100% Austria
Race Around Austria: Reportage über Langstrecken-Rennen durch Österreich
in Race
42 km/h, 40, 38, 36, 34 – die Straße ist flach, doch ich werde immer langsamer. Gegenwind – wie so oft. Ich spüre, wie die Energie in mir immer weniger wird. 25 Kilometer bin ich diesmal gefahren. Am Anschlag. Fünf Kilometer muss ich noch. So ist es ausgemacht. Ich sitze auf meiner Zeitfahrmaschine, die Arme auf dem Triathlon-Lenker, die Beine bewegen sich automatisch, das Hirn kämpft gegen einen Brechreiz an. Irgendwann höre ich eine Stimme vor mir: „Stopp!“ Neben der Straße steht Rene, mein Teamkollege, meine Ablösung. Ich halte an, er fährt los. Dies ist sie, unsere Staffel. Zu viert bilden wir ein Team. Alle sind wir Langstrecken-Radsport-Neulinge. Dies ist unser erstes Ultracycling-Event: Es führt durch unsere Heimat und ist das härteste seiner Art in Europa: das Race Around Austria. Fast 2200 Kilometer und rund 30.000 Höhenmeter. Nonstop.
Race Around Austria: Flach und bergig
Fünf Minuten später sitze ich in unserem Wohnmobil. Genauer gesagt: Ich liege auf dem Boden vor der Toilette. Zum Sitzen bin ich zu schwach. Mein Teamkollege Martin steht über mir. Zumindest sehe ich eine schemenhafte Figur über mir, wenn ich kurz die Augen öffne. Ich höre etwas, nehme es aber nicht wahr. Bis mich Martin schüttelt. „Georg, du musst etwas essen!“ Keine Reaktion in mir. „Jetzt!“ Allein bei dem Gedanken an Nahrung wird mir schlecht.
Ich habe mich bei der Ernährung komplett verzockt: Ich bin leer und aufgeschwemmt – zu viel getrunken, zu wenig gegessen. Martin hält mir eine Flasche seiner Flüssignahrung vor die Nase. „Trink das.“ Ich weiß, dass er recht hat, tue, wie geheißen und schlucke eine Salztablette hinterher. Unser Weg ist noch nicht zu Ende. Drei Viertel der Strecke haben wir geschafft. Mehr als 500 Kilometer liegen noch vor uns. Martin und ich sitzen im Wohnmobil, während sich der Rest unseres Viererteams, Christoph und Rene, über den Verkehrswahnsinn der Fernpassstraße quält. Zwei Betreuer folgen ihnen im Auto. Insgesamt umfasst unser Team 13 Leute, Fahrer und Betreuer. Einer mehr als das dreckige Dutzend. Auch wenn dies aktuell, angesichts des Geruchs hier im Wohnmobil, ein passender Name wäre.
Dritter Renntag
Dies ist der Morgen unseres dritten Renn-Tages. Vor zweieinhalb Tagen begann es. Unser Erlebnis Österreich, unsere Heimatreise, unser selbst erwähltes Leid. In Sankt Georgen im Attergau, nahe des Attersees. Von dort ging es nach Norden, durch das Inntal. Dann nach Osten – über Freistadt, Gmünd, Laa an der Thaya. Dann nach Süden – zwischen Wien und Bratislava. Das Gemeine am Race Around Austria ist: Es wird immer härter.
Die Strecke wird immer bergiger. Die meisten Höhenmeter kommen erst spät im Rennen. Ab der Halbzeit, nach mehr als 1100 Kilometern, erreicht man die Alpen. Erst nach Klagenfurt wird das Rennen richtig schwer. Denn dann, irgendwann, erreichen wir den Scharfrichter der Strecke des Race Around Austria, den höchsten Berg der Alpenrepublik Österreich: den Großglockner.
Der höchste Berg beim Race Around Austria
Allerdings haben wir Glück: Wir fahren ihn von der einfacheren Südseite aus an. Der Anstieg von Heiligenblut aus ist „nur“ 15 Kilometer lang und weist 1200 Höhenmeter auf. Von der anderen Seite aus wären die Daten ganz andere, die Auffahrt wäre noch deutlich schwerer: 32 Kilometer bergauf und 1900 Höhenmeter. Die Abfahrt von 2500 Metern Höhe ist traumhaft. Die Kurven sind nicht zu eng. Ich bin im Flow. Von Glückshormonen durchflutet. Zumindest kurzfristig – bis ich das Ende der Abfahrt erreicht habe, Bruck am Großglockner.
