8x Weltmeister
Tony Martin beendet Karriere: Titel, Verletzungen, Erfolge
in Race
Sie fahren zu dritt – mit 60 km/h. Alle tragen weiß-schwarze Zeitfahranzüge. Die Zeitfahrmaschine des Fahrers vorne ist schwarz, die Gabel rot und gold. Dies ist sein letztes Rennen als Radprofi – es wird eines, das symbolisch für ihn und seine Karriere steht. Er fährt so, wie man ihn kennt: lange im Wind, extrem kraftvoll, nicht nachlassend. Er fährt wie ein „Panzerwagen“. Dies ist seit Jahren sein Spitzname in der Welt des Profiradsports. Oder auch: „Tony the Tank“, Tony der Panzer. Es ist die Disziplin, die am „ehrlichsten“ ist, die am klarsten mit der reinen Leistung, der reinen Stärke korreliert: Zeitfahren. Tony Martin fährt sein letztes Rennen für das deutsche Nationalteam – und er gewinnt. Zusammen mit Max Walscheid und Nikias Arndt absolviert er 22,5 Kilometer in 24:38 Minuten. Die Durchschnittsgeschwindigkeit: 54,8 km/h. Die drei deutschen Starterinnen – Lisa Brennauer, Lisa Klein und Mieke Kröger – fahren ihre 22 Kilometer mit einem Durchschnittsspeed von 50,38 km/h.
Dies ist wohl der perfekte Abschied. Es ist das märchenhafte Ende einer großen Karriere nach 14 Profi-Jahren. Hier, in Brügge in Belgien, in einem „Mutterland“ des Radsports gewinnt Tony Martin seinen achten Weltmeister-Titel. Diesmal im Mixed-Zeitfahren. Vier Mal war er Weltmeister im Einzelzeitfahren, drei Mal holte er Gold im Team-Relay. 2012 gewann er die olympische Silbermedaille.
Tony Martin: Triumphe und Enttäuschungen
Die Tour de France bestritt er 13 Mal. Er trug das Weiße und das Gelbe Trikot, gewann fünf Etappen – und musste fünf Mal vorzeitig nach Stürzen und Verletzungen aufgeben. „Mit der Tour verbindet mich eine Art Hassliebe“, sagt er. „Einerseits habe ich dort sehr große Triumphe gefeiert. Aber andererseits habe ich dort auch große Niederlagen und Enttäuschungen erlebt.“
So gewann er etwa 2015 die vierte Etappe und übernahm die Gesamtführung. Doch nur zwei Tage nach diesem großen Triumph in Cambrai stürzte er in der Zielanfahrt nach Le Havre und brach sich das Schlüsselbein. Seine Teamkollegen warteten auf ihn und schoben ihn über die Ziellinie. Dies war das Ende seiner Tour in diesem Jahr.
Wandlungen und Entwicklungen
Tony Martin durchging viele Wandlungen und Entwicklungen im Laufe seiner langen Karriere. Die Konstante dabei – seine dauerhafte Stärke lautet: Zeitfahren. Er galt einst als potenzieller Grand-Tour-Fahrer, als Einwochen-Rundfahrten-Spezialist, als kommender Klassikerfahrer, als Etappenjäger aus Ausreißergruppen heraus.
Während der vergangenen drei Jahre war seine Rolle eine andere: die eines Capitaine du Route, eines Road Captains, eines „Edelhelfers“ im Team Jumbo-Visma. Er hatte dort noch einen Vertrag bis Ende 2022. Deshalb kam die Nachricht seines Karriereendes für viele überraschend. Im September verkündete er, dass das Einzel- und Team-Zeitfahren der WM von Flandern seine letzten Rennen sein werden. Ein Hauptgrund dafür: mangelnde Sicherheit. „Die schweren Stürze dieser Saison haben mich nachdenklich gemacht, ob ich mich diesen Risiken weiterhin aussetzen möchte. Ich habe mich dagegen entschieden. Vor allem, da sich die Sicherheit der Fahrer trotz vieler Diskussionen über Absperrungen und Streckenführung nicht verbessert hat. Daher will ich fair sein zu mir selbst, meiner Familie und allen meinen Kollegen und meine Karriere beenden.“
Einer der Alphawölfe des Profi-Pelotons
Tony Martin sprach diese Missstände seit Jahren an. Er war dabei stets lösungsorientiert, nie destruktiv. Er galt als einer der Sprecher, einer der „Alphawölfe“ des Profi-Pelotons.
