Ralph Diseviscourt, Ultracycling, Portrait
Ralph Diseviscourt: Ultracycling-Rekordhalter im Portrait

24 Stunden Rekord

Ralph Diseviscourt: Ultracycling-Rekordhalter im Portrait

927 Kilometer auf dem Rad – an einem Tag und in einer Nacht. Nonstop. Ein neuer Weltrekord. Einblicke, Reportage und Porträt von Ralph Diseviscourt.
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Rechts neben Ralph Diseviscourt verläuft eine graue Betonmauer, dahinter liegt ein kleiner See – die Straße ist schmal, er kennt jeden Riss im Asphalt, Und er kennt diesen Anblick. Er sieht ihn zum 130. Mal. Er ist tief über seinen Zeitfahrlenker gebeugt, auf seinem Radcomputer stehen konstant zwischen 280 und 300 Watt. Seit 18 Stunden.

Der Morgen ist angebrochen am Oberbecken in Vianden, dem Ort seines Weltrekordversuchs. Dem Weltrekord für die meisten absolvierten Kilometer in 24 Stunden. Die Strecke um den See ist eine für den öffentlichen Verkehr gesperrte Straße, 4,4 Kilometer lang. Nach sechs bis sieben Minuten passiert er wieder die gleiche Stelle, insgesamt 211 Mal. Am Vortag um 14 Uhr ist er losgefahren, heute um 14 Uhr wird er vom Rad steigen, seiner Frau und seinen Kindern in die Arme fallen, feiern.

Ralph Diseviscourt in den Rekordbüchern

927 Kilometer fährt er in diesen 24 Stunden – in den offiziellen Rekordbüchern stehen 915,38 Kilometer. Die Ultracycling-Vereinigung wertet den kürzestmöglichen Weg. Aber er kann nicht 24 Stunden lang nur wenige Zentimeter von der Betonmauer entfernt fahren. Daher absolviert er einige Kilometer mehr. Den bisherigen Weltrekord in der Kategorie „Outdoor Track“ des Australiers Mitch Anderson über 894,35 Kilometer übertrifft er bereits einige Runden vor Ablauf der 24 Stunden.

Die Zeit des Österreichers Christoph Strasser, der bei der 24-Stunden-Weltmeisterschaft in Borrego Springs 2018 913 Kilometer fuhr, überbietet er erst in der letzten Runde. Nie ist ein Mensch in 24 Stunden weiter auf einer Straße gefahren. Dieser Rekord ist der Höhepunkt einer Ultracycling-Karriere, die neun Jahre zuvor begann. Mit 44 Jahren wird er zum Weltrekordhalter. Als Späteinsteiger.

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Späteinsteiger

Erst mit 28 Jahren beginnt er mit dem Radsport. Der Tagesablauf, die Belastung, das Fahren in der Gruppe – alles ist ungewohnt für ihn. Viele seiner Kontrahenten sind jünger als er, und dennoch deutlich erfahrener.

Am stärksten ist er im Zeitfahren, dann, wenn er sich auf sich selbst konzentrieren kann: Insgesamt fünf Mal wird er luxemburgischer Amateur-Meister im Zeitfahren. Mit 35 Jahren konzentriert er sich auf das Ultracycling. Die Lizenzrennen werden ihm zu gefährlich. Ralph Diseviscourt hat inzwischen eine Familie, die Sturzgefahr ist ihm zu hoch. Seinen schlimmsten Sturz erlebt er jedoch während einer Trainingsfahrt: Er ist auf dem Weg zur Arbeit, es ist noch dunkel, er fährt schnell auf einer leicht abschüssigen Straße.

Was dann passiert, kann er nicht mehr genau rekonstruieren, etwas – ein Ast? –  verfängt sich in seinem Vorderrad. Er stürzt. Er erleidet einen vierfachen Milzriss, die Saison ist für ihn beendet. Er will jedoch das Radfahren in diesem Jahr nicht aufgeben, er sucht sich neue Ziele und findet – durch Zufall – die Tour du Mont Blanc.

