Alpentour: Bergzeit
Alpentour: Erlebnisbericht einer Rennrad-Tour durch drei Länder
in Reise
Es gibt sie noch: die schmalen Sträßchen, die Einsamkeit, die Natur. Auch in den Alpen. Wir waren fünf Tage in den Bergen unterwegs – auf der Suche nach Neuem, nach Höhenmetern und einer Auszeit. Heraus kam eine Tour von 750 Kilometern, durch drei Länder – und das Entdecken neuer Welten. Der Erlebnisbericht.
Monte Crostis: die Ursprünglichkeit Italiens mit dem Rennrad erleben.
Mit jeder Minute, die wir hier in der Einsamkeit bergauffahren, scheint das Sträßchen schmaler zu werden. Nach rund 40 Minuten ist es verschwunden – und mit ihm der Asphalt. Die Zivilisation. Die normale Welt. Wir sind oben, umhüllt von dichtem Nebel, auf einem Hochplateau in den Bergen. Wir holpern auf unseren Rennrädern über Erde und Steine, auf einem Wegchen, das eher für Esel und Schafe geschaffen scheint. Es sieht aus – und fühlt sich an – wie eine Schmugglerroute aus dem 18. Jahrhundert.
Nebel umgibt uns. Er quillt über den Bergrücken auf uns zu. Unten im Tal hatte es 24 Grad, hier sind es vielleicht noch zehn. Drei Kilometer, vier, fünf, es hört nicht auf. Wir kommen kaum vorwärts. Erst nach mehr als sieben Kilometern taucht vor uns wieder ein schmales graues Asphaltband auf. Es führt steil bergab.
Der Weg ist schmal, wir müssen vor jeder Kurve extrem abbremsen, da der Platz nicht genügen würde, um an einem entgegenkommenden Auto vorbeizukommen. Aber es kommt kein Auto. Wir sind völlig allein. Vom ersten Meter der Auf- bis zum letzten Meter der Abfahrt. Und das in Italien, in einer Ferienregion, im Friaul. Diesen einsamen Berg haben wir sehen, erleben, bezwingen wollen. Wir hatten die Wahl zwischen ihm und einer Radsport-Legende: dem Monte Zoncolan, auf dem immer wieder Etappen des Giro d‘Italia enden. Wir entschieden uns für die Alternative. Für die Einsamkeit, für den Schotter, für den Monte Crostis.
Die Flucht
Dies ist der zweite Tag unserer Reise. Es ist die vierte Tour durch die Alpen, die wir zusammen machen. Zwei Freunde, ehemalige Teamkollegen, die im selben Radsportverein waren, der RSG Heilbronn, im selben Rad-Bundesligateam, im selben Nationalkader. Jeden Sommer suchen wir uns eine neue Flucht aus dem Alltag. Ein direktes Naturerleben. Wir suchen uns Pässe, so viele Pässe wie in die Tage passen – und bauen eine Route darum.
In diesem Jahr geht alles schief. Mittwochabends fahren wir mit unserem Fotografen, der uns die ersten drei Tage begleitet, nach Mühlbach am Hochkönig. Und übernachten dort, um am nächsten Morgen möglichst früh loszukommen. Doch die Natur ist – diesmal – gegen uns. An den Tagen zuvor hatte es gestürmt. Der erste Berg, über den wir wollten, der 26 Kilometer lange Sölkpass, ist gesperrt. Wegen Murenabgängen. Die Straße soll teilweise weggespült sein. Keine Chance. Auch der Radstädter Tauernpass ist gesperrt. Eine zeitlich machbare Alternativroute mit dem Rad gibt es nicht. Also bleibt nur der Umweg im Auto. Nach rund 1,5 Stunden steigen wir endlich im Örtchen Schöder auf die Räder. Von Pichlern aus geht es über unseren ersten Berg: den Schönfeldsattel, 15 Kilometer, 720 Höhenmeter, ein idealer Einstieg.
