Paris-Roubaix-Challenge: Durch die Hölle
Paris-Roubaix-Challenge: Die Hobbysport-Version des Radsport-Klassikers
in Race
Sterne sind faszinierend. Friedlich schweben sie nachts im dunkelblauen Nichts. Je mehr man von ihnen sieht, desto schöner sind sie. Das dachte ich zumindest bis zur Paris-Roubaix-Challenge. Dort stehen sie zu fünft nebeneinander auf einem Schild und kündigen den nächsten Kopfsteinpflaster-Abschnitt an. Je mehr Sterne auf dem Banner stehen, desto schlimmer ist der Zustand des Pflasters – des Pavés.
Die Folge: verkrampfte Unterarme, vor Schmerzen deformierte Gesichter überall – meines inklusive. Carrefour de l’Arbre heißt der Sektor, der mir kurz vor dem Ende der Challenge noch einmal alles abverlangt. Er ist einer von zwei Sektoren mit der höchsten Schwierigkeitsstufe bei Paris-Roubaix, der Königin aller Radsport-Klassiker. Das Rennen, das man entweder hasst oder liebt. Das Rennen, das härter, schlimmer und schöner als jedes andere ist.
Gedankenlos
Max ist einer meiner ältesten und besten Freunde. Und manchmal auch einer meiner verrücktesten. Am 8. April hat er Geburtstag, dem Tag, an dem 2017 die Paris-Roubaix-Challenge stattfand. Mit 29 Kopfsteinpflaster-Sektoren in das 29. Lebensjahr starten. Für Max war das eine perfekte Kombination und Grund genug, um sich die Teilnahme zu wünschen. „Na klar! Da bin ich natürlich dabei“, war meine schnelle und gedankenlose Antwort auf seinen Vorschlag. Mir war nicht klar, auf was ich mich da einlasse, obwohl ich mit der Flandern-Rundfahrt schon einen anderen Kopfsteinpflaster-Klassiker bewältigt hatte. Dass man die beiden Rennen aber überhaupt nicht miteinander vergleichen kann, war mir nicht bewusst. Das musste ich vor Ort lernen. Schmerzhaft.
70, 145 oder 172 Kilometer – das sind die drei verschiedenen Distanzen, zwischen denen man bei der Paris-Roubaix-Challenge wählen kann. Bei der längsten Strecke fährt man den Original-Teil des Profirennens und muss damit alle Kopfsteinpflaster-Sektoren absolvieren. Lediglich die rund 90 Kilometer lange asphaltierte Anfahrt bis zur ersten Pavé-Passage bleibt den Jedermann- und Hobbyfahrern erspart.
Hassliebe
Das Rennen existiert seit 1896. Es ist eines der ältesten im Radsport und gehört damit zu den fünf Monumenten. Mailand-Sanremo, Paris-Roubaix, die Flandernrundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich und die Lombardei-Rundfahrt sind die einzigen Rennen, die erstmals vor dem Ersten Weltkrieg ausgetragen wurden.
Aufgrund ihrer Länge und ihrer ganz eigenen Charakