Trans-Sibirien-Express
Red Bull Trans-Siberian Extreme: Extrem-Radsportler Pierre Bischoff im Porträt
in Race
Die Straße ist nicht nur so gerade, als wäre sie mit dem Lineal geplant worden, sie wurde es auch – er blickt nach vorne und sieht sie als schmalen dunklen Strich vor sich am Horizont verschwinden. Pierre Bischoff fährt seit sieben Stunden auf dieser Straße. Immer geradeaus. Immer schnell.
Dies ist erst der Anfang. Der Anfang der Königsetappe des wohl längsten Radrennens der Welt: der Red Bull Trans-Siberian Extreme. Die Zahlen dieser Etappe: 1368 Kilometer, 12.260 Höhenmeter. Die Strecke führt durch den Südosten Russlands, von Chita nach Svobodny am Amur. Pierre Bischoff liegt in Führung.
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Pierre Bischoff: Dem Alltag entfliehen
Er fährt alleine vor sich hin. Vom Start weg: Einsamkeit. Doch das ist, was er will. Die Zeit und den Raum für sich selbst, den Abstand zum Alltag. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits mehr als 6000 Kilometer in den Beinen. Er fährt diese drittletzte Etappe im Stile eines Einzelzeitfahrers. Sein Blick ruht auf dem Asphalt vor ihm. Die Landschaft, die neben ihm vorbeizieht, bietet nichts, an dem der Blick haften könnte. Wälder, Wälder, Wälder, einige Felder, kleine Dörfer und alle 100 Kilometer ein riesiges Logistikzentrum der Transsibirischen Eisenbahn am Straßenrand.
Pierre Bischoff fährt wie auf Schienen. Als er nach 240 Kilometern die erste Verpflegungsstation ansteuern will, ist diese noch nicht aufgebaut. Er ist zu schnell. Zu schnell für den Zeitplan. Zu schnell für seine Konkurrenten. Dabei zeigt sein Pulsmesser maximal 146 Herzschläge pro Minute. Seine durchschnittliche Herzfrequenz während der kompletten 1368 Kilometer: 109. Die verbrannten Kilokalorien nach 49:46:35 Stunden im Ziel: 18.500. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit – Schlaf- und Verpflegungspausen eingerechnet: 27,6 Kilometer pro Stunde. Sein Vorsprung auf den Zweitplatzierten dieser Etappe: mehr als vier Stunden.
Sieger beim Race Across America und Trans-Siberian Extreme
Pierre Bischoff hat 2016 als bislang einziger Deutscher das legendäre 4900 Kilometer lange Race Across America gewonnen. 2017 wurde er Ultra-Cycling-Weltmeister. Er sagt von sich selbst: „Ich bin nicht extrem.“ Dabei zählt er zu den besten Extrem-Radsportlern der Welt. Sein Sieg beim Trans-Siberian Extreme 2018 bestätigt dies.
Das Rennen ist dreimal länger als die Tour de France und fast doppelt so lang wie das Race Across America. Es führt quer durch einen weiten Teil des unendlichen Russland. Von Moskau nach Wladiwostok, von West nach Ost, von Europa an den Pazifischen Ozean. 9100 Kilometer durch Nässe, Hitze, Staub und Sonnenschein. Radkilometer, die sich ins Gedächtnis brennen.
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Pierre Bischoff vs Vladimir Gusev: Ein ungleiches Duell
Momente, die man so im normalen Alltag nicht erleben kann. Pierre Bischoff ist ein Momente-Sammler. Einer, der das Unmögliche sucht, um es möglich zu machen. Wie tickt ein erfolgreicher Extrem-Radsportler? Wie motiviert und ernährt er sich während eines Langstreckenrennens? Für RennRad gewährt Bischoff exklusive Einblicke in sein Rennrad-Abenteuer durch Russland.