Nockerberge: Alpen-Paradies für Rennradfahrer
Doch die ersten Meter fallen schwer. Das Frühstück ist schon zu lange her. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis die Muskeln warm sind, bis sich die Tretbewegung wieder gut und natürlich anfühlt. Schon jetzt ist klar, dass die Fahrt heute ein Wettrennen mit dem Tag wird. Es wird knapp werden, vor dem Sonnenuntergang am Hotel anzukommen. Doch mit jeder Stunde wird es besser. Es wird warm, die Beine sind wieder frisch. Wir sind im Flow. Wir lernen Dinge zu schätzen, die man im normalen Leben in der Regel anders wahrnimmt. Die Natur zum Beispiel. Oder Mautstraßen.
Wir biegen ab, fahren an einer Schranke vorbei bergauf, immer weiter bergauf – und sind bald darauf in einem kleinen Paradies. In den Nockbergen. Wir rollen auf dem Hochplateau der Nockalmstraße dahin. Um uns herum: das satte Grün der sanften Hügel, das Grau der Felsen, das dunklere Grün der Nadelbäume, das helle Blau des Himmels. Und kaum Motorenlärm, kaum Verkehr, kaum Menschen. Ab und zu rauschen Motorradfahrer vorbei, immer in Gruppen. Die Straße zieht sich scheinbar endlos. Sie ist niemals flach. Die Ausblicke auf die Nockberge lenken von den auf den rund 33 Kilometern zu überwindenden 1050 Höhenmetern ab. Doch irgendwann geht es wieder bergab.
Alpentour: Fünf Etappen, drei Länder
Danach sind wir wieder in der normalen Welt. Autos, Menschen, Lärm – doch alle Faktoren der Zivilisation sind, wie alles, relativ. Auch hier ist es noch so viel ruhiger, natürlicher, alpiner als in unserem Alltag. Wir rollen im immer gleichen Ausdauerrhythmus weiter, bis der Hunger uns stoppt. Die erste Pause: Obst, Brötchen, Landjägerwurst aus einem kleinen Dorfladen. Weiter, immer weiter, bis ab unser Tagesziel: Bad Kleinkirchheim.
Alles ist wie in den Jahren zuvor, bei unseren anderen Alpentouren. Tradition. Es ist eine Art Urlaub, eine Flucht aus der Routine. Unsere Route lautet: Österreich, Italien, Österreich, Deutschland. Vom Salzburger Land über das Friaul, die Dolomiten, das Vinschgau und Osttirol bis nach München. Vor die eigene Haustüre. Die Tagesetappen sind zwischen 140 und 200 Kilometer lang. Die Zahl der Höhenmeter liegt je zwischen 1500 und jener der längsten, der „Königsetappe“: 4400. Fünf Tage auf dem Rad, ein langes, nein, ein sehr langes Wochenende.
Die Königsetappe: 4000 Höhenmeter verteilt auf vier Pässe
Der Morgen des zweiten Tages. Nach dem Frühstück steigen wir erst einmal in den Wagen des Fotografen. Was sich wie ein unerlaubtes, unmoralisches Abkürzen, wie Betrug, anfühlt, ist eigentlich Pragmatismus. Eine Notwendigkeit, denn ohne diese Hilfe wäre unser Tagesziel nicht zu erreichen. Dennoch wird dies der wohl härteste und der längste Tag unserer Tour. Es wird der Tag eines doppelten Hungerastes – und eines Wettrennens mit der Dämmerung. Wir machen drei Pausen, doch nur eine davon ist geplant und freiwillig. Die Tagesaufgabe: vier Pässe. Monte Crostis, Cima Sappada, Passo Tre Croci, Falzarego. Es sind nicht die rund 15 Kilometer mit 1400 Höhenmetern, die den Monte Crostis so besonders machen. Sondern das, was nach der Steigung kommt: eine fast sieben Kilometer lange Kammstraße, die nicht asphaltiert ist. Die Auffahrt liegt versteckt im Wald, das einsame winzige Sträßchen ist kaum mehr als zwei Meter breit.
