Aus der Asche
Die Tour du Ruanda – eine Reportage
in Race
Eine Wand aus Lärm
Ein Hügel, eine eigene Welt. Mitten in der Hauptstadt. 900 Meter lang, steil, Kopfsteinpflaster – eine Welt des Schmerzes. Und der Euphorie. Wir fahren durch eine Wand aus Lärm. Schreie, Gesang, Trommeln, Vuvuzelas. Tausende Menschen, eher zehntausende, auf so wenig Raum. Von den Häusern rechts und links der schmalen Straße sieht man nur die Dächer. Auf diesem Hügel existiert kein leerer Quadratzentimeter. Menschen, Menschen, überall Menschen.
Ich sitze in einem alten dunkelgrünen Toyota Corolla, dem ein Rücklicht fehlt. 100 Meter vor uns kämpfen sich sechs Fahrer den Hügel hinauf, getragen von einem Lärm, wie ich ihn noch nie gehört habe. Ein Lärm, wie man ihn wohl auch bei der Tour de France noch nie hörte. Auf dem Dach unseres Autos ist ein Rennrad festgemacht, mit vier großen Saugnäpfen, neben mir auf der Rückbank liegen Trinkflaschen, ein Vorderrad, ein Hinterrad, daneben sitzt der Teammechaniker und starrt nach vorne durch die Windschutzscheibe. Dies ist das Finale der sechsten Etappe der Tour du Ruanda. Es sind die wichtigsten Tage des Jahres in diesem Land. Es ist das Ereignis des Jahres. Es ist die Zeit, in der Helden geschaffen werden. Und damit vor allem eines: Identität.
„Vor sechs Jahren war Kigali ein Dorf. Heute erkennt man es nicht wieder “ – Yves Beau
Radsport-Nation
Drei der sechs Fahrer in der Spitzengruppe vor uns sind Ruander. Darunter der Mann im Gelben Trikot. Und der Mann, der genau ein Jahr zuvor genau diese Etappe gewonnen hat – und zwei Tage später die gesamte Rundfahrt. Unser Mann. Jean Bosco Nsengimana fährt für das Team, das ich durch dieses Rennen – und dieses Land – begleite. Ein deutsches Team, das hier mit einem deutschen Fahrer antritt. Einem Ruander. Einem Tansanier. Einem Eritreer. Ein Team, das um viel mehr kämpft als nur Siege: BikeAid. Hinter dem Profiteam stehen ein Verein, eine Gemeinschaft, hunderte Menschen, die den afrikanischen Radsport fördern und Spenden sammeln. Sie fahren Radrennen in ganz Afrika, vernetzen sich, suchen Talente, bilden sie aus – auf und neben dem Rad.
Der Mitgründer des Teams fährt weit hinten: Matthias Schnapka führt die letzte Gruppe an, das Gruppetto, viele Kilometer trennen ihn noch vom Ziel. Sein Teamkollege aus Ruanda ist vorne. Doch für Jean Bosco Nsengimana ist heute alles anders als vor einem Jahr, am Tag seines Triumphs: Es regnet, es ist kalt, vielleicht 18 Grad, die Strecke wurde verkürzt. Er hat keine Chance. Als achter rollt er ins Ziel. Nass, frierend, geschlagen. Fünf Minuten später lächelt er wieder. Denn ein Ruander hat gewonnen. Ein Ruander hat die Gesamtführung. Das ist, was zählt.
Ruanda ist ein Radsport- und ein Entwicklungsland. Die Nation ist arm, rund 40 Prozent der Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Als arm gilt, wer weniger als zwei US-Dollar am Tag verdient. Doch das Land hat eine Entwicklung hinter sich wie kaum ein anderes in Afrika. Dabei ist die Katastrophe erst 23 Jahre her: der Genozid. 1994 wurden innerhalb von drei Monaten bis zu einer Million Menschen ermordet. 97 Prozent der Opfer waren Tutsi, die Hälfte waren Kinder, mehr als ein Drittel wurden mit Macheten zerstückelt, vier Prozent in Latrinen ertränkt. Nachbarn töteten Nachbarn, Schüler ihre Lehrer, Freunde ihre Freunde. Es war kein Krieg zwischen den Stämmen der Hutu, Tutsi und Twa. Es war ein Abschlachten. Mit Kalaschnikows, mit Messern, mit Knüppeln, mit Feuer. Männer, Frauen, Babys. Völkermord. Die Weltgemeinschaft schaute zu.