Denn ab hier wird die Strecke brutal: auf und ab, Pass nach Pass. Wir passieren Zell am See und später die höchsten Wasserfälle Europas, die Krimmler Wasserfälle. Dann steht uns die Gerlos Alpenstraße gegenüber – der Pass, der ins Zillertal führt. Sieben Kilometer, 600 Höhenmeter. Im Inntal geht es danach flach dahin, bis hinter Innsbruck, bis zu einem Anstieg, den viele von uns bereits vom berühmten Ötztaler Radmarathon kennen – und fürchten: das Kühtai.
Die Ostauffahrt ist die längste und vermeintlich „einfachste“: 23 Kilometer, 1400 Höhenmeter. Die Maximalsteigung am Kühtai beträgt extreme 16 Prozent. Meine Aufgabe ist das Bergabfahren. Und das Drücken im Flachen. Passend zu meiner Statur – denn mein Systemgewicht, ich plus mein Rad, liegt bei 112 Kilogramm.
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Warum nicht beim Race around the Netherlands?
Deshalb frage ich mich immer häufiger während dieses Erlebnisses: „Warum bin ich nicht beim Race around the Netherlands am Start? Irgendwo, wo es flach ist.“ Erst als es zu spät ist, merke ich, dass ich immer reizbarer werde. Dann, am zweiten Tag des Rennens, als wir zum ersten Mal Innsbruck durchqueren, passiert es: Ich explodiere. Ich beschimpfe meine Teamkollegen. Wegen nichts. Der Auslöser: Statt der geplanten zehn muss ich 17 Kilometer fahren, die letzten drei davon steil bergauf. „Wir verlieren Zeit, wenn ich das machen muss“, brülle ich.
Es dauert fünf Minuten, bis mein Verstand wieder einsetzt – und ich mich bei allen anderen entschuldige. Mit der Ermüdung steigt bei mir die Reizbarkeit – und aus einer Mücke wird ein Tyrannosaurus Rex. Unsere Taktik ist simpel – eigentlich: Wir haben unser Team in zwei Gruppen aufgeteilt. Rene und Christoph bilden die eine, Martin und ich die andere. Vor dem Start haben wir einen Großteil der Strecke – bis Bludenz in Vorarlberg – in Segmente von 90 bis 130 Kilometer eingeteilt. Ein Team fährt, das andere hat Pause.
Schon nach der ersten Nacht kamen wir zu der Erkenntnis, dass irgendwann ein Ermüdungsgrad erreicht ist, an dem man auch auf kurvenreicher Strecke in einem Wohnmobil einschläft. Die Höhendiagramme unserer Teilstücke haben wir vor dem Rennen ausgedruckt und uns die möglichen Stellen zum Wechsel in den Roadbooks, die in Betreuerfahrzeugen liegen, markiert.
Team-Taktik
Wir kommen alle aus der Region Graz – und kennen deshalb einen Mann, der ein unübertroffener Ratgeber ist, wenn es um Langdistanz-Rennen geht: Christoph Strasser, den sechsmaligen Sieger des härtesten Radrennens der Welt, des 5000 Kilometer langen Race Across America. Christoph lebt auch in Graz und trainiert manchmal mit uns. Immer wieder habe ich seine Worte im Kopf: „Am ersten Tag fährst du immer knapp unter der anaeroben Schwelle und dann fällst du nach und nach ab – so auf 75, 80 Prozent. Die kannst du dann noch lange fahren, aber das tut weh.“ Und genauso kommt es.
Ich beginne schnell, breche nach dem ersten Tag ein – und kann danach dennoch meine Leistung auf einem niedrigeren Niveau halten. Und ja: Das Ganze ist mit Schmerzen verbunden. Christoph und Rene wechseln sich auf ihren Teilstücken etwa alle 20 Minuten ab. Martin und ich haben eine andere Taktik: Wir versuchen, unsere Stärken auszuspielen – und unsere Schwächen zu kaschieren: Martin fährt bergauf – ich fahre im Flachen und lange Abfahrten. Martin wiegt, sein Rad eingerechnet, 64 Kilogramm. Ich bin fast zwei Meter groß, mein Systemgewicht liegt bei fast 50 Kilogramm mehr. Bis Bludenz, also rund 1600 Kilometer weit, halten wir an dieser Taktik fest. Dann ändern wir sie. Beziehungsweise: Wir passen sie an die Strecke an. Denn diese wird wellig. Gerade in der Region um den Arlberg heißt es: bergauf, bergab, eine kurze Flachpassage und wieder Hügel, Hügel, Berge.