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Der Beginn ist Euphorie, dazu kommt die Motivation der Weltrekorde „im Vorbeigehen“: 100 Kilometer, 200, 300 – während der ersten sechs Stunden fährt er schneller als geplant

Die UItracycling-Karriere des Ralph Diseviscourt beginnt

Dies ist der Beginn seiner Ultracycling-Karriere: 335 Kilometer mit 8100 Höhenmetern. Sieben Alpenpässe rund um den Mont Blanc. Er gewinnt das Rennen. Obwohl er kein klassischer Bergfahrer ist, wie er selbst sagt. Er hat sein Talent entdeckt. Die Distanzen werden in den folgenden Jahren länger, die Herausforderungen noch extremer – die Erfolge bleiben. Doch seine Motivation, an den extremsten Rennen der Welt teilzunehmen, basiert auf mehr als seinen Siegen: „Ich mag die Atmosphäre bei den Events. Wir sind ein recht kleiner Kreis, man kennt sich, freundet sich an. Während der Rennen ist man Konkurrent, doch davor und danach ist die Atmosphäre sehr kollegial und freundschaftlich. Es ist ganz anders als bei den Lizenzrennen. Es gibt eben meistens auch nichts zu gewinnen.“

Ralph Diseviscourt bezeichnet sich selbst nicht als übermäßig talentiert. „Andere sind leichter, schnellkräftiger und haben bessere körperliche Voraussetzungen als ich. Aber ich denke, meine Stärke liegt in meiner Motivation und meiner Fähigkeit, große Trainingsumfänge und Belastungen besser zu verkraften als andere.“ Er fährt bis zu 45.000 Kilometer pro Jahr. „Andere Menschen würden bei diesen Umfängen mit Knie- oder Rückenproblemen zu kämpfen haben. Ich bin davon bis heute verschont geblieben.“

Grundlagenausdauer

Natürlich besitzt er wie andere Extremradsportler auch eine sehr gute Grundlagenausdauer – und weiß um die mentalen Belastungen solcher Rennen. „Ein Drittel des Erfolgs hängt von der körperlichen Verfassung ab, ein Drittel von der mentalen Stärke und ein Drittel vom Team um einen herum.“ Und wie trainiert man die Psyche? Sein Training besteht vor allem aus seinem Weg zur Arbeit. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter macht er sich um fünf Uhr morgens auf den Weg, auch bei Schnee und Regen und Dunkelheit. 50 Kilometer, einfach. Meistens mehr, wenn er noch zusätzliche Schleifen einbaut. Eine dritte Trainingseinheit bildet häufig die Mittagspause. Das trainiert die Willenskraft und die Leidensfähigkeit. „Ein besseres Mentaltraining gibt es nicht“.

Einen detaillierten Trainingsplan hat er nicht – Ralph Diseviscourt fährt nach Gefühl. Immer. Er hat keinen Coach, keinen Ernährungsberater. Ein Powermeter nutzt er nur selten. Er fährt einfach Fahrrad. Jeden Tag. Sein Pendel-Training ist, wie für Viele andere, seine einzige Möglichkeit, seine Leidenschaft mit seinem Beruf zu verbinden.

Ralph Diseviscourt arbeitet Vollzeit als Managing Director einer Luxemburger Bank. Der 44-Jährige ist zudem Familienmensch. Das Schlafdefizit, mit dem sich viele Extrem-Radsportler während der Langdistanz-Rennen arrangieren müssen, trainiert er quasi im Alltag. Im Sommer fährt er bereits frühmorgens los. Seiner Familie ist es egal, ob er um sechs oder um vier Uhr morgens das Haus verlässt.

Beruf und Training des Ralph Diseviscourt

Das Pendeln macht einen Großteil seiner Trainingskilometer aus. Er kommt oft nach 100 bis 120 Kilometern um acht Uhr bei seiner Arbeitsstelle an. Auch die Mittagspause nutzt er regelmäßig für kleinere Runden. Nach Hause fährt er meist den direkten Weg. So kann er den Abend mit seiner Familie verbringen. In seinem Alltagsrhythmus kommen acht Stunden Schlaf eher selten vor. Häufiger sind es fünf oder sechs. Er ist es gewohnt.