Der Mann, der das Schlachten damals mit seiner Rebellenarmee beendete, ist noch heute der Staatschef: Paul Kagame. Er ist demokratisch gewählt. Aber auch eine Art Alleinherrscher. Viele westliche Journalisten nennen Ruanda einen Polizeistaat. Fest steht: Kagame hat es zu einem der sichersten und saubersten Länder Zentralafrikas gemacht. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum zwischen 2001 und 2015: acht Prozent.
Auferstanden
Am Abend meiner Ankunft in Kigali, der Hauptstadt, frage ich einen ruandischen Team-Betreuer nach dem Verhältnis von Hutu und Tutsi heute. Seine Augen werden groß, sein Mund steht offen. Panik. Er schaut sich um, schaut, ob uns jemand gehört hat, nein, und sagt: „Sei leise, leise! So darf man nicht reden, niemals. Das ist gefährlich. Diese Worte gibt es nicht mehr, es gibt nur noch Ruanda.“ Die Tour du Ruanda ist auch ein politisches Projekt. Eines, das helfen soll, Gräben zu bedecken, gesellschaftliche Risse zu kitten, Stolz zu wecken, aus Stämmen eine Nation zu machen.
Was nach dem Genozid übrig war: ein gespaltenes Land. Leid. Hass. Der Wunsch nach Rache. Niemand hatte damals eine solche Entwicklung erwartet. „Ich war 2010 zum ersten Mal hier“, sagt Yves Beau, „für die Tour du Ruanda. Damals war Kigali ein Dorf, man sah keine Autos, fast nur Lehmhütten, die Kinder auf dem Land rannten in Lumpen neben uns her.“ Yves ist 57, Franzose, Ex-Radprofi, Lebenskünstler, Afrikareisender – und Sportlicher Leiter des Teams BikeAid: Shorts, Flipflops, den Habitus eines 18-Jährigen, blaue Augen, graue Haare, die er sich in Kigali schneiden ließ, für einen Euro fünfzig, fünfzig Cent mehr als im Jahr davor. Er sitzt am Steuer des Corolla.
Auch während der ersten Etappe, rund um Kigali. Yves hupt den alten Toyota durch die Menschenmassen aus Kindern, vor allem Kindern. 60 Prozent der Ruander sind jünger als 25 Jahre. Vor der Startlinie bleiben wir stehen, öffnen die Tür. Vor uns steht ein Junge, vielleicht zwölf, dünn, ein altes T-Shirt, ausgetretene zu große Sportschuhe. Er spricht erst englisch, dann französisch. Wo wir herkommen. Wo wir wohnen. Warum Bosco für uns fährt. Als wir 30 Sekunden nach dem Startschuss in den Wagen steigen, sagt er nur „bis Sonntag“. In sieben Tagen. Wenn die Tour endet, wo sie begann. In Kigali.
„Ruanda ist nicht Afrika“
Der erste Startschuss der Rundfahrt fällt am Convention Center, einem Neubau aus Glas, oben rund, wie eine auf dem abgeschnittenen Ende stehende Gurke, abends neonbeleuchtet. Daneben: Ein noch leerstehendes Radisson Blu Hotel, an dessen Fassade die Bauarbeiter werken. Davor: ein riesiger Kreisverkehr mit einem Denkmal und englischem Rasen darauf, zwei Neubauten, zwei Rohbauten, viele Holzgerüste. Ruanda verändert sich. Schnell, sehr schnell. Es industrialisiert sich, eine Mittelschicht entsteht. Die beiden Haupttreiber dieser Entwicklung sind: Bildung – Ruanda hat inzwischen eine Einschulungsquote von 100 Prozent. Ein zumindest rudimentäres Sozialsystem – in die neu eingerichtete Krankenversicherung sind heute 91 Prozent der Ruander aufgenommen. Und: eine relativ geringe Korruptionsrate. Ein großes Problem bleibt jedoch: die Überbevölkerung. Doch auch hier wurden Fortschritte erzielt: Die durchschnittliche Geburtenrate je Frau ist von 5,6 auf 4,5 Kinder gesunken.
„Ruanda ist nicht Afrika. Es ist anders als all die anderen Länder hier“, sagt Yves Beau, der Mann, der, wie er selbst sagt, 106 Mal in Afrika war. 28 Mal in Kamerun, 22 Mal in Burkina Faso, überall. „Als ich hier von der Polizei angehalten wurde und denen Geld geben wollte, haben sie gesagt, sie stecken mich ins Gefängnis. Unglaublich!“ Ein völlig neues Erlebnis in Afrika. Es war das erste Mal, dass der direkte „unbürokratische“ Weg über einen kleinen Geldbetrag nicht funktioniert hat.
„In dem Center leben und trainieren dir größten Talet des Landes Zukünftige Nationalhelden.“
Von Helden
Während der zweiten Etappe haben wir einen Unfall. Logisch irgendwie. Denn hinter dem Radrennen wird ein zweites Rennen ausgetragen. Das der Begleitwagen. Auch hier haben die Teilnehmer Startnummern: Der Wagen des Teams, in dem der Gesamtführende fährt, bekommt die Nummer eins, und darf im Wagenkonvoi ganz vorne fahren – und so weiter. Theoretisch. Praktisch wird überholt, gehupt, um Kurven gezirkelt, voll beschleunigt, vollgebremst. 30 Kilometer nach dem Start, in einem der vielen kleinen eins wie das andere aussehenden Dörfern trifft uns ein Schlag. Der Corolla macht einen Satz nach vorne. Aussteigen, den Schaden betrachten, den Trainer der äthiopischen Nationalmannschaft, der mit seinem silbernen Corolla nicht schnell genug vollgebremst hat, fragen, ob alles ok ist. Nach einer Minute geht es weiter. Vollgas, links vorbei an allen anderen Corollas, den grünen, den schwarzen, den silbernen. Nach ganz vorne.
Einer von uns ist in der Spitzengruppe. Meron Amanuel aus Eritrea ist 27, Sprinter, seit dem ersten Jahr des Teams BikeAid mit dabei, seit 2014. Er gehört zu den Erfahrenen im Team, zu den Ruhigen, Nachdenklichen. Man spürt in jeder Minute, dass er weiß, was der Radsport ihm gibt und was er ihm verdankt. Denn als Sportler darf Meron reisen – aus diesem trockenen Land, aus Asmara, der Hauptstadt, in der er lebt und in der er irgendwann ein Radgeschäft eröffnen will, aus einem Land, dessen Bürger vor jeder Reise ein Ausreisevisum beantragen müssen – das fast nie genehmigt wird. Einem Land, dessen Bewohner in die Armee gezwungen werden, in einen Grundwehrdienst, der Jahrzehnte dauern kann und während dem man kaum genug Sold erhält, um zu überleben.
Heute, in Ruanda, holt sich der Eritreer Meron Amanuel, der für ein deutsches Team fährt, unser Team, die einzige Bergwertung des Tages – und damit das Trikot des besten Bergfahrers. Nach 30 Kilometern wird die Spitzengruppe wieder eingeholt. Die Etappe läuft ab wie die meisten, die noch folgen werden: Eine Mannschaft dominiert, Dimension Data, das Nachwuchsteam des südafrikanischen WorldTour-Teams gleichen Namens. Ein Fahrer von den Philippinen, zwei aus Eritrea, einer aus Ruanda, Valens Ndayisenga. Er ist einer der radfahrenden Nationalhelden – der Sieger der Tour du Ruanda 2014. Ein anderen ist Jean Bosco Nsengimana, sein Nachfolger im Jahr darauf. Bosco, so nennen sie ihn. 1,86 Meter groß, extrem schlank, feingliedrig, dünne sehnige Beine, 62 Kilogramm – eine Figur wie ein Marathonläufer. Eine Frisur wie fast alle anderen Ruander: 15 Millimeter kurze Haare. Große sehr dunkle Augen, eingefallene Wangen, ein ruhiger scheuer Blick, aus dem die Schüchternheit spricht. „Ich kann die Tour du Ruanda wieder gewinnen. Das ist mein Ziel“, sagt er am Abend vor dem Prolog. Auf dem Weg zum Start der ersten Etappe lautet das meistgenannte Wort im Radio: Bosco. Bosco. Bosco. Im Hotel versammeln sich zum Abschied die Angestellten. Alle wollen Selfies mit ihm, alle wünschen ihm Glück. Bosco lächelt.