Neue Taktik
Unsere neue Taktik: Rene, Christoph und Martin wechseln sich bergauf ab. Sie fahren immer nur kurz, schnell, wie bei einem Intervalltraining. Ich versuche, im Flachen zwischen den Rampen keine Zeit auf die anderen Teams zu verlieren. Es funktioniert. Die anderen verlassen sich auf mich – wie ich mich auf sie. Wir liegen auf Rang drei aller Vierer-Teams. Und kommen den Zweitplatzierten immer näher. Wir sind auf der Jagd – auch wenn wir leider drei Zeitstrafen von insgesamt 60 Minuten gesammelt und deshalb keine Chance mehr auf Platz zwei haben. Aber wir wollen zumindest unsere Konkurrenten auf der Strecke überholen.
Die nächsten Berge: Silvretta – 46 Kilometer mit 1250 Höhenmetern, das Faschinajoch – endlose 21 Kilometer mit 1200 Höhenmetern, Hochtannberg – 13 Kilometer mit 900 Höhenmetern. Wir halten unseren Rhythmus. Und holen auf. Unsere Betreuer checken alle 30 Minuten per Livetracking, wie viel Rückstand wir noch haben. Er verringert sich immer mehr. Gerade sind alle Schmerzen vergessen, der Hunger, der Schweiß. Wir sind alle hellwach und geben alles, was wir noch haben. Alle vier wechseln sich ab – in kurzen Intervallen.
Dies ist der dritte Renn-Tag, dies ist die schwere, die berühmte, die schöne – falls man Zeit und Muße hat, um die Landschaft zu genießen – Hochkönigstraße. Es sind noch 100 Kilometer bis zum Ziel. Da sehen wir sie vor uns: einen Fahrer und zwei Begleitautos. Es geht bergauf. Martin geht aus dem Sattel – und überholt den anderen. Er leistet an diesem Anstieg trotz der Fahrtdauer durchschnittlich 3,84 Watt pro Kilogramm Körpergewicht.
Race Around Austria: Euphorie und Angst
Die Euphorie wächst. Bis 40 Kilometer vor dem Ziel. Ein Offizieller, ein Renn-Marschall, hält uns an. Er will uns den vierten Penalty verpassen – und damit disqualifizieren. War es das für uns? Nach drei Tagen auf dem Rad? Nach drei Tagen Hunger, Schmerz, Abenteuer? Nachdem wir ganz Österreich umrundet haben? Jetzt? Eine Stunde vor dem Ziel? Wir kontaktieren die Rennleitung, die uns bestätigt, dass wir nichts Unrechtes getan haben. Wir dürfen zwar weiterfahren. Doch unsere Jagd nach Platz zwei ist beendet. Nicht nur, weil wir während der Zwangspause überholt worden sind, sondern auch weil unsere Euphorie abgeflaut ist.
Wir wollen einfach nur noch ins Ziel. Je näher die Ziellinie kommt, desto besser wird unsere Laune. Kurz vor der Ortseinfahrt von Sankt Georgen laufen zweien von uns Tränen der Erleichterung über die Wangen. Wir realisieren, was wir gemeinsam geschafft haben: Alle 13 Teammitglieder haben während dieser 2174 Kilometer und 30.000 Höhenmeter drei Tage und eine Stunde lang gelitten, gekämpft, gestritten, sich wieder versöhnt. Während dieser drei Tage haben wir mehr erlebt als andere in einem ganzen Jahr. Wir sind als Freunde gestartet und wollten als Freunde ankommen. Das war unser größtes Ziel. Wir haben es erreicht.
Das Race Around Austria
2174 Kilometer und mehr als 30.000 Kilometer – als Solofahrer, Zweier- oder Viererteam. Das ist die Herausforderung Race Around Austria. Die Veranstalter bewerben das Event als „Österreichs letztes großes Abenteuer. Du wirst Dinge über dich selbst erfahren, von denen Kurzzeitleister nur träumen können.“ Die Strecke startet in Sankt Georgen am Attersee und führt entlang der Grenzen – einmal um ganz Österreich. Das Dach der Tour ist die Großglocknerstraße, die auf mehr als 2500 Meter Höhe ansteigt. Der Zeitraum: 9. bis 16. August 2020.