich über 14 Kilometer und 1130 Höhenmeter verteilt und mit jeder der 21 Kehren eine neue Eskalationsstufe erreicht: Nackte Haut, Pyrotechnik, Alkohol. Gesänge und Gedränge. Fans aus aller Welt stehen am Rand, laufen mit den Fahrern mit, öffnen ein schmales Spalier und schieben die Fahrer hindurch. Fans mit Campingstühlen, Zelten und Wohnmobilen, angereist nicht zuletzt aus den Niederlanden. Seit den Erfolgen von Joop Zoetemelk und Hennie Kuiper in den Siebzigerjahren nennt man den Anstieg auch den Berg der Holländer. Am Etappentag der Tour de France dominiert um die Kurve sieben: „Oranje“.
L’Alpe d’Huez: Etappen und Extreme
Es ist der erste von drei Tagen, es ist die erste von drei Etappen. Es ist ein Etappenrennen für Hobby-Radsportler, es ist mein erstes Etappenrennen. Es ist eine völlig neue Erfahrung, ein Rennen gegen Menschen aus aller Welt, gegen die Zeit, gegen den legedären Anstieg, gegen andere Pässe, gegen die Kälte – und gegen mich selbst. Die erste Herausforderung: Ein Bergzeitfahren von Bourg d’Oisans hinauf nach Alpe d’Huez. Danach: zwei Straßenrennen – mit 4600 beziehungsweise 3300 Höhenmetern.
Es geht über: Col du Glandon, Col de la Croix de Fer, Col de Sarenne und Les Deux Alps. Und am Ende immer wieder hier hinauf, hinauf nach Alpe d’Huez. Dreimal hoch, von allen Seiten. Etappen und Extreme, dafür bin ich hier. Die Haute Route Alpe d’Huez ermöglicht Hobby-Radsportlern die ultimative Herausforderung, das volle Profi-Programm. Rennen fahren wie ein Radprofi: Strecken-Briefing vor den Etappen, ein Peloton, Taktik, Verpflegung, Massagen.
Ein Mittwochabend im Juli, die ersten rollen von der Startrampe in Bourg d’Oisans. Ich komme gerade noch rechtzeitig zu meinem Start. Ankunft am Flughafen in Genf, Transfer nach Frankreich, Rad aus dem Koffer holen, umziehen. Ein Blick in die Runde, nur wenige der 120 Starter stehen mit mir im Ortszentrum. Die anderen sind entweder schon auf der Strecke oder erst lange nach mir an der Reihe. Überschwänglich kündigt die Dame am Mikrofon mich als Starter für Deutschland an. Zuschauer gibt es kaum, aber drei ältere Herren sitzen in einem Café neben der Startbühne und nicken mir aufmunternd zu.
Ziemlich genau 20 Jahre zuvor sorgte hier ein anderer Deutscher für mehr Aufsehen: Jan Ullrich, der in diesem Jahr die Tour de France gewann. Er benötigte für den Anstieg 38 Minuten und 37 Sekunden. Am gleichen Tag stellte Marco Pantani den bisher ungebrochenen Rekord auf: mehr als eine Minute nahm er Ullrich ab. Er bewältigte den Anstieg in 37:35 Minuten und gewann die Etappe. „Als säße er auf einen Motorroller“, hieß es über Pantanis Leistung. Der „Pirat“ war zwar erwiesenermaßen auf einem Rennrad unterwegs – aber er war erwiesenermaßen auch mit unerlaubten Substanzen unterwegs. Mit 52 Kilogramm Körpergewicht hatte er als einer der stärksten Bergfahrer aller Zeiten zudem nicht viel Ballast über die Strecke mit einer Durchschnittssteigung von mehr als acht Prozent zu tragen.
Tour-Geschichte
Auf den ersten, neutralisierten Kilometern rolle ich einsam über abgesperrte Straßen durch die Stadt, dem Anstieg entgegen. Die große Frage in meinem Kopf lautet: Wie soll ich mir die Kraft einteilen? Es ist zwar eine relativ kurze Belastung, für mich wird sie weniger als eine Stunde dauern. Aber das Zeitfahren ist erst der Anfang – und dies ist der Abend vor der Königsetappe mit 4600 Höhenmetern. Die paar Minuten, die ich heute vielleicht schneller fahren könnte – morgen verliere ich sie sicher, wenn ich heute überziehe. Ich beschleunige, rolle über die Matte, sie erkennt meinen Transponder, es piept. Die Uhr läuft jetzt gegen mich. Die Steigung beginnt brutal. Vor mir ragt der Asphalt der ersten Geraden auf, das heißt für mich 34-29, mein kleinster Gang. Auch nach der ersten Kehre bleibt es steil: Meist liegt die Steigung auf den ersten beiden Kilometern im zweistelligen Bereich.