Aus dem Nichts
Fünf Tage später sind wir dort, wo er lange gelebt hat. Im Zentrum des ruandischen Nationalsports. Im Cycling Center. Im Reich des Jock. Jonathan „Jock“ Boyer war der erste US-Amerikaner, der an der Tour de France teilnahm. In den USA war er eine persona non grata, verurteilt wegen einer Beziehung mit einer Minderjährigen. 2007 reiste er nach Ruanda – und blieb. Ohne ihn wäre der ruandische Radsport nicht, was er heute ist. Vielleicht wäre Ruanda nicht, was es heute ist.
Er fing bei null an. Der Mann, der den Radsport nach Ruanda brachte, ist 61 Jahre alt, sieht aber viel jünger aus, eigentlich sieht er aus wie Bill aus den Kill-Bill-Filmen: groß, schlank, sehnig, graumeliertes Haar, ein strenges Asketengesicht. Er fährt immer noch fast jeden Tag Rad. Mit seinen Jungs, mit den besten Fahrern Ruandas. Sie leben alle bei ihm, in seinem Center. Die fünfte Etappe ging zehn Kilometer von hier zu Ende, in Ruhengeri, im Musanze-Distrikt, in einer Stadt, hinter der riesige dunkelgrüne Kegel aufragen, erloschene Vulkane. Eine Stadt, die sauber ist, die moderne Hotels hat, eine Stadt, in die US-Amerikaner, Europäer, Japaner, Australier kommen. Die Stadt der Affen.
Im Dschungel um die Virunga-Vulkane herum leben Berggorillas. Wegen Ihnen kommen die Touristen, wegen Ihnen gibt es die Hotels. Hotels, die neu sind und teuer, Hotels für anspruchsvolle Gäste. Der Eintritt in den Nationalpark inklusive Wanderung zu den Affen kostet 750 US-Dollar, pro Person, pro Tag. Dies ist der Norden Ruandas, irgendwo hinter den Vulkanen, hinter dem Nationalpark beginnt der Kongo, auch Uganda ist nah. Wir biegen von der Straße, die zum Wald der Gorillas führt, links ab. Ein schmiedeeisernes buntbemaltes Tor, ein Wachmann. Dahinter, von außen nicht zu sehen, ein eigenes kleines Dorf. Acht, neun, zehn Gebäude, neu, gemütlich. Dazwischen frisch gemähter grüner Rasen, zwei große gutmütige Hunde, Jocks Hunde. Dies ist sein Projekt, seine Idee, die Realität geworden ist: das Cycling Center. Es gibt Materiallager, einen hausgroßen Generator, eine hausgroße Wasseraufbereitungsanalage, Werkstätten, Büros, Unterrichtsräume, Trainingsräume mit Hanteln und einem altertümlichen Ergometer für Leistungstests, eine Küche, einen Speisesaal. 15 Nachwuchsradsportler leben hier. Die größten Talente des Landes. Potenzielle zukünftige Nationalhelden.
Hier leben sie, hier trainieren sie. Sie werden bezahlt, bekocht, versorgt. Sie sind zwischen 16 und 23 Jahre alt – und gehören schon zur gesellschaftlichen Oberschicht. „Die meisten von ihnen haben als Fahrradtaxi-Fahrer angefangen“, sagt Jock. Das Fahrrad ist das traditionelle Fortbewegungsmittel in Ruanda. Die Räder sind überall, antik, stählern, mit einem Gang und einem gepolsterten Sitz für den Fahrgast statt eines Gepäckträgers. Während der Tour du Ruanda sieht man auf und an diesen Rädern: bis zu vier Menschen, bis zu fünf Hühner, bis zu vier Meter lange Holzbretter, bis zu sieben Zementsäcke. Im ganzen Land gibt es Rennen für Radtaxifahrer, in jeder größeren Stadt gibt es einen Radclub. Talente zu finden ist Jocks Mission – und eine staatliche Aufgabe. Denn der Sport hilft, das Nationalgefühl zu stärken. Der Sport schafft Idole. Vorbilder. Lebenswege, denen man nacheifern kann. Helden für die ganze Nation.