Mehr Natur
Kein einziger Radfahrer kommt uns entgegen. Oben, rund 1900 Meter über dem Meer, herrschen Nebel und Kälte. Nach einer Serpentine ist das schmale Asphaltband zu Ende – und der Schotter beginnt. Der Naturweg ist gerade noch mit dem Rennrad zu fahren. Wenn man sich voll darauf konzentriert, großen Steinen und Löchern auszuweichen. Ab und an gibt der Nebel um uns Blicke auf die Berge der Umgebung frei. Die Schönheit der Natur ist jetzt und hier nur noch zu erahnen.
Der nächste Anstieg führt zwar „nur“ bis auf 1300 Meter über dem Meer, doch er ist lang und, gerade im hinteren Teil, sehr steil. Die Cima Sappada stellt uns rund 750 Höhenmeter in den Weg. Der motorisierte Verkehr ist kaum zu sehen. Der folgende Passo San Antonio ist von der Nordseite, die wir fahren, kaum wahrzunehmen. Es geht keine 300 Höhenmeter hinauf. Gleiches gilt für den Passo Tre Croci: Wir fahren ihn von der mit Abstand leichtesten Seite.
Hungerast am Passo Tre Croci
Doch es kommt, was kommen muss: Ein Leistungseinbruch, ein „Hungerast“, der uns beide fast gleichzeitig erwischt. Wir müssen an einem Restaurant am Pass eine Zwangspause machen. Wir kaufen alles, was in dem Berggasthof, an dem wir nicht mehr weiter können, an Kalorien zu erwerben ist, Kuchen, Croissants, zwei Tafeln Schokolade, vier Cola. Um kurz vor 18 Uhr trennt uns noch ein Berg von unserem Tagesziel, von einer Mahlzeit, einer Dusche, einem Bett – von allem, nach dem wir uns sehnen. Wir bewegen uns auf der Route der berühmten Maratona d‘les Dolomites, eines der bekanntesten Radmarathons überhaupt: 138 Kilometer, 4230 Höhenmeter, sieben Passüberquerungen. Von den Dimensionen her fahren wir heute unseren eigenen Maratona. Nur ohne Zuschauer, ohne Druck, ohne Labestationen.
Trainingstipps: Von den Profis lernen
Nach einer kurzen Abfahrt kommen wir durch den berühmten Wintersportort Cortina d‘Ampezzo. Gleich nach dem Ort beginnt der Passo di Falzarego. Der Anstieg ist mit 16 Kilometern sehr lang, aber recht gleichmäßig, rhythmisch zu fahren, nicht zu steil. Diesen „Charakter“ teilt er mit den meisten anderen Dolomiten-Pässen. Die Ausnahmen von dieser „Regel“ sind dafür umso härter zu bezwingen: der Passo Giau etwa. Wir sind müde – und überholen dennoch viele andere Radfahrer. 900 Höhenmeter später sind wir oben. Die Sonne ist schon stark gesunken. Eine Abfahrt trennt uns noch von unserem Etappenziel: St. Kassian.
„Am Tag des doppelten Hungerasts essen wir einen nahrungsauswahltechnisch sehr schlecht ausgestatteten Berggasthof leer. Wir kaufen alles, was Kalorien hat.“
Zusammen mit den letzten Strahlen der Sonne kommen wir an. Halbverhungert, unterkühlt. Aber irgendwie glücklich. Unsere Tagesbilanz: mehr als 150 Kilometer, mehr als 4000 Höhenmeter. Dies ist unsere vierte Alpentour. Natürlich versuchen wir, immer neue Strecken, immer neue Berge zu finden. Doch manchmal wiederholt sich Geschichte. Zum Beispiel unsere mit einem Anstieg, den wir nie fahren wollten: Der Reschenpass ist eigentlich ein Schrecken aller Rennradfahrer. Doch wir fuhren diese Route schon bei unserer Alpentour des Vorjahres – und wissen um die Schönheit des Radweges abseits der viel befahrenen Straße. Er führt meist nur leicht ansteigend auf der anderen Seite des Reschensees, direkt an dessen Ufer entlang. Weg vom Lärm, dem Stau und den Abgasen.