Kulturerbe
Ich finde einen Rhythmus, blicke auf den Radcomputer am Vorbau, der meine Herzfrequenz anzeigt. An der ersten Kehre sehe ich das erste von 21 kleinen weißen Blechschildern, welche den Leidenden am Anstieg die Anzahl der Kurven bis zum Ziel, bis zur Erlösung, bis zur Alpe, herunterzählen lassen. Jede Kehre ist einem oder zwei Fahrern gewidmet. Wer die Huez-Etappe der Tour de France gewinnt, dem gehört eine Kehre. Das Schild in der ersten Kehre trägt den Namen des ersten Siegers in Alpe d’Huez: Fausto Coppi, im Jahr 1952. Da es inzwischen mehr Etappensieger als Kehren gibt, sind die ersten Kurven doppelt gewidmet. Unter Coppi steht deshalb Lance Armstrong. Auch er gewann hier im Jahr 2001. Der Tour-Sieg in diesem Jahr wurde ihm wegen Dopings aberkannt. So fahre ich vorbei: vorbei an Coppi und Armstrong, an Hinault und Pinot, an Pantani und Schleck.
Ich fahre an der Schmerzgrenze, nicht darüber, lasse die Verpflegungsstelle aus und überhole Fahrer um Fahrer. Einige überholen auch mich, ich lasse sie ziehen. Nach wenigen Kurven bin ich in unerwarteter Höhe: Bourg d’Oisans liegt tief unter mir. Ich blicke über das Romanche-Tal hinab und auf die Berge ringsum, die nun bereits viel weniger hoch erscheinen. Auf halber Höhe passiere ich Huez, fahre durch die Holländerkurve. Hier sehe ich Alpe d’Huez bereits gut, dann geht es wieder an steinernen Wänden entlang. Sie sind zum Teil mit Graffiti besprüht, auch der Boden ist bepinselt. Es geht durch kurze Waldstücke, hier fällt von den Bäumen Schatten auf den guten Asphalt der Straße, die sich in den Kurven dunkel verfärbt. Verfärbt vom Abrieb der Gummireifen aller, die hier hinauf und hinabfahren. Rennradfahrer tragen ihren kleinen Teil dazu bei.
Schließlich bin ich in den letzten Kurven, allein, umgeben von Felsen. Alpe d’Huez ist nahe, aber es kommt kaum näher. Jetzt, da ich den Zielort im Blick habe, komme ich nicht mehr vorwärts. Ich komme mir unendlich langsam vor. Fotografen stehen an der Strecke, machen Bilder von mir und laufen mir nach, wollen mir ihre Visitenkarten geben, damit ich später ihre Fotos von mir kaufe. Irgendwann fahre ich am Ortsschild vorbei. Den Weg kenne ich seit Jahren, ohne je hier gewesen zu sein – vom Fernsehen, von den Übertragungen der Tour de France. Ich erkenne die Häuser, die Kurven. Den Zielstrich. Der erste, den ich oben erkenne, ist Fränk Schleck. 2006 hat der Luxemburger die Huez-Etappe der Tour de France gewonnen, Kurve 18 trägt seinen Namen.
Die kommenden beiden Etappen wird Schleck als Markenbotschafter des Herstellers Mavic mitfahren. Er wird in einer Gruppe mit dem Gewinner der ersten Etappe unterwegs sein: dem Franzosen Cédric Dubois, der am Anstieg die 45-Minuten-Marke nur um ein Sekunde verfehlte. Der 42-jährige wird auch die nächsten beiden Etappen und damit die Gesamtwertung gewinnen. Neben Haute-Route-Veranstaltungen und Radmarathons hat er bereits die französische Meisterschaft in der Masters-Klasse gewonnen. Neben ihm wird auch die stärkste Frau gekürt: Es ist Emma Pooley, die nach 52:28 Minuten ins Ziel kam. Bis vor kurzem war sie Profiathletin, eine der besten Radsportlerinnen der Welt.
5.30 Uhr, das Frühstücksbuffet wird gerade aufgebaut. Die Croissants kommen frisch aus dem Ofen, sie sind noch zu heiß, um ihr volles Aroma zu entfalten. Draußen ist es noch dunkel. Zwei Tassen Kaffee, Brötchen mit Marmelade. Danach ziehe ich mich um, und rolle zum Start. Die Sonne geht auf, es ist kalt, zehn Grad Celsius. Wir rollen los, erst einmal bergab. Nach knapp 19 Kilometern beginnt die Zeitnahme. Und: Damit beginnt auch die Auffahrt zum Col du Glandon. Auf 25 Kilometern legen wir 874 Höhenmeter zurück, bis wir am Gipfel auf 1924 Metern sind.