Talent und Taktik
Jean Bosco kann jeden Tag Artikel über sich in den Zeitungen lesen. Jeden Abend kommen Zusammenfassungen der Etappen im Fernsehen. „Natürlich sind er und Valens hier Helden“, sagt Jock. Bosco war zwei Jahre lang bei ihm im Center. Ein ruhiger Junge vom Land, der als Kind drei Jahre lang zur Schule ging, dann seiner Mutter auf dem Markt half. Ein Junge, dessen Vater währen des Genozids ermordet wurde. Ein heute 22-Jähriger, der für die Saison 2016 einen Vertrag beim deutschen Continental-Team BikeAid unterschrieben hat. So wie Janvier Hadi. Die beiden Ruander sollten während der Radsaison in Deutschland leben, im Saarland, in Blieskastel, sie sollten sich fortbilden, Englisch lernen, Rennen fahren, Renntaktiken lernen. Sie kamen im März. An ihrem dritten Tag in Europa fuhren sie Rad, in kurzen Hosen, da sie keine langen hatten. Etwas Weißes kam vom Himmel. Etwas, das sie nie zuvor gesehen hatten: Schnee, der erste ihres Lebens. Von einer Tankstelle aus riefen sie an und ließen sich abholen. Nach sechs Wochen in Deutschland flogen sie wieder nach Hause. Heimweh.
„Bosco ist das größte Talent, das Ruanda je hatte. Physisch. Aber er wird es in Europa nicht schaffen. Er wird kein großer Radprofi werden. Denn leider passt der große Rest nicht: Die Psyche – Fahrtechnik, Taktik, Wissen, das wird er nicht mehr lernen. Es ist eine Tragödie.“ Jock ist ganz ruhig, als er diese Worte spricht. Aber sein Blick ist hart. „Ich brauche die Fahrer jünger hier, mit dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Es gibt so viel zu lernen – und so viele andere Aspekte als körperliches Talent. Davon haben wir hier in Ruanda grenzenlos viel.“
Natur, Kultur
Nach der zweiten Etappe ist Bosco fünfter der Gesamtwertung. Noch ist alles möglich. Die Tage laufen für die Fahrer immer gleich ab. Drei Stunden vor dem Start Aufstehen, Frühstücken, mit dem Rad zur Startlinie rollen, Radrennen fahren, Hotelsuche im Zielort, Duschen, Essen, Schlafen, Massage, Essen, Schlafen. An einem Tag Dauerregen und Kälte, am nächsten Tag wolkenlos und 33 Grad. Die Start- und Zielorte wechseln – die Landschaft nicht. Felder, Häuser, Hütten, Pfade, Hügel, Menschen. Das ist, was wir sehen. Tagelang. Mal liegen 30 Meter zwischen den Häusern und Hütten, mal 50, mal 100, mal 300. Nie mehr. Ruanda ist das Land der tausend Hügel – und das Land, das sich der Mensch vollkommen untertan gemacht hat. Kein Meter ist nicht bebaut, kultiviert, verändert, geformt. Natur sehe ich zum ersten Mal am dritten Tag: Eine Hügelkuppe, auf der weder Menschen noch Felder noch Häuser sind. Sondern Wald, dunkelgrün, lebendig. Ein Kontrast – umgeben vom vertrauten Braun, Grün, Rot der Kulturlandschaft. Die „Wildnis“ ist vielleicht 500 Quadratmeter groß.
