Generationswechsel
Valverde, Nibali, Dumoulin, Gilbert – Karriereende von vier Radsport-Legenden
in Race
Vor 25 Jahren holte er seine erste Medaille: Er wurde spanischer Vize-Zeitfahrmeister der U19-Klasse. 2002 wurde er Rad-Profi. Und blieb es 20 Jahre lang. Viele sehen ihn als einen der ganz Großen des Radsports – andere, aufgrund seiner Vergangenheit, nicht. Schon in seiner zweiten Profi-Saison, 2003, wurde er Vize-Weltmeister im Straßenrennen – hinter seinem spanischen Landsmann Igor Astarloa. Und: Er gewann gleich zwei Etappen der Vuelta. Es waren die ersten von 18 Grand-Tour-Etappensiegen seiner langen, langen Karriere. 2009 gewann er die Vuelta-Gesamtwertung. Nun, nach der aktuellen Saison, ist seine Karriere vorbei. Auch in diesem Jahr holte Alejandro Valverde – mit 42 Jahren – noch Top-Resultate: Vierter der Route d‘Occitanie, Elfter des Giro, Dreizehnter der Vuelta, Zweiter des Flèche Wallonne und von Strade Bianche, Siebter von Lüttich-Bastogne-Lüttich, Zweiter der Coppa Agostoni, Dritter beim Tre Valli Varesine, Sieger des Gran Camino.
In jedem Jahr beenden etliche Rad-Profis ihre Karrieren – doch in diesem Jahr kommt es fast zu einer Art Zeitenwende. Gleich mehrere prägende Fahrer einer ganzen Generation treten ab. Eine neue Generation hat längst „die Macht“ übernommen – die Generation der Top-Talente um Tadej Pogačar, Remco Evenepoel, Juan Ayuso, Tom Pidcock und etliche andere. Sie werden zukünftig die Rennen prägen. So wie die Generation der Top-Fahrer vor ihnen. Eine Generation, die teils die großen Doping-Skandale des Radsports erlebt und überdauert hat – und teilweise darin verwickelt war.
Vier Große treten ab
Im Jahr 2022 traten vier Fahrer von der Bühne ab, die für die Radsport-Geschichte stehen: mit Philippe Gilbert und Alejandro Valverde zwei Weltmeister – und mit Vincenzo Nibali und Tom Dumoulin zwei Grand-Tour-Gewinner.
Es sind ganz unterschiedliche Rennfahrertypen, die 2022 ihre letzten Rennen bestritten.
Die Karriere von Philippe Gilbert
Der Belgier Philippe Gilbert war über Jahre hinweg einer der erfolgreichsten Klassiker-Fahrer überhaupt: Bis auf Mailand-Sanremo hat der inzwischen 40-Jährige alle Monumente des Radsports gewonnen, die Lombardei-Rundfahrt sogar zweimal, 2009 und 2010. Zu den Höhepunkten seiner Laufbahn zählen auch der Gewinn von Paris-Roubaix 2019, der Flandern-Rundfahrt 2017 und von Lüttich-Bastogne-Lüttich 2011. „Das war aus meiner Sicht der größte Erfolg meiner Laufbahn“, sagt er. „Es war magisch, als Kind dieser Region La Doyenne zu gewinnen.“ Aber natürlich war auch der Erfolg bei der Ronde etwas Besonderes. „Ein Wallone, der in Flandern gewinnt, das ist etwas Unglaubliches“, sagte Gilbert im Ziel.
2012 holte er sich – in Valkenburg, nicht weit von seiner Heimat, am berühmten Cauberg – das gestreifte Trikot des Straßen-Weltmeisters. Der Cauberg, dies ist sein Revier. Die Daten des Anstiegs: 1,2 Kilometer, 66 Höhenmeter. Viermal gewann er das Amstel Gold Race an fast gleicher Stelle. Nun freut er sich darauf, im kommenden Jahr als Zuschauer am Streckenrand zu stehen. Konkrete Pläne für sein Leben nach dem Profi-Radsport hat er noch nicht verkündet.
Die Laufbahn von Tom Dumoulin
Genauso wenig wie der Niederländer Tom Dumoulin, der bereits im August für viele überraschend seine Laufbahn beendete. Es war ein Abschied auf Raten, denn schon im Januar 2021 hatte er eine Pause eingelegt – und das erste Trainingslager der neuen Saison verlassen, da er sich ausgebrannt fühlte. „Mir wurde der Druck zu viel, der auf mir lastete, man erwartete zu viel von mir“, begründete er den Schritt.
Im Sommer 2021 kehrte er zurück, nahm an der Tour de Suisse teil und wurde in Tokio Olympia-Zweiter im Einzelzeitfahren hinter Primož Roglič. Trotz dieser Silbermedaille nahm die Karriere des Niederländers nie wieder richtig Fahrt auf: Am 30. Juli startete er noch einmal bei der Clásica San Sebastián, stieg vorzeitig vom Rad und verkündete anschließend endgültig sein Karriereende. Seine beste Saison hatte der heute 32-Jährige 2017, als er im Mai den Giro d’Italia vor Nairo Quintana und Vincenzo Nibali gewann und wenige Monate später in Bergen, Norwegen, Doppel-Weltmeister wurde: Im Teamzeitfahren und im Einzelzeitfahren, bei dem er nach der flachen Passage spektakulär am Anstieg zum Berg Fløyen seine Zeitfahrmaschine gegen ein normales Rennrad tauschte.