Ultraradsportler legen extreme Strecken zurück. Ihre Geschwindigkeiten sind dabei deutlich niedriger als die von Tour-de-France-Profis. Das Trans-Siberian Extreme 2018 war auch ein Aufeinandertreffen dieser zwei Welten: Pierre Bischoff gegen Vladimir Gusev. Der 36-jährige Russe verdiente viele Jahre lang als Radprofi sein Geld. Er fuhr unter anderem für die Teams Discovery Channel, CSC und Astana.
Während der 7. Etappe des Trans-Siberian Extreme kommt es zum Showdown. Gusev und Bischoff lösen sich früh von den restlichen Teilnehmern. Beide eint ihr Siegeswille und ihre extreme physische Stärke. Beide attackieren sich wechselseitig während der 619 Kilometer langen Etappe durch die russische Nacht.
Bis sie irgendwo auf den Straßen Sibiriens, zwischen Omsk und Novosibirsk, nebeneinander fahren, weil keiner die Führungsarbeit übernehmen will. Aus dem Nichts kommt es zum Wortgefecht. Gusev brüllt Bischoff auf Englisch an: „Glaubst du wirklich, dass du der Bessere bist?“ Bischoff antwortet mit einem sehr schnellen, knappen und deutlichen: „Ja.“ Er landet mit diesem einzigen Wort einen Wirkungstreffer.
Gusev überzieht, Bischoff trimuphiert
Zwar kann sich der Russe kurzzeitig von dem Deutschen lösen und ihm davonfahren. Doch wenig später holt Bischoff seinen Konkurrenten wieder ein. Er sagt: „Gusev ist in meine Falle getappt. Er hat in seinem Rennfahrerstil mit den vielen Attacken einfach überzogen. Aber das hier ist kein Straßenrennen. Das hier ist Extrem-Radsport. Und der findet vor allem im Kopf und im Grundlagenausdauerbereich statt.“ Gusev bricht ein. Bischoff gewinnt die Etappe.
Seine Durchschnittsgeschwindigkeit für die 619 Kilometer – Essens- und Schlafpausen eingerechnet: 32,3 Kilometer pro Stunde. Hinter Vladimir Gusevs Namen stehen im Klassement drei unheilvolle Buchstaben: DNF. Did not finish. Wegen Knieschmerzen erreicht der Russe das Ziel in Novosibirsk nicht. Zwar darf er am nächsten Tag wieder an den Start gehen. Doch der Gesamtsieg ist dahin.
„Das hier ist kein Straßenrennen. Das hier ist Extrem-Radsport.“
Trans-Siberian Extreme: 20.000 Euro für einen Startplatz
Der Erfolg im Ultra-Radsport setzt sich aus den Komponenten Psyche, Physis und Team zusammen. Alle drei Komponenten haben den gleichen prozentualen Anteil am Gesamterfolg, sagt Pierre Bischoff: „Alle drei müssen stimmen. Ohne ein funktionierendes Team bist du völlig machtlos.“
Beim Red Bull Trans-Siberian Extreme wird jedem Teilnehmer eine VW Caravelle mit zwei Chauffeuren als Begleitauto gestellt. Sechs Ärzte und Physiotherapeuten, drei Radmechaniker, die Jurymitglieder sowie ein siebenköpfiges Catering-Team begleiten die Sportler während der 9100 Kilometer durch Russland. Das hat seinen Preis: Ein Startplatz kostet 20.000 Euro. Anders als das Race Across America wird nicht nonstop, sondern in Etappen gefahren. Die kürzeste Etappe war in diesem Jahr 260 Kilometer lang. Die Distanz der längsten Etappe betrug 1368 Kilometer.
Ernährung beim Extrem-Radsport: 100 Riegel auf 750 Kilometern
Die Ernährung ist ein leistungsbestimmender Faktor im Extrem-Radsport. Pierre Bischoff setzte auch dabei auf unkonventionelle Methoden. Eine davon beinhaltete Schokolade, Zucker, Kokosflocken und Fett. In komprimierter Form finden sich diese vier Zutaten in Bounty-Schoko-Riegeln. Allein während der 750 Kilometer langen Schlussetappe vertilgte er 100 dieser Riegel.
Dabei hat der gebürtige Duisburger vor seiner Radsport-Karriere eigentlich Food-Management studiert. „Wissenschaft ist Wissenschaft. Aber jeder Körper reagiert anders“, sagt er. „Irgendwann muss man nur noch leere Kalorien reinhauen.“ Zum Frühstück vor dem Etappenstart nimmt er Unmengen von Porridge zu sich. Seine Essensaufnahme während der Etappen richtet sich nach den Daten auf seinem GPS-Computer – aber auch nach dem Gefühl.
„Irgendwann muss man nur noch leere Kalorien reinhauen.“
Im Durchschnitt alle 100 Kilometer stoppt er, um eine Portion Porridge zu essen. Alle 150 Kilometer bekommt er aus seinem Begleitauto einen Eiweißshake gereicht. Alle zwölf Stunden nimmt er Vitamintabletten und Magnesium für die Immunabwehr zu sich. Dazwischen gibt es an den Verpflegungsstationen Nudeln, isotonische Getränke und Cola. Oder eben Bounty-Riegel. Normalerweise verliert man während einer Dauerbelastung wie dem Trans-Siberian Extreme fünf bis sieben Kilogramm Körpergewicht. Pierre Bischoff gelingt es auf dem Weg von Moskau nach Wladiwostok sein Gewicht annähernd zu halten.
Power-Nap während der Etappe
Wer solch enorme Strecken fährt, der muss dabei über einen bestimmten Zeitraum hinweg auch mit einem Schlafdefizit umgehen können. „Schlafentzug kann man nicht trainieren“, sagt Bischoff. Aber er kennt Tricks, die es ihm ermöglichen, die Schlafzeit während eines Ultracycling-Events so kurz wie möglich zu halten. „Kaugummi-Kauen hilft. Dann hat der Körper etwas zu tun.“
Eine andere erfolgsversprechende Variante ist es, vor den wichtigen Wettkämpfen bewusst auf Koffein zu verzichten. Die Wirkung von Koffein sei dann während der Belastung intensiver. Während der Königsetappe von Chita nach Svobodny legte er alle vier Stunden einen jeweils 15-minütigen Power-Nap ein. Seine Standzeit während der knapp 50-stündigen Belastung reduzierte er dadurch auf etwa vier Stunden – mit Abstand die geringste Standdauer aller Teilnehmer.
Training als Extrem-Radsportler: Ski und Mountainbike als Alternative
Muss man als Extrem-Radsportler auch extrem viel trainieren? Pierre Bischoff lebt nicht vom Extrem-Radsport. Acht von zwölf Monaten eines Jahres arbeitet er als Chefkellner in einem Hotel in Nauders am Reschenpass. „Ich bin ein ambitionierter Hobby-Radsportler mit Sechs-Tage-Woche. Während meiner Arbeitszeit laufe ich zehn bis fünfzehn Kilometer am Tag.“ Seine Rad-Jahreskilometer liegen „nur“ zwischen 19.000 und 22.000.
Von Dezember bis Mitte März trainiert er überhaupt nicht auf dem Rad, sondern auf Skiern. Seine Wahlheimat Nauders liegt auf 1300 Metern über dem Meer und macht dies möglich. Die zehn bis fünfzehn Stunden Training pro Woche spult er auf Tourenskiern oder auf dem Mountainbike ab. Dabei nutzt er eine Vereinbarung mit seinem Arbeitgeber: „Zwischen 12 und 15 Uhr habe ich frei. Im Winter gehe ich in der Zeit meist auf Skitouren: immer mit 1000 bis 1300 Höhenmetern.“
Einen echten Trainingsplan hat er in dieser Jahreszeit nicht. Die einzige Konstante: ein Ruhetag pro Woche. Gefühl und jahrelange Erfahrung prägen sein Wintertraining. Erst ab Mitte März sitzt er wieder auf dem Rennrad oder dem Zeitfahrrad. Als Radguide auf Mallorca holte er sich 2018 die vielen Grundlagenkilometer, die er für sein Sibirien-Abenteuer benötigte. Einen Wattmesser benutzt er zwar – doch in Russland versagte dieser schon während der regenreichen Auftaktetappe nach 50 Kilometern.
Von Sibirien auf dem Rad nach Tirol
Das Rennen durch Sibirien ist nur ein Teil von Pierre Bischoffs Russland-Abenteuer. Der lange Epilog folgt danach: „Das Rennen war nur zum Aufwärmen, um im Anschluss von Sibirien aus mit dem Rad nach Hause zu fahren.“ 15.000 Kilometer wird diese Rückreise lang sein. Bis Anfang Dezember soll sie dauern. Durch Kirgisistan, Usbekistan, Ukraine, Rumänien, Mazedonien, Sarajevo, Kroatien, Italien und zurück nach Nauders.
„Das Rennen war nur zum Aufwärmen.“
„Ich plane, täglich etwa 200 Kilometer zu fahren und dann bei Menschen vor Ort in deren Garagen oder Gartenhütten zu übernachten. Alle sieben Tage gönne ich mir einen Ruhetag in einem schönen Hotel.“ Im Hotel „Mein Almhof“ in Nauders verbringt Bischoff danach den Winter. Seinen Gästen wird er einiges erzählen können. Vom Red Bull Trans-Siberian Extreme und seiner Radreise im Anschluss. Von Einsamkeit. Und 24.000 Kilometern auf dem Rennrad.
Fünf Fakten zum Trans-Siberian Extreme
1.Die Fakten: 15 Etappen in 25 Tagen. Das Rennen führt vom Bolschoi-Theater in Moskau zum Opernhaus in Wladiwostok. 2018 wies es eine Streckenlänge von 9105 Kilometern auf. Die Zahl der Gesamthöhenmeter: 77.000. Das Reglement sieht unter anderem vor, dass die Teilnehmer zwei Etappen vorzeitig unter Einberechnung von Strafzeiten im zweiten Klassement, der sogenannten „Minor Classification“, beenden dürfen.
2. Pierre Bischoff benötigte für seinen Sieg 315 Stunden, 45 Minuten und 26 Sekunden. Zweiter wurde der Däne Michael Knudsen mit einem Rückstand von 18 Stunden. Der drittplatzierte Brasilianer Marcelo Florentino hatte einen Rückstand von 31 Stunden. Erstmals konnten 2018 gleich vier von sechs Startern alle 15 Etappen und 9105 Gesamtkilometer komplett abschließen.
3. Die Königsetappe 2018 war 1365 Kilometer lang. Die Distanz der kürzesten Etappe betrug 260 Kilometer. Etappenorte waren: Nizhny Novgorod, Kazan, Perm, Ekaterinburg, Omsk, Novosibirsk, Tomsk, Irkutsk, Ulan-Ude, Chita, Svobodny, Khabarovsk und Wladiwostok.
4. In den 16 Städten von Moskau bis Wladiwostok sind die Fahrer und ihre Betreuer in Hotels untergebracht. Während der Etappen findet sich alle 240 Kilometer ein Verpflegungs-Stopp mit einem Küchen-LKW und warmen Mahlzeiten, um die Athleten und alle Betreuer zu versorgen.
5. Das Red Bull Trans-Siberian Extreme gilt als „härteste Geographie-Lehrstunde der Welt“. Die Teilnehmer bewegen sich durch fünf unterschiedliche Klimazonen, durchkreuzen acht Zeitzonen, kämpfen sich über das Ural-Gebirge und überqueren vier der längsten Flüsse der Welt. Die Strecke führt am Baikalsee vorbei, entlang der Grenzen zu Kasachstan, zur Mongolei und zu China.