Am Ende herrschte Einigkeit
Vuelta 2023: Sepp Kuss gewinnt – Jumbo-Visma überstrahlt alle
in Race
Dieses Bild wird sich einprägen: Am Samstag fuhren Sepp Kuss, Jonas Vingegaard und Primoz Roglic Hand in Hand über den Zielstrich der 20. Etappe, knapp zehn Minuten hinter dem Etappensieger zwar, aber sie hatten den Vuelta-Sieg in der Tasche, mehr noch, sie haben mit ihrer überlegenen Fahrweise die Konkurrenz gnadenlos abgehängt und alle drei Podiumsplätze beansprucht und damit nach Giro und Vuelta ihren dritten Grand Tours-Sieg in einem Jahr gefeiert. Niemand war der Übermacht des niederländischen Rennstalls Jumbo-Visma in der Vuelta 2023 gewachsen, die in Madrid mit Kuss, Vingegaard und Roglic die Plätze eins bis drei belegten.
Das hatte es in der Geschichte der Spanien-Rundfahrt noch nie gegeben. Dazu holten sie fünf Etappensiege: Je zweimal setzten sich Tour-Sieger Jonas Vingegaard und Giro-Sieger Primoz Roglic durch, einmal Sepp Kuss, der in den beiden Grand Tours Edelhelfer war und großen Anteil am Triumph seiner Teamkollegen hatte. Gesetz der Serie wäre also jetzt Kuss dran gewesen, und nachdem der US-Amerikaner nach Etappe acht ins Rote Trikot stürmte, sah auch alles danach aus.
Angriff auf Sepp Kuss
Doch schon auf der 16. Etappe verringerte Vingegaard den Vorsprung seines Teamkollegen von fast eineinhalb Minuten auf nur noch 43 Sekunden, als er allen davonzog und zum Etappensieg stürmte.
Noch krasser wurde es auf der 17. Etappe, als Roglic gewann und zusammen mit Vingegaard den loyalen Edelhelfer Kuss am Anstieg hinauf zum Altu de L‘Angliru stehen ließ, so dass Kuss ausgerechnet an seinem 29. Geburtstag fast das Rote Leadertrikot verloren hätte. Nur noch acht Sekunden rettete er ins Ziel und lächelte trotzdem. Aber Geburtstagsgeschenke sehen anders aus. „Ich habe nur mein Tempo gefahren, jeder geht in so einem Anstieg so schnell wie er nur kann,“ versuchte der Giro-Sieger seine Fahrweise zu rechtfertigen.
„Das ist Sport, kein Märchen mit Happy End und klar soll der Beste gewinnen“, sagte Ex-Profi Jens Voigt, der die Vuelta drei Wochen lang bei Eurosport kommentierte. „Roglic hat den Giro d‘Italia dieses Jahr gewonnen, weil er in Kuss den loyalsten Helfer hatte. Auch Vingegaard hat dieses Jahr die Tour de France unter anderem nur deshalb gewonnen, weil er in Kuss den loyalsten Helfer hatte. Und jetzt wäre der perfekte Moment, etwas Loyalität zurückzugeben.“ Aber Roglic und Vingegaard stellten sich erst mal nicht in den Dienst ihres Teamkollegen und Jens Voigt wetterte: „Das ist menschlich nicht zu vertreten.“ Er riet dem US-Amerikaner sogar, über eine Vertragsauflösung nachzudenken.
Kuss, Roglic, Vingegaard: „Drei große Champions“
Auf den Social-Media-Kanälen hagelte es ebenfalls viel Kritik, die Sportdirektor Grischa Niermann konterte: „Kuss, Roglic und Vingegaard sind drei große Champions, wir träumen von einem Dreifachsieg in Madrid. Das Wichtigste ist, dass wir die Konkurrenz schlagen. Wir sind noch nicht am Ziel. Es ist noch lange kein Kampf nur zwischen drei Teamkollegen“, sagte der Hannoveraner und weiter: „Sie müssen für Kuss nicht bremsen. Damit ist auch er einverstanden. Jeder darf Rennen fahren, aber die Vereinbarung ist, dass wir keinen unserer eigenen Teamkollegen in eine weniger gute Situation bringen werden. Für mich ist es egal, wer in Madrid auf der obersten Stufe steht, solange es jemand aus unserem Team ist“, sagte Niermann.
Ob es vor der Vuelta eine interne Absprache gab, dass Jonas Vingegaard auf Gesamtsieg fahren soll, damit er – wie Roglic – zwei unterschiedliche Grand-Tours-Erfolge in seiner Vita hat, blieb Spekulation.
Und so fand ihre Fahrweise – trotz ihrer sportlichen Überlegenheit – politisch und menschlich kaum Unterstützung. Der Ungar Attila Valter suchte nach Erklärungen: „Bei uns hatten alle drei Fahrer die Freiheit auf Sieg zu fahren. Große Champions wie Primoz wissen zu kämpfen und wollen nie aufgeben. Das liegt in ihrem Naturell“, meinte der Jumbo-Visma-Profi.