Die Wand
Doch bei dieser Tour wurden wir so oft überrascht wie wohl noch nie zuvor. Von der Natur, von der Strecke, von uns selbst. Am dritten Tag erleben wir, was wir noch nie erlebten: eine Niederlage gegen einen Berg. Es ist ein Anstieg, den kaum jemand kennt, keiner der großen Namen, keiner, der Scharen von Rennradfahrern anzieht. Es ist ein schmales unbedeutendes Wegchen, das am Rande einer Großstadt beginnt, an der Stadtgrenze von Bozen. Die Straße liegt so versteckt, dass wir zuerst daran vorbeifahren. Zwischen einem Bach und einem alten Haus führt ein asphaltiertes Wegchen bergauf. Mehr ist wegen des dichten Waldes dahinter nicht zu sehen. Wir schalten in den leichtesten Gang – ich hatte extra für diesen Berg ein 32er Ritzel montiert – und fahren los. Was wir in den nächsten 20, 30, 40, 100, 200, 300 Sekunden erleben, ist ein Schock. Für den Körper und den Geist.
Der Anblick, der sich uns nach der ersten Kurve, nach den ersten 40 Metern dieses Berges bietet: eine Wand. Eine Wand, die wandig bleibt, soweit man sehen kann. Das Gefühl, das einem dieser Anstieg beschert: kaum zu beschreiben. Wenn Muskeln vor Schmerz schreien könnten, würden sie es tun. Das Schmerzzentrum im Gehirn versteht ihre Signale auch so. Im Normalfall würde es den Muskeln das Signal geben: langsamer, weniger Watt. Aber das hier ist so weit weg von einem Normalfall, von einem normalen Allerweltsanstieg wie der Mount Everest vom Gütersloher Müllberg. Würde das Gehirn in diesem Fall, jetzt und hier, das Signal zu zehn Prozent weniger Leistung geben, würden wir umkippen. Oder rückwärts wieder nach unten rollen.
„Es geschieht, was irgendwann geschehen musste: Wir erleben die erste Niederlage gegen einen Berg“
Die alte Jenesier Straße zerstört uns. Sie beginnt 30 Prozent steil – und hört nicht wieder damit auf. Einer von uns muss vom Rad, setzt sich in den Schatten einer Hecke und starrt ins Leere. Minutenlang. Bevor er aufsteht und wortlos beginnt sein Rad zu schieben. Mit zwei km/h. Der andere „fährt“ weiter bergauf, zumindest bleibt er auf dem Rad und schafft es irgendwie die Kurbel und sich zu bewegen. Mit maximal fünf km/h.
Der längste Tag der Alpentour
Bergauf allein zu stürzen, ist fast unmöglich. Dachte ich immer. Bis jetzt. Bis zu dieser Straße. Mein Vorderrad bleibt nicht am Boden. Ich muss im Wiegetritt fahren. Jede einzelne Kurbelumdrehung kostet viel Kraft, jede tut weh.
Es ist heiß, 34 Grad. Der Schweiß rinnt in Strömen unter meinem Helm hervor. Meine schwarze Radhose glitzert silbern im Licht. Salzkristalle. Nach fast einem Kilometer wird die Straße „flacher“: Sie hat jetzt nur noch rund 23 Steigungsprozente. Irgendwann kommen wir durch ein Dorf, das aus vier oder fünf Häusern besteht. Vor einem davon sitzt ein alter Mann mit Schiebermütze auf einer Bank, die Hände auf einen Stock gestützt.