Legendär wurde bereits eine Szene während der ersten Etappe der Tour de France 2020: Tony Martin fährt auf regennassen, rutschigen Straßen um Nizza an der Spitze des Feldes, lässt den Lenker los, richtet sich auf und signalisiert mit beiden Armen allen Fahrern dahinter, dass sie langsam fahren sollen. Und so geschah es. „Der Weltradsportverband UCI hat in den vergangenen Jahren wenig bis gar nichts für mehr Sicherheit im Fahrerfeld getan. Die Beschlüsse im letzten Frühjahr, das war nichts weiter als blinder Aktionismus“, sagt er. Dies habe ihn zermürbt und schließlich zu der Entscheidung beigetragen, seine Karriere zu beenden.
Tony Martin: „Weltmeister der Schmerzen“
Schon 2012 überschrieb der Spiegel einen Artikel über ihn mit: „Weltmeister der Schmerzen“. In jenem Jahr hatte ihn eine Frau während einer Trainingsfahrt mit dem Auto angefahren.
Tony Martin brach sich das Jochbein, den Kiefer und die Augenhöhle und zog sich ein Riss im Schulterblatt zu. Nach dem Unfall war er 15 Minuten ohne Bewusstsein. Tony Martin galt als eine der Stimmen der Vernunft im Peloton. In seiner Spezialdisziplin, dem Einzelzeitfahren, prägte er ein ganzes Jahrzehnt. 2011 gewann er in Kopenhagen seine erste WM-Goldmedaille. „Diesen Erfolg sehe ich noch heute als den schönsten meiner Karriere.“ 2021 – fast auf den Tag genau zehn Jahre später – gewann er nun sein achtes WM-Gold mit der Mixed-Staffel. „Das ist der beste Abschluss, den man sich wünschen kann. Die Radsportbühne mit einer Gold-Medaille zu verlassen, das ist ein Traum. Besser konnte ich es mir nicht vorstellen. Und ich danke dem ganzen Team, besonders den Frauen, die das möglich machten. Ich bin extrem dankbar für diese Momente. Wir haben auf Gold gehofft und jetzt ist der Traum wahr geworden.“
Mieke Kröger, die wie auch Lisa Brennauer und Lisa Klein in diesem Jahr bereits im Bahn-Vierer Olympia-Gold gewann, war bereits bei der WM vor zehn Jahren in Kopenhagen dabei. Damals noch als Juniorin. „Wir wussten, dass es nicht einfach wird, aber Tony hat noch einmal einen besonderen Schwung reingebracht“, sagt sie. Als Tony Martin an diesem Tag nach etlichen Interviews das Pressezentrum in Brügge verließ, erhoben sich die anwesenden Journalisten von ihren Plätzen und ehrten ihn mit minutenlangen Standing Ovations. Dies war eine sinnbildliche Situation für den großen Respekt, den er genießt. Er hat ihn sich erarbeitet.
Klassiker, Rundfahrten und Zeitfahren
Tony Martin wurde in Cottbus geboren, in der DDR. 1989 gelang seiner Familie die Flucht nach Eschborn. „Anfangs wollte ich wie so viele Fußballer werden. Ich spielte in der Abwehr aggressiv und lief viel, aber irgendwann war klar, dass das Talent nicht ausreicht, um Profi zu werden. Da mein Vater früher Radrennen fuhr, kamen wir auf die Idee, es mal mit dem Radrennenfahren zu probieren. Damals war ich 15.“
Seine ersten Rennen absolvierte er für den traditionsreichen Verein RV Henninger Sossenheim. Als 16-Jähriger zog er wieder gen Osten – in die Sportschule von Erfurt. Dort, in Thüringen, begann seine richtige Radsportkarriere. Nach dem Abitur begann er seine Ausbildung zum Polizeimeister. Beim Thüringer-Energie-Team entwickelte er sich sportlich enorm weiter. 2003 gewann er seinen ersten deutschen Meistertitel im Einzelzeitfahren der Junioren. Bei seinem ersten WM-Einsatz in Hamilton, Kanada, fuhr er im Zeitfahren der Junioren auf Rang acht.