Glandon
Ich gehe es an wie am Vortag: nur nicht überziehen. Und ich stelle fest: Es ist nicht viel anders, es ist ein Einzelzeitfahren mit gelegentlicher Gesellschaft. Pacing ist alles, denke ich mir und vertraue auf meine Grundlagenausdauer. Der Glandon liegt im Nebel, vor einem grauen Himmel weht es immer wieder weißgraue Schleier zwischen Bergspitzen. Am Anstieg wird es einsam. Die Spitzengruppe fährt zwar weitgehend geschlossen, wie ich später erfahre. Dahinter fahren aber die meisten ihr eigenes Tempo. 120 Fahrer sind auf der ersten Etappe ins Ziel gekommen. Heute werden es nur noch 91 sein. Überschaubare Zahlen – über weite Strecken bin ich alleine unterwegs, einsam auf den Strecken der Tour de France. Einsamkeit mit Blechschildern am Wegesrand, die Distanzen zum Gipfel samt Steigung preisgeben. Beim Glandon sind die Zahlen nicht erschreckend. Zwar gibt es auf der Südanfahrt von Rochetaillée einige kurze Abschnitte mit mehr als zehn Prozent Steigung. Die Durchschnittssteigung von dreieinhalb Prozent passt aber zu meinem Eindruck.
An der Passhöhe wird die Uhr gestoppt. Die Organisatoren verzichten auf die Zeitnahme in der Abfahrt, damit die Fahrer weniger Risiken eingehen. Es bleibt also Zeit, und viele nehmen sie sich hier oben: Trinkflaschen nachfüllen, Riegel essen, Gels einstecken. Dann geht es in die entspannte Abfahrt, auf 20 neutralisierten Kilometern. Es folgt: Der Col de la Croix de Fer, gefahren von Saint-Jean-de-Maurienne. 1517 Höhenmeter auf 28,3 Kilometern ergeben eine durchschnittliche Steigung von 5,4 Prozent. Der Himmel geht auf, die Sonne brennt herunter. Ich schwitze, meine Trinkflaschen leeren sich mit jedem Kilometer mehr. Ich halte meinen Rhythmus, aber ich fühle mich nicht mehr sicher damit. Eine Stunde lang fahre ich langsamer, fülle die Flaschen an einem Brunnen nach. Ich drücke Gels in die Flasche, pures Wasser würde mich jetzt nur ausspülen. Diese Erfahrung habe ich oft genug gemacht, ich will sie nicht noch einmal machen. Erst recht nicht heute: Ich will wieder nach Alpe d’Huez.
Fast 30 Fahrer scheitern an dieser Etappe. Einige von ihnen passiere ich auf meinem langen, langen Weg zum Croix de Fer. Sie kauern in Serpentinen und warten auf den Besenwagen, bleich im Gesicht, niedergeschlagen. Die Auffahrt ist lang und voller Abwechslungen. Ich erreiche einige Plateaus. Mal fahre ich steile Serpentinen, echte 180-Grad-Kurven, mal lange Geraden am Hang entlang. Meine Trikottaschen sind leer, mein Hunger wächst. Und mit ihm meine Angst vor dem Hungerast, vor dem Leistungseinbruch, vor dem Aus. Doch dann, auf fast 2100 Metern Höhe über dem Meer, taucht die Verpflegungsstation auf. Ich nehme mir Zeit, ich nehme mir Kekse. Ich kaue ruhig, schlucke in meinen trockenen Magen, trinke Wasser dazu. Ich fühle mich wie eine fast verdorrte Pflanze, die man endlich wieder gießt.
Die Abfahrt: 28 Kilometer. Erholung. Bald sind wir wieder auf der Strecke, auf der wir den Tag begonnen haben. Die Straße führt an zwei Seen vorbei, dem Lac de Grand Maison und dem Lac du Verney. In meinem Kopf: Die Erinnerungen an die Szenen, die Landschaften der Tour de France. Ich konzentriere mich auf die Straße, träume mich aber hinein in eine Fernsehübertragung, bei der die Stimmen der Moderatoren die flatternden Rotoren des Kamera-Hubschraubers nur leicht übertönen.