Sein Berufsleben hat er schon immer mit dem Radfahren verbunden. Als er begonnen hat, sich auf das Ultracycling zu konzentrieren, ist er längst voll berufstätig, arbeitet oft mehr als 40 Stunden pro Woche, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Bis zu 50 Stunden sitzt er im Sommer pro Woche auf dem Rad – eine zweite Arbeitswoche zusätzlich. „Ultracycling wird wie zu einer Droge. Wenn ich einige Tage lang nicht Rad fahre, spüre ich fast schon Entzugserscheinungen.“

Er stillt diese Sucht mit weiteren Extrem-Rennen – und ist erfolgreich. Er wiederholt den Sieg bei der Tour du Mont Blanc im Jahr 2012 und gewinnt in den nächsten Jahren zweimal die Tortour – ein 1000 Kilometer langes Rennen über mehrere Alpenpässe in der Schweiz. Das Race Across Italy gewinnt er ebenfalls mehrfach.

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Bis zu 50 Stunden sitzt Ralph Diseviscourt im Sommer pro Woche auf dem Rad

Race Across America

2016 sieht er sich bereit für die – für viele Extrem-Radsportler – größte Herausforderung überhaupt: das Race Across America. Die inoffizielle Weltmeisterschaft im Ultracycling.

Es wird das bisher härteste Rennen seines Lebens. Viel härter als die europäischen Ultracycling-Events, an denen er bisher teilgenommen hat: Er leidet unter der extremen Hitze und unter Atembeschwerden in der Höhe. Er muss fast aufgeben. Nach einer zwölfstündigen Pause setzt er das Rennen fort und wird noch Vierter. Obwohl gerade die psychische Komponente des Rennens eine Belastung ist.

Nach den Rocky Mountains führt die Strecke durch den Mittleren Westen. Karge Landschaften, fast kurvenfreie Straßen. Eintönigkeit und Langeweile. Monotonie pur. Er holt auf, überholt andere Teilnehmer, auch noch während der steilen Passagen nahe des Atlantik. Die Zieleinfahrt ist für ihn ein emotionaler Moment. Nach der Krankheit, der Hitze, der Müdigkeit erreicht er Annapolis nach zehn Tagen und 18 Stunden. Er will zurück, das Rennen noch einmal erleben: Die Distanz, das Extreme, das An-die-Grenzen-gehen.

Ralph Diseviscourt vs. Christoph Strasser

2018 kommt es zum Duell zwischen ihm und Christoph Strasser, dem mehrfachen Sieger des Race Across America. Diseviscourt fährt schneller als der Österreicher, doch er muss häufiger und länger anhalten. Christoph Strasser ist ein Profi-Athlet. Mit seinem Team aus Ärzten und Trainern kann er mit dem massiven Schlafentzug umgehen, Diseviscourt geht das Risiko zu weit. „Ich glaube, dass ein so massiver Schlafentzug ungesund ist. Ich bin sicher, dass Christoph und sein Team das im Griff haben, aber für mich wäre das zu gefährlich.“ Er wird Zweiter. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 30 km/h und einer Standzeit von 64 Stunden – doppelt so lange wie bei Christoph Strasser.

Doch die Erfahrung, das Erlebnis ist ganz anders als noch zwei Jahre zuvor. Diesmal ist er besser vorbereitet auf die Höhe, auf die Eintönigkeit, auf die Hitze. Das Race Across America zu gewinnen, wäre ein Traum, doch er will ihn nicht um jeden Preis erreichen. Ralph Diseviscourt sucht sich lieber neue Herausforderungen, Ultracycling-Events in den Alpen, in Italien oder nahe seiner Heimat, in Luxemburg und Belgien etwa.