Kritik an Loyalität
Ob es die harsche Kritik in der Öffentlichkeit war oder die Teamleitung letztlich doch eingriff, am Ende fügte sich alles zum Guten für den 29-jährigen Kuss. Am Tag nach der Bezwingung des Angliru rollte das Jumbo Visma-Trio fast Hans in Hand über den Zielstrich, knapp zehn Minuten hinter Etappensieger Remco Evenepoel und hielt sich auf der Sprintetappe Nummer 19 ebenso raus wie auf der letzten Bergetappe am Samstag. Da fuhren sie dann tatsächlich Einigkeit demonstrierend Hand in Hand über den Zielstrich, wieder mit mehr als zehn Minuten hinter dem Etappensieger. Kuss` Vorsprung im Gesamtklassement auf Teamkollege Vingegaard betrug 17 Sekunden, den behielt er auch am Schlusstag auf dem Weg nach Madrid und durfte sich als Sieger feiern lassen.
Seine beiden Teamkollegen machten, ob erzwungen oder echt, gute Miene bei der Siegerehrung. Immerhin war dem Trio historisches gelungen: Noch nie standen drei Fahrer einer Mannschaft bei der Vuelta auf dem Podium. Ob es Vingegaard und Roglic gefallen hat oder nicht, ihren Teamkollegen Kuss zu flankieren, er wird es ihnen im nächsten Jahr in den wichtigen Rennen danken, dessen dürfen sie sicher sein.
Für Jumbo Visma war der Triumph in der Vuelta der krönende Abschluss einer glorreichen Saison mit insgesamt 62 Siegen (bis zum Vuelta-Finale). Sie haben nicht nur Tour, Giro und Vuelta gewonnen, sondern auch das Critérium du Dauphiné, die Baskenland-Rundfahrt und Tirreno-Adriatico. Sie haben Eintagesrennen dominiert und Etappensiege gefeiert. Ihre Stärke ist das Team, die Leistungsdichte der Fahrer. Dass dabei mitunter auch Konflikte entstehen, zeigte sich in der Vuelta deutlich. Am Ende hat man sich aber besonnen und alles zum guten Ende geführt.
Versöhnlicher Ausgang
Auch für Remco Evenepoel endete diese Vuelta versöhnlich, obwohl es nach der Tourmalet-Etappe erst einmal nicht so aussah, denn er musste auf der 13. Etappe alle Hoffnungen auf eine erfolgreiche Titelverteidigung begraben. Mit mehr als 27 Minuten Rückstand, als 60., quälte er sich über den Gipfel des Tourmalet, jenem Berg, der schon für viele zum Schicksal wurde.
Der Däne und sein Team Jumbo Visma demonstrierten auf dem Weg hinauf zum berühmten Tourmalet eine Allianz der Stärke, die jeden Gegner in die Knie zwang. 30 Sekunden hinter dem Tour-Sieger fuhr Vuelta-Spitzenreiter Sepp Kuss vor Giro-Sieger Primoz Roglic über den Zielstrich. Alle drei Jumbo-Fahrer nahmen nach dieser 13. Etappe auch die ersten drei Plätze im Gesamtklassement ein: Kuss vor Roglic und Vingegaard. Lediglich der Spanier Juan Ayuso blieb auf Schlagdistanz zum Podium, aber auch nur bis zum Angliru. Danach hatte Jumbo Visma die Konkurrenz restlos abgehängt.
Schlechte Beine
Evenepoel konzentrierte sich ab da auf Etappensiege. Nur einen Tag nach dem Tourmalet brillierte der Belgier in Larra-Belagua und gewann auf die 18. Etappe mit satten 4:44 Minuten Vorsprung. „Ich hatte auf der Etappe zum Tourmalet einen schlechten Tag und womöglich die schlechtesten Beine meiner Karriere. Es bleibt nur, diesen Tag so schnell wie möglich zu vergessen. Heute hat es wieder großen Spaß gemacht so zu fahren,“ freute er sich über den dritten Etappenerfolg. Das Gesamtklassement war abgehakt.
in die Top-Ten fuhr sein junger Landsmann Cian Uijtdebroeks vom Team Bora-hansgrohe, der als die Entdeckung der Vuelta gesehen werden darf. Der erst 20-Jährige, im letzten Jahr Gesamtsieger der Tour de l`Avenir, gefiel in dieser Vuelta mit einer sehr offensiven Fahrweise.
Sein Teamkollege Lennard Kämna feierte den einzigen deutschen Etappensieg in der Spanien-Rundfahrt (siehe RadSport Nr. 31) und ist erst der siebte deutsche Fahrer, dem das Triple gelang, in allen drei Gand Tours eine Etappe zu gewinnen. Einen weiteren Triumph in Lekunberri am 15. Tag der Vuelta verpasste der 27-Jährige nur knapp und wurde am Samstag noch einmal Achter.
Die anderen deutschen Fahrer spielten in der Vuelta keine große Rolle. Bester im Gesamtklassement war Emanuel Buchmann als 20, dessen Hauptaufgabe es war, Kapitän Vlasov zu unterstützen.