Er sieht mich an, wie ich schwitze, schnaufe, leide, kämpfe. Ich sehe ihm für eine Sekunde in die Augen. Und sehe in seinem Blick zwei Ausdrücke: Verwunderung und Mitleid. Irgendwann kommen wir von der alten auf die neue Jenesier Straße. Erlösung. Sie führt nur mit rund sechs Prozent Steigung bergan. Doch schon bald geht es wieder links ab – auf die Straße des Leids. Sie ist schmal, sie ist verkehrsfrei, sie ist nie „flacher“ als 21 Prozent. Irgendwann, nach 16 Kilometern und 1300 Höhenmetern, hat es ein Ende. Wir sind auf dem Salten, einem Hochplateau, das das Etsch- mit dem Sarntal verbindet. Die Straße zieht sich, sie ist wellig und doch führt auch sie schließlich wieder bergab. In Richtung Meran.
Schleichwege bei Meran
Danach steht uns eine wellige Straße fast ohne Autos und ein kleines Gewitter bevor. Innerhalb von 60 Minuten fahren wir aus der brütenden Hitze des Tals in eine neblige Bergwelt – mit Sichtweiten von 30 Metern und 25 Grad weniger. Der Salten ist der vierte Pass des heutigen Tages. Vor Stunden sind wir in St. Kassian losgefahren – über das Grödner Joch, den Panider Sattel, den Ritten-Pass. Auch in Meran waren wir schon bei einer früheren Alpentour. Trotzdem finden wir nicht gleich den richtigen Weg aus der Stadt.
„Durch die Dolomitentäler quetschen sich Blechlawinen. Wir fahren einen Umweg: mehr Höhenmeter, mehr Natur, weniger Stress.“
Es dauert etwas, bis wir auf dem schmalen, kurvigen, aber extrem gut ausgebauten Radweg gen Westen sind. 25 Kilometer noch, dann sind wir am Hotel in Naturns. Duschen, Essen, viel, sehr viel, Schlafen. Dies war der dritte Tag unserer Tour: Der Salten, das Grödner Joch, der Panider Sattel und der Ritten. 165 Kilometer, mehr als 4200 Höhenmeter. Der nächste Morgen. Unsere Fahrt beginnt mit: Stau. Schon auf den ersten Metern werden wir bergab von LKWs ausgebremst. Es sind Ferien in Italien – was quasi automatisch bedeutet: Die Straßen sind voll.
Durch die Täler der Dolomiten schlängeln sich die Auto-Karawanen. Doch wir kennen Schleichwege. Wobei, um genau zu sein, sind es eher Umwege. Doch unser Motto ist: Lieber mehr Höhenmeter als weniger, lieber weniger motorisierten Verkehr als mehr. Nach wenigen Kilometern des Durch-den-Stau-Schlängelns biegen wir links ab. Und sind fast sofort allein auf einer Straße, die nicht nur schön leer ist. Sondern auch schön steil. Von Arabba aus lauten einige unserer vielen Stationen auf dem Weg: Ritten, Salten, Meran, Naturns.
Flach und schnell
Die vorletzte Etappe: von Naturns bis Zams in Osttirol. Über: Vinschgauer Höhenstraße, Reschenpass, Norbertshöhe – 130 Kilometer, 2500 Höhenmeter. Die Stationen: Schlanders, Tanas, Gschneir, Nauders, Martina. Diesmal lassen wir den Stelvio Stelvio sein – und biegen stattdessen auf die Vinschgauer Höhenstraße. Von Laas aus geht es auf rund acht Kilometern 700 Höhenmeter nach oben. Und dort wellig weiter.