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Ralph Diseviscourt sucht gerne neue Herausforderungen

9000 Kilometer durch Sibirien

Für das Jahr 2020 plant er die Teilnahme an einem besonderen Rennen: dem Red Bull Transsiberian-Extreme, einem 9000 Kilometer langen Etappenrennen. Wie so viele Events fiel auch dieses Rennen aufgrund der Corona-Pandemie aus.

Ralph Diseviscourt trainierte weiter und kam nach einigen „längeren“ Ausfahrten auf seinem Zeitfahrrad – 200 bis 300 Kilometer mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 36 bis 39 km/h auf hügeligem Terrain – auf ein neues Ziel, eine ganz andere Herausforderung: den 24-Stunden-Rekord in der Kategorie Outdoor-Track.

Die Ultracycling-Vereinigung vergibt die 24-Stunden-Rekorde in drei verschiedenen Kategorien: Auf der Straße, auf der Bahn indoor und outdoor. Der Unterschied zwischen dem Straßenrekord und dem „Outdoor-Track“ liegt in der Länge der Route: Alles über fünf Meilen Rundenlänge zählt zur Kategorie „Straße“.

Ein weiterer Antrieb für den 44-Jährigen: Christoph Strassers Plan, in 24 Stunden 1000 Kilometer zu fahren. Dieser Versuch findet nun wohl im Jahr 2021 statt. „Ich glaube schon, dass Christoph in Colorado wahrscheinlich einen Rekord aufstellt. Auch wenn 1000 Kilometer ein sehr ambitioniertes Ziel sind“, sagt Diseviscourt.

Statt nach Sibirien zu fliegen, kann er seinen neuen Plan in seiner Heimat Luxemburg durchführen. Er beginnt zu recherchieren. Wie sind die bisherigen Rekorde entstanden? Welche Strecken haben die Athleten gewählt? Wie war das Wetter, die Vorbereitung, die Ausrüstung? Sein Fazit: Der Rekord ist machbar. Ein wichtiger, entscheidender Faktor: die Strecke. Flach sollte der Kurs sein, kurz, aber mit Aussicht. Wenn er den Kopf hebt, will er eine Landschaft vor oder neben sich sehen. „Auf einer abgeschlossenen Strecke ohne Umgebung wie in einem Velodrom – das könnte ich nicht.“ Das Oberbecken des Wasserkraftwerks in Vianden, unweit seines Heimatortes, entspricht diesen Anforderungen.

Der unberechenbare Wind

Ein Faktor bleibt jedoch unberechenbar: der Wind. Das Oberbecken liegt auf einem Hochplateau und ist fast ständig starken Winden ausgesetzt. Am Tag des Rekords blickt er auf die Fahnen mit dem luxemburgischen Löwen darauf: Sie wehen, aber bei weitem nicht so stark wie befürchtet. Die Bedingungen sind fast ideal. Die Temperaturen betragen bei Tag etwa 20 Grad. „Ich hatte komischerweise nie Zweifel daran, dass es funktionieren würde. Weder davor noch während der Fahrt.“ Er startet entsprechend schnell. Die ersten beiden Runden sind die schnellsten – 44 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. Er findet sofort seinen Rhythmus. Seine Familie und einige Freunde unterstützen ihn von einer Aussichtsplattform aus.

Zusätzliche Motivation geben ihm die Weltrekorde, die er „im Vorbeifahren“ einfährt: über 100 Kilometer, 200, 300. Doch sein Betreuerteam wird nervös: Das Tempo ist zu hoch. Das Problem ist nicht die Übersäuerung, sondern die Ernährung. Wenn er zu viel Energie verbrennt, wird er früher oder später einbrechen: Erstmals setzt er bei einem Rennen ausschließlich auf Flüssignahrung. „Eigentlich vertrage ich das nicht so gut. Bei längeren Rennen muss ich immer feste Nahrung zu mir nehmen. Aber für eine ‚Sprintstrecke‘ über 24 Stunden geht es.“ 328 Watt leistet Ralph Diseviscourt in diesem ersten Viertel seines Rennens. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit: rund 42 km/h.

„Das war das erste Mal, dass ich einen wissenschaftlicheren Ansatz bei einem meiner Rennen gewählt habe. Ich habe auf dieser Strecke zuvor Material getestet und einen Leistungstest gemacht. Somit war klar, in welchem Wattbereich ich mich bewegen muss, um die richtige Balance zu finden.“

Kälte und Dunkelheit

Die Zahlen sind nach diesen ersten sechs Stunden über dem vorher berechneten Niveau. Doch: Ab dann wird er von Runde zu Runde etwas langsamer. „Mir war klar, dass es unmöglich sein wird, die 24 Stunden mit einem gleichmäßigen Tempo zu fahren. Die Kurve musste im Laufe der Zeit abfallen. Doch die Motivation durch die schnellen Zeiten zu Beginn war wichtig für mich. Es wäre viel schwerer und schmerzhafter gewesen, zu vorsichtig zu beginnen und dann einen Rückstand aufholen zu müssen. Ich wollte lieber meinen Vorsprung verteidigen.“

Das Ziel ist es, die Motivation, die Euphorie, die Freude am Fahren auch für die kommenden 18 Stunden aufrecht zu halten. 7:12 Stunden benötigt er für die ersten 300 Kilometer. Die Sonne geht unter. Es wird kalt am Oberbecken in dieser Nacht: Sieben, sechs, fünf Grad. Durch die Kälte sinkt seine Leistungsfähigkeit. War der Beginn zu schnell?

Er fährt weitere Weltrekorde ein: 300 Meilen in 11:59:43 Stunden – Weltrekord. 500 Kilometer in 12:27:48 Stunden – Weltrekord. Nachdem er mehr als zehn Stunden lang nicht anhalten musste, hält er nun stündlich kurz an, je für eine oder zwei Minuten. Die Aero-Position auf seinem Zeitfahrrad bereitet ihm Schmerzen. Er geht immer häufiger aus dem Sattel. Die Leichtigkeit aus der Anfangsphase ist verschwunden. Er quält sich durch die Nacht, doch am Morgen ist klar: Den offiziellen Weltrekord des Australiers Mitch Anderson über 895 Kilometer könnte er nur noch durch einen völligen Einbruch verpassen. „Wären es am Ende 898 Kilometer gewesen, wäre das auch toll gewesen und ein neuer Weltrekord, aber es wäre nicht optimal gewesen. Ich wollte mehr als 900 Kilometer fahren. Ich wollte unbedingt die längste Strecke schaffen.“

Noch einmal beschleunigen

900 Kilometer auf der Straße innerhalb von 24 Stunden sind vor ihm nur Christoph Strasser und der slowenische Ultraradfahrer Marko Baloh gefahren. Das große Ziel ist der Rekord von Strasser aus Borrego Springs, 913 Kilometer, aufgestellt während der 24-Stunden-Weltmeisterschaft. Zwei Stunden bleiben Ralph Diseviscourt dafür noch. Nach 22 Stunden und 180 Runden um den See.

In diesen letzten beiden Stunden beschleunigt er noch einmal. Seine Rundenzeiten sind 15 bis 20 Sekunden schneller als zuvor. Er sitzt nun wieder wie zu Beginn auf seinem Zeitfahrrad, tiefer, aerodynamischer. Zum ersten Mal seit dem Start kann er seine Leistung innerhalb einer Stunde steigern. Die letzten zehn Runden fährt er nur rund neun Minuten langsamer als die ersten zehn. 900 Kilometer und noch 45 Minuten Zeit.

Die Betreuer am Streckenrand, die Familie und Freunde auf der Aussichtsplattform, und auch er selbst wissen: Er hat es geschafft. Er beschleunigt noch einmal. Um 14 Uhr steigt er vom Rad. Nach 927 Kilometern. Während dieser 24 Stunden stellt er zehn neue Weltrekorde auf. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit: 38,9 km/h.