Tour-Ästhetik
Und plötzlich schlägt es an meiner rechten Schläfe ein. Ich kann nicht reagieren, ich fahre schnell, es geht bergab, es ist kurvig. Ein Stein, denke ich. Nein: eine Wespe. Sie verfängt sich unter meinem Helm und sticht sofort. Ich spüre, wie die Schläfe schwillt. Es pocht. Ich mache das Beste daraus – und nehme das Adrenalin des Schmerzes mit, mit hinein in den letzten Anstieg. Alpe d’Huez, zum Zweiten. Es ist die Auffahrt von Allemond: 18,7 Kilometer, 1357 Höhenmeter. „Als säße ich auf einem Motorroller“, denke ich mir, gleichmäßig drücke ich ein gutes Tempo den Berg hinauf. Die Beine arbeiten automatisch. Die Muskeln schmerzen. Ich komme ins Ziel, buche eine Massage, dusche, lasse mich massieren, gehe ans Buffet. Später im Hotel treffe ich meine britischen Journalisten-Kollegen, sie mussten heute aufgeben. Sie sitzen im Restaurant, sie sehen mitgenommen aus, mit müden Augen schenken sie Rotwein nach, schneiden ihr Steak. Nach dem Briefing schlafe ich früh, ich schlafe gut, und ich schlafe tief.
Und ich wache gut auf. Ich fahre die 21 Kehren hinab nach Bourg d’Oisans. Die Sonne geht auf, es ist kalt. Mein Rad ist zuverlässig: ein Stahlrad der bayrischen Manufaktur Rennstahl. Ich bin damit ein Exot zwischen den vielen Carbonmaschinen. Der Rahmen ist nicht ultra-steif, bietet aber viel Komfort. Mit 7,59 Kilogramm ist es leicht genug für die vielen Höhenmeter.
Die letzte Etappe. Über Les Deux Alpes geht es auf den Col de Sarenne und von dort ohne viel Verlust an Höhe in Richtung Westen, zurück nach Huez. Zunächst fahren wir die ersten Kehren des klassischen Huez-Anstiegs hinauf. Dann biegen wir ab und fahren lange auf einer ansteigenden, schmal in den Fels geschlagenen Straße mit einigen kurzen Tunnels. Es ist der frühe Höhepunkt des Tages: die Balcons d’Auris. Zu meiner rechten geht es steil hinab, bis zu 500 Meter tief. Der Blick über das Tal von Oisans und die Berge, die es umgeben, lässt mich ruhig fahren, damit dieser Abschnitt nicht zu schnell vorbei geht. „Genieße es, so viel Du kannst“, hat mir Fränk Schleck geraten. „Also Profi kannst Du keine Sekunde genießen. Das ist ein Privileg der Hobbyfahrer.“
Danach geht es über unstetige, steile und schattige Straßen durch den Wald, hinauf in den Wintersportort Les Deux Alpes. Auf 9,3 Kilometern lege ich 721 Höhenmeter zurück, die Durchschnittssteigung beträgt 7,8 Prozent. Es ist eine wenig spektakuläre Stichstraße, oben im Ortszentrum wenden wir. Nach der Abfahrt geht es an der riesigen Chambon-Talsperre entlang: Bis zum Ende der Dreißigerjahre war sie die höchste Staumauer der Welt. Wieder diese Tour-de-France-Szenerie: Ein Stausee in den französischen Alpen, auf dem das Sonnenlicht glitzert. Sofort geht es von hier in den Anstieg zum Col de Sarenne. Die ersten beiden Kilometer sind heftig, kaum einmal fällt die Durchschnittssteigung in den einstelligen Bereich. Anschließend geht es ruhiger dahin, nach 13 Kilometern und 900 Höhenmetern bin ich oben. Es geht bergab und wieder hinauf. Ich kann noch, aber ich will nicht mehr. Dies sind Höhenmeter, die zu keinem Ziel mehr führen. Höhenmeter, die niemand braucht. Es geht immer Richtung Westen, immer Richtung Huez.
L’Alpe d’Huez: Das Ziel vor Augen
Dann bin ich wieder im Anstieg hinauf zur Alpe. Ich habe die dritte von drei möglichen Auffahrten beinahe geschafft. Ich könnte mich freuen. Aber die Höhenmeter zehren an meinen Nerven. Die Szenerie wird seltsam, sie nervt mich. Ich überhole Leute auf E-Bikes und Jugendliche, die sich auf Mountainbikes in Sandalen den Anstieg hinaufquälen, mit Halbliter-Buttermilch-Plastikflaschen im Halter. Eine Frau am Straßenrand schreit mir irgendetwas auf Französisch zu. Vielleicht eine Aufmunterung, ich nehme es als Beleidigung wahr. Eine Dame kommt mir im Auto entgegen, sie kommt auf meine Spur, weil sie beim Fahren auf ihr Smartphone blickt. Ich fahre die letzten Kurven, weil ich es muss, ich fahre ins Ziel, weil es auf dem Plan steht.