Eine Etappe führt durch ein Naturschutzgebiet. 40 Kilometer weit. Ein alter metallener Eingangsbogen über der Straße, eine grüne Wand – und man ist in einer anderen Welt. Auf einer kleinen Insel, einer Zeitkapsel, die sichtbar macht, wie dieses Land einst aussah. Es sind die einzigen Kilometer der Tour du Ruanda ohne Menschen an den Straßenrändern. Grüne Täler, Vogelrufe, Baumriesen, es ist wunderschön. Dann durchqueren wir ein anderes Metalltor und von einem Meter zum nächsten ist alles, wie es all die anderen hunderten Kilometer vor dem ersten Tor war. Häuser, Menschen, Pfade, Felder. Ruanda ist so groß wie Rheinland-Pfalz und das Saarland zusammen, hat aber weit mehr als doppelt so viele Einwohner: 13 Millionen.
Finale
Zwei Etappen führen am Kivusee entlang. Er liegt rechts neben uns, im Tal, riesig, glitzernd, palmengesäumt. Rund 90 Kilometer lang, 50 Kilometer breit. Ein tropisches Paradies. Eines, das ein Geheimnis birgt: In seinen tiefsten Schichten sind Gase gelöst, Experten gehen von 250 Kubikkilometern CO2 und 60 Kubikkilometern Methan aus. Sollten diese Gase freigesetzt werden, könnten bis zu zwei Millionen Menschen ersticken. Abends sind wir in einem Hotel 80 Meter vom Seeufer entfernt. Die Fahrer haben keine Toiletten auf den Zimmern, keine Duschen. Der Strom fällt für eine halbe Stunde aus. Das Abendessen läuft ab wie immer. Es gibt immer dasselbe: Reis, Kartoffeln, Fleisch, Fisch, Bananen, Äpfel, dazu Fanta. Nur diesmal hat man von der Terrasse, auf der das Buffet aufgebaut ist, einen Blick auf den See. Und auf die Demokratische Republik Kongo. Die beginnt auf der anderen Seite des Wassers. Die Tour du Ruanda endet, wie sie begann. In Kigali. Die letzte Etappe hat ein Klassikerprofil: neun Runden, je ein steiler Anstieg, direkt vor der Ziellinie. Es hat 34 Grad, der heißeste Tag der Rundfahrt. Es wird ein Ausscheidungsfahren – das vom selben Team dominiert wird wie alle Etappen zuvor: Dimension Data. 20 Minuten vor dem letzten Startschuss parkt Yves den Team-Corolla in der Nähe des Stadions. Er macht die Tür auf. Vor ihm steht der Junge mit den zu großen Schuhen. Genau wie eine Woche zuvor. Er gibt jedem die Hand. Später, während des Rennens, sitzt er neben dem Mechaniker auf der Rückbank, den Kopf aus dem Fenster gestreckt, bei 60 km/h in der Ebene. Er sieht, wie Bosco kämpft, wie er den Anschluss verliert, wie ein Eritreer die Etappe gewinnt und Valens die Rundfahrt. Nach dem Rennen steht er neben Yves. Er legt seine Hand auf Boscos Schulter, schaut beim Räderaufladen zu. Er geht mit zwei Trinkflaschen, Radhandschuhen, ein paar Energieriegeln und den Worten: „Danke. Bis nächstes Jahr.“ //
„Er ist das größte Talent, das Ruanda je hatte. Aber er wird es nicht schaffen. Es ist eine Tragödie.“ – Jock Boyer
BikeAid: ein Team – und ein Projekt
BikeAid ist ein Profi-Team der Continental-Kategorie, das 2014 im Saarland gegründet wurde. Es ist jedoch viel mehr als ein Radteam, den Organisatoren geht es um viel mehr als sportliche Erfolge. Auch wenn diese dennoch eingefahren werden. Zum Beispiel von dem Eritreer Mekseb Debesay, der 2014 im BikeAid-Trikot die UCI-Afrika-Tour gewann. Inzwischen fährt er für das WorldTour-Team Dimension Data. In der aktuellen Saison dominierte das Team etwa die Kamerun-Rundfahrt. Im BikeAid-Team sind neben den beiden Mitorganisatoren Mathias Schnapka und Timo Schäfer und erfahrenen deutschen Profis wie Zugang Tino Thömel oder Bergspezialist Nikodemus Holler auch zwei Fahrer