Karriereende von Vincenzo Nibali
Mit Vincenzo Nibali tritt ein anderer Grand-Tour-Gewinner ab. Der Italiener, den sie den „Hai von Messina“ nannten, blickte auf 18 Profijahre zurück, als er bei der Lombardei-Rundfahrt als Achtzehnter über den Zielstrich fuhr. Ein dritter Triumph im Rennen der fallenden Blätter, das er zweimal, 2015 und 2017 gewann, war ihm nicht vergönnt. Den Siegerpokal von Mailand-Sanremo nahm er 2018 entgegen. Im Verlauf von elf Starts gewann er bei seiner Heimatrundfahrt, dem Giro d’Italia, sieben Etappen. Dazu sechs bei der Tour de France. Er ist einer von sieben Fahrern, denen es gelang, alle drei Grand Tours zu gewinnen. Die anderen sind: Felice Gimondi, Jaques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault, Alberto Contador und Chris Froome.
2010 feierte er den Gesamtsieg bei der Vuelta a España, drei Jahre später jubelte er über seinen ersten Erfolg beim Giro d’Italia, dem er 2016 den zweiten folgen ließ. Dazwischen kam es 2014 zu seinem Sieg bei der Tour de France. Immer, wenn es wichtig war, wenn es um die großen Siege ging, galt: Vincenzo Nibali ist da – und in absoluter Top-Form.
Den Zeitpunkt der Verkündung seines Abschieds vom aktiven Sport hat er sehr bewusst gewählt. Er tat es im Mai nach der fünften Etappe des Giro d’Italia, die in seiner Heimatstadt Messina auf Sizilien endete. „In meiner Stadt, in der Umgebung, in der ich aufgewachsen bin und mit dem Rennradfahren angefangen habe. Auf den Straßen, auf denen ich trainiert habe, möchte ich verkünden, dass dies mein letzter Giro d’Italia ist“, sagte er mit Tränen in den Augen. Am Ende fuhr er auf Rang vier.
Im letzten Jahr seiner Karriere konnte er nicht mehr ganz die Erfolge feiern, die er sich zum Saisonbeginn noch gewünscht hatte, aber der inzwischen 38-Jährige musste niemandem mehr etwas beweisen. Zu groß ist seine Erfolgsbilanz.
Alejandro Valverde verlässt das Profi-Peloton
Neben Nibali verlässt noch ein anderer „Patron“ das Profi-Peloton: Alejandro Valverde. Keiner hat mehr Grand Tours bestritten als der Mann aus Murcia. 32-mal ist er bei der Tour, dem Giro und der Vuelta gestartet – 26-mal kam er ins Ziel, 20-mal fuhr er in die Top Ten: ein Rekord-Wert. Allein siebenmal stand er bei Weltmeisterschaften auf dem Podium – 2018 in Innsbruck endlich ganz oben, als Weltmeister. Sein Lieblingsrennen: La Flèche Wallonne, jener belgische Klassiker, an dessen Schlussanstieg schon so viele große Namen gescheitert sind. Die Daten der legendären „Mauer von Huy“: 1,4 Kilometer, 129 Höhenmeter, 9,2 Prozent Steigung. Jahrelang war er, der Puncheur, hier quasi unschlagbar. Er siegte hier fünfmal – das erste Mal 2006, das letzte Mal 2017.
Die dunkle Seite seiner langen Karriere: Wegen seiner Verstrickung in die Puerto-Dopingaffäre wurde er 2010 und 2011 gesperrt. Was für viele das Karriereende bedeutet hätte, war für ihn nur eine Unterbrechung: Mit einem Etappensieg bei der Tour de France 2012 meldete er sich zurück und fuhr danach noch weitere zehn Jahre auf Weltniveau. Geläutert? Die große Leidenschaft für den Radsport nannte Valverde einmal als das Geheimnis seines Erfolges. „Man muss immer hart an seiner Form und Ausdauer arbeiten und darf nie die Leidenschaft verlieren.“
Die vier Radsport-Legenden im Vergleich
Tom Dumoulin | Philippe Gilbert | Vincenzo Nibali | Alejandro Valverde | |
Geburtsjahr | 1990 | 1982 | 1984 | 1980 |
Profijahre | 11 | 21 | 18 | 21 |
Siege | 22 | 80 | 52 | 133 |
Grand-Tour-Teilnahmen | 14 | 25 | 27 | 32 |
Grand-Tour-Gesamtsiege | 1 | 0 | 4 | 1 |
Grand-Tour-Etappensiege | 9 | 11 | 15 | 17 |
WM-Titel | 2 | 1 | 0 | 1 |
Monument-Siege | 0 | 5 | 3 | 4 |
Dieser Artikel erschien in der RennRad 1-2/2023. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.