Medaille, Massage, Pasta, Bett. An diesem Abend ist mit mir nichts anzufangen. Draußen geht die Sonne unter, ich blicke durch das Hotelfenster auf 1860 Metern ins Tal. Ich bin angekommen. Dafür bin ich gekommen. Ich fuhr drei Mal hoch, hoch nach Alpe d’Huez. Von allen Seiten. Jetzt habe ich es geschafft, ein Lebensziel erreicht. Abgehakt, könnte man sagen. Jetzt war ich auch mal da, könnte man sagen. Ich kann von Alpe d’Huez erzählen wie von einer alten Bekannten. Eine alte Bekannte, die mich mit nichts mehr überrascht, die mich kaum mehr interessiert. Doch so ist es nicht. Ich werde diese Bilder immer wieder vor meinem geistigen Auge sehen. Bilder von geöffneten Trikots, von verzerrten Gesichtern, von Ausreißern im Wiegetritt. Von glitzernden Stauseen in wilder Bergwelt. Von bemalten Straßen, von Menschenmassen, von einem seltsamen Bergdorf mit riesigen Hotels. Die Begeisterung für Alpe d’Huez, sie gehört zur Begeisterung für die Tour de France. Und diese Begeisterung, sie gehört zum Radsport. Die Begeisterung für den Radsport – sie bleibt, und sie wächst mit jeder Kurve. Sie wächst mit 21 Serpentinen.
L’Alpe d’Huez
L’Alpe d’Huez liegt auf 1860 Metern im Departement Isère in den französischen Alpen. Der Ort ist im Sommer vor allem für Radsportler interessant: 2018 liegt der Ort zum 30. Mal auf der Strecke der Tour de France. Auf drei verschiedenen Varianten lässt sich der Ort mit dem Rennrad erreichen. Klassiker ist der Anstieg von Bourg d’Oisans, dem Ort im Romanche-Tal. Wirtschaftlich ist der Winter jedoch wichtiger für den Ort: Alpe d’Huez ist eines der größten Skitourismus-Zentren der französischen Nordalpen. Entsprechend gut ist die Infrastruktur mit Hotels, Restaurants und Supermärkten. Wir wohnten währen der Haute-Route-Etappen im Vier-Sterne-Hotel Le Pic Blanc. Wie bei vielen anderen Betrieben bekommt man hier komfortable Zimmer und einen Speisesaal mit Blick auf die Alpen. Am unkompliziertesten ist Alpe d’Huez von Deutschland aus mit dem Auto erreichbar – aber auch das gelingt kaum in weniger als achteinhalb Stunden. Wir reisten anders an: mit dem Flugzeug zum Flughafen Genf, anschließend mit Bahn und Bus über Grenoble. Mehr Informationen unter: www.hotel-picblancalpes.com | www.alpedhuez.com
II Haute Route
Haute Route steht für eine weltweite Reihe von Etappen-Rennen für Jedermann-Radsportler. 2018 gibt es elf Events. Die Strecken führen oftmals durch legendäre Orte des Radsports, etwa durch die Pyrenäen und die Dolomiten. Highlights an legendären Pässen sind für viele Fahrer neben der Haute Route Alpe d’Huez die Veranstaltungen am Stilfser Joch sowie am Mont Ventoux. Bei beiden werden in diesem Jahr RennRad-Autoren am Start stehen. Aber auch in Norwegen oder in den Rocky Mountains gibt es Rennen. Im Jahr 2019 wird es erstmals eine Veranstaltung im Oman geben. Das Konzept basiert auf Profi-Feeling für Jedermann: Begleitung durch Sanitäter, abgesicherte Routen, Filmteams, Verpflegungsstationen, ausführliche Etappenbriefings und Massagen gehören zum Programm. Die Zeitnahme ist aus Sicherheitsgründen in der Abfahrt teilweise ausgesetzt. Die Preise für die Anmeldung für das 3-Tages-Event Haute Route Alpe d’Huez lagen 2018 je nach Anmeldephase zwischen 645 und 745 Euro. Unterkunft und Anreise müssen extra gebucht werden, hierfür gibt es spezielle Angebote. Mehr Informationen unter: www.hauteroute.org
III Etappen
Die Haute Route Alpe d’Huez 2017 führte über drei Etappen. Wir haben die Strecken aufgezeichnet. Über die Links unter den jeweiligen Etappen-Profilen sind sie kostenfrei als GPS-Daten herunterzuladen.