aus Eritrea und drei aus Kenia vertreten. Jean Bosco Nsengimana ist 2017 nicht mehr im Team, sondern fährt wieder für die ruandische Nationalmannschaft. Auch Richard Laizer, ein Massai aus Tansania, der in Ruanda für BikeAid am Start war, ist 2017 nicht mehr im Team. In diesem Jahr fusionierte BikeAid mit dem Team Kenyan Riders, einem Projekt zur Entwicklung ostafrikanischer Radsportler. Damit besteht nun eine Basis in Afrika, in der 2400 Meter über dem Meer gelegenen „Hochburg“ der ostafrikanischen Top-Langstreckenläufer: Iten im kenianischen Hochland. Die besten Fahrer des Teams werden während der Saison im BikeAid-Trikot unterwegs sein, während die Kenyan Riders schwerpunktmäßig vor Ort in Kenia das Scouting von neuen Talenten und deren Ausbildung über ein Development Team übernehmen. In diesem werden aktuell sechs kenianische Talente im Alter von 18 bis 23 Jahren entwickelt – seit April leben und trainieren sie für die Dauer der Rennsaison in Deutschland, im saarländischen Blieskastel, rund 25 Kilometer von Saarbrücken entfernt. Das Ziel des Teams ist es, vor allem in Afrika soziale Projekte wie etwa Schulen zu unterstützen und afrikanische Radsportler nach Europa zu holen und ihnen damit Chancen zu eröffnen, die sie sonst nie bekämen. Doch BikeAid ist auch ein Verein, eine Community, eine Wohltätigkeits-Organisation, die Spendengelder sammelt und ohne Abzug von Verwaltungsgebühren zu 100 Prozent an Hilfsprojekte weitergibt. Weitere Informationen zu dem Team und den Hilfsprojekten: www.bike-aid.de
Ruanda
Das ostafrikanische Binnenland hat 13 Millionen Einwohner. Es liegt zwischen Tansania, Uganda, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo. Das Land gilt als recht sicher. Der Flug von Deutschland aus dauert rund 13 Stunden. Direktverbindungen in die Hauptstadt Kigali bietet etwa die Airline KLM. Die Preise beginnen bei rund 400 Euro für Hin- und Rückflug. Das „Projekt Ruanda“ wurde 2006 von dem Mountainbike-Pionier Tom Ritchey mitgegründet – mit dem Ziel, mehr Ruander mobil zu machen und das Fahrrad weiter zu verbreiten. Dazu wurden etwa besonders stabile und wartungsfreundliche Transporträder angeboten. Das von Jock Boyer aufgebaute „Ruanda Cycling Team“ ging aus diesem Projekt hervor. Inzwischen ist dieses Nationalteam recht professionell aufgestellt, so sind die Fahrer auf Pinarello-Dogma-Rennrädern unterwegs. Mit Adrien Niyonshuti fährt bereits ein Ruander für ein WorldTour-Team, Dimension Data. Valens Ndayisenga, der Gewinner der Tour du Ruanda 2016, startet seit der aktuellen Saison für das österreichische Continental-Team Tirol.
Das Rennen
Die Tour du Ruanda wird, mit Unterbrechungen, seit 1988 ausgetragen. Erst als regionales Rennen, seit 2008 als internationales. 2016 holte sich der Ruander Valens Ndayisenga (Dimension Data) auf der 2. Etappe mit seinem Sieg auch das Gelbe Trikot – und gab es, auch dank seines starken Teams und der Hilfe der anderen Ruander im Feld, nicht mehr ab. Jean Bosco Nsengimana konnte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Am Ende wurde er neunter der Gesamtwertung. „Die Tour du Ruanda ist das mit weitem Abstand bestorganisierte Radrennen Afrikas“, sagt Yves Beau, der Mann, der schon mehr als 100 Etappenrennen in afrikanischen Ländern erlebt hat. Neben vielen Teams aus Afrika und dem einzigen deutschen Vertreter, BikeAid, waren 2016 Teams aus Kanada, Israel, Frankreich und der Schweiz in Ruanda am Start.
Mehr Informationen zur Tour: www.tourdurwanda.rw