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Zehn neue Weltrekorde…

Neue Ziele

Und wenn Christoph Strasser 1000 Kilometer fahren wird? Holt sich Diseviscourt den Rekord dann zurück? „Man kann immer noch etwas verbessern. Mir gingen zum Beispiel durch die Wahl der Strecke ein paar Kilometer ‚verloren‘: Ich bin ja eigentlich bereits 927 Kilometer gefahren. Es zählen aber nur 915. An der Aerodynamik und anderen Feinheiten kann man sicher auch noch etwas verbessern. Aber 1000 Kilometer – das ist schon sehr sehr weit.“

Das jüngste direkte Duell zwischen den beiden ging an Christoph Strasser, bei seinem Heimrennen, dem Race Around Austria. Er gewann das 2200 Kilometer lange Rennen überlegen – und schlief dabei insgesamt nur 75 Minuten lang. Ralph Diseviscourt wurde Dritter – einen Monat nach seinem Weltrekord. „Die Belastung ist bei einem Rekord eine völlig andere als bei einem Mehrtages-Event wie dem Race Across America oder dem Race Around Austria. Für uns Ultra-Athleten ist diese Distanz ja fast ein Sprint.“ Bei seinem Heimrennen gewann er, zwei Monate nach seinem Weltrekord, einen Monat nach dem Race Around Austria: Das erstmals ausgetragene „Dizzy Race“, benannt nach ihm, ist eine 500 Kilometer lange Schleife rund um Luxemburg – mit mehr als 7000 Höhenmetern.

Rund 40 Teilnehmer standen bei der Premieren-Veranstaltung am Start. In seiner Heimat ist er bekannt. Die Menschen melden sich auch seinetwegen bei diesem Rennen an.

Transsiberian-Extreme

Mit einem Sieg bei seinem nächsten großen Ziel könnte er diese Bekanntheit weiter steigern: Er will im Sommer am Red Bull Transsiberian-Extreme teilnehmen.

Ralph Diseviscourt will nicht nur dabei seim – er will gewinnen: „Das Transsiberian-Extreme wird als Etappenrennen gefahren. Es gibt also vorgegebene Schlafpausen. Das sollte mir entgegenkommen.“ Es bedeutet: Mehr als 9000 Kilometer durch Russland, entlang der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn. 15 Etappen und 77.000 Höhenmeter. Das vielleicht härteste Radrennen der Welt. Weite, Monotonie, Kälte, Hitze, Qualen. Oder aus der Sicht Ralph Diseviscourts: Leidenschaft.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 1-2/2021. Hier gibt es einen Überblick über die Inhalte.


Der Athlet: Ralph Diseviscourt

Ralph Diseviscourt ist 44 Jahre alt und lebt in Nocher in Luxemburg. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er arbeitet als Managing Director bei der BIL, der Banque Internationale à Luxembourg. Neben seiner Vollzeitstelle sitzt er bis zu 50 Stunden pro Woche auf dem Fahrrad. 2018 kam er auf insgesamt 46.000 Trainings-Kilometer. In diesem Jahr wurde er auch zum „Ultrasportler des Jahres“ in Luxemburg gekürt. „Ich bin von der Statur her kein klassischer Bergfahrer. Ich würde mich eher als Allrounder bezeichnen. Ich bin körperlich nicht unbedingt hochtalentiert. Meine Willenskraft und meine Motivation im Training sind meine wohl gößten Stärken.“


Schlaf & Taktik

Die Standzeit ist bei Ultracycling-Events oft ein siegentscheidender Faktor. Christoph Strasser hat durch eine detaillierte und wissenschaftliche Herangehensweise seine Stand- und Schlafzeit auf ein Minimum reduziert. Das Ergebnis: Er benötigte acht Tage, 15 Stunden und 16 Minuten für die 4940 Kilometer des Race Across America 2019. Seine Gesamtschlafdauer: neun Stunden. Vor allem in Form kurzer, zehn bis 20 Minuten langer Powernaps. Seine normalisierte Leistung betrug 169 Watt. Sein großes Ziel 2021: 1000 Kilometer in 24 Stunden. Eine Reportage über ihn beim RAAM lesen Sie in der Ausgabe hier.

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