Doch wir sehen kaum Autos, die Anstrengung lohnt sich. Es folgt die bekannte Route über den Reschenpass-Radweg. Die Etappe ist fast schon eine Art Entspannung für uns. Der letzte Abend unserer Tour. Durchgefroren kommen wir in unserem Hotel in Zams an. Jenem Hotel, in dem wir schon bei unserer letzten Alpentour übernachteten. Ein kurzer Tankstellenstopp nebenan für Zuckerwasser, Zuckerfruchtgummis und Zucker-Fett-Riegel. Eine lange Dusche, zwei Saunagänge und das obligatorische Einschlafen dazwischen. Eine zu kurze Nacht des absoluten Tiefschlafs. Der nächste Morgen, der Tag des Finales. Die Schlussetappe: Das letzte Mal umziehen, aufsteigen, losrollen.
Zurück in die Heimat
Der letzte Tag unserer Tour: die meisten Kilometer, mehr als 200, die wenigsten Höhenmeter, das mieseste Wetter. Das Ziel: München, das eigene Zuhause. Als wir in Zams losfahren, können wir den Regen schon riechen. Doch wir haben keine anderen Wahl: Wir müssen in die Richtung fahren, in der der Himmel schwarz wie ein Kohle-Brikett ist. Unsere Strategie: Das Ganze so schnell wie möglich hinter uns bringen. Die komplett flachen ersten 50 Kilometer verfliegen. Der Wind ist gnädig – und die Kälte verleitet uns dazu, konstant hohe Wattzahlen zu treten.
Durchschnittsgeschwindigkeit: 35,5. Dann geht es bergauf, der einzige Berg des Tages, der Buchener Sattel. Neun Kilometer, 650 Höhenmeter. Fast schon ein Hügel, relativ gesehen. Zumindest nach diesen vier Tagen, die bereits hinter uns liegen, nach diesen Alpenriesen. Er ist keine echte Herausforderung, er ist nicht herausragend schön. Doch er ist eher wenig befahren und die tausendmal angenehmere Alternative zu dem anderen, etwas kürzeren Weg Richtung Heimat: dem Fernpass. Der ist vor allem für seine ständigen Lawinen bekannt. Die aus Blech.
Geschichtenerzähler
Kurz nach dem Scheitelpunkt beginnt es: unser Unglück. Wir erleben eine Art Wintereinbruch. Der Regen kommt so plötzlich wie heftig. Die Temperatur fällt um fast zehn auf nur noch acht Grad. Wir stellen uns kurz unter und schauen uns an. Was tun? Freunde im Sinne von potenziellen Abholern anrufen? Den nächsten Bahnhof suchen? Die Diskussion dauert nur eine Minute. Dann tun wir, was Radfahrer eben so tun: Wir fahren weiter. Immer weiter. Nach einer Dreiviertelstunde lässt der extreme Regen nach. Langsam wird es wieder etwas wärmer. In Bad Tölz machen wir die letzte – sehr kurze – Pause unserer Tour: eine große noch heiße Leberkäsesemmel und ein ebenso großer und noch heißerer Kaffee.
Die letzten Kilometer verfliegen. Wir rasen durch Wolfratshausen. Vorbei an jenem Café, an dem wir vor fast genau einem Jahr am letzten Tag unserer damaligen Alpentour sicher eine Stunde lang in der Sonne saßen und Mega-Eisbecher aßen mit quattro Espressi dazu. Heute, jetzt in diesem Moment, haben wir nicht viel in unseren Köpfen: eine heiße Badewanne, eine warme Wohnung, eine heiße Schokolade, ein Bett. Erst in den nächsten Tagen werden wir realisieren, was wir diesmal alles erlebt haben. Im Laufe der Zeit wird das Erlebte zu Erfahrungen, dann zu Erinnerungen, dann zu Geschichten, die man sich selbst vor dem eigenen geistigen Auge oder anderen erzählen kann. In den nächsten Wochen, Monaten, Jahren. Geschichten fürs Leben.
Dieser Artikel erschien in der RennRad-Ausgabe 8/2018. Jetzt bestellen!