Das erste Zeichen seines Talentes
Das erste riesige Zeichen seines Talentes zeigte er 2005 als 20-Jähriger: Er gewann als Stagiaire des Teams Gerolsteiner das Bergzeitfahren der Rothaus Regio Tour auf den Kandel – gegen etliche Top-Profis. 2006 gewann er die Internationale Thüringen Rundfahrt, 2007 wurde er zweiter der berühmten Tour de l`Avenir, der „Tour de France“ der Kategorie U23. 2008 wurde er Profi im Team Columbia. Nur ein Jahr später beendete er die Tour de Suisse auf dem zweiten Gesamtrang und trug anschließend zwölf Tage das Trikot des besten Jungprofis der Tour de France, wo er die Königsetappe zum Mont Ventoux als Zweiter hinter Juan Manuel Gárate beendete.
Bei der Weltmeisterschaft gewann er seine erste Medaille im Einzelzeitfahren: Bronze. Noch einmal Bronze gab es 2010 in Australien. Was folgte, waren Goldmedaillen: 2011, 2012, 2013 und 2016 wurde er Zeitfahr-Weltmeister. 2014 in Ponferrada holte er Silber. 2012, 2013 und 2016 holte er zudem mit seinen Mannschaftskollegen je WM-Gold im Teamzeitfahren. 2011 gewann er – als erst dritter deutscher Profi überhaupt – die Gesamtwertung von Paris-Nizza. Danach begann die Diskussion. Deren Grundfrage: Kann Tony Martin ein Grand-Tour-Fahrer, ergo ein Tour-de-France-Sieger, werden? 2016 versuchte Martin eine andere „Transformation“: jene zu einem Klassikerfahrer. Im Fokus: die Kopfstein-Monumente. Was man dafür braucht: einen „großen Motor“ – das, was ihn auszeichnet. Doch bei den großen Rennen wie Paris-Roubaix und der Flandern-Rundfahrt konnte er im Finale nie eingreifen. Die Kapitäne seines Teams waren meist andere und er stellte sich in den Dienst der Mannschaft.
Tony Martin bei der Tour de France 2021
Nach Stationen bei den Teams Columbia, Quick Step und Katusha wechselte er 2019 zum niederländischen Rennstall Jumbo-Visma – und damit auch einmal mehr seine Rolle. Er wurde zum „verlängerten Arm“ der sportlichen Leiter und arbeitete primär für den Kapitän Primož Roglič. „Auf eigene Rechnung“ fuhr er nur noch extrem selten.
Die Tour de France 2021 war für ihn nach der elften Etappe vorbei. Schon am ersten Tag war er in einen durch eine Zuschauerin ausgelösten Massensturz verwickelt. Nun ist alles anders. Ein langes, intensives Kapitel seines Lebens ist abgeschlossen. Ein neues beginnt. Die Familie hat jetzt Vorrang. Das hektische Leben, das lange Getrenntsein, die vielen Reisen, das alles wird es nicht mehr geben. „Mein Schutzengel hat jahrelang gut gearbeitet. Mein Glück hatten einige andere nicht. Dieses Glück möchte ich nicht überreizen. Ich werde mich zukünftig in Eliteschulen des Sports in meinem Wohnort Kreuzlingen engagieren. Ich denke, das ist das Richtige für mich, denn ich wollte schon immer gern mit Kindern arbeiten.“
Dieser Artikel erschien in der RennRad 1-2/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Tony Martin im Steckbrief
Geboren | 23. April 1985 in Cottbus |
Größe | 1,85 Meter |
Gewicht | 74 kg |
Wohnort | Kreuzlingen/Schweiz |
Familienstand | Lebensgefährtin Nina, 2 Töchter |
Teams | Thüringer Energie Team (bis 2007); Columbia Highroad (2008-2011); Quick Step (2012-2016); Katusha (2017-2018); Jumbo-Visma (2019-2021) |
Verletzungen
Jahr | Rennen | Verletzung |
2021 | Tour de France | Prellungen, Abschürfungen |
2021 | Paris-Nizza | gebrochener Ellenbogen |
2019 | Vuelta a España | Verletzungen im Gesicht |
2018 | Tour de France | gebrochener Wirbel |
2016 | Tour de France | Knieprobleme |
2015 | Tour de France | gebrochenes Schlüsselbein |
2012 | Tour de France | gebrochenes Kahnbein |
2012 | Training | gebrochenes Jochbein, Augenhöhle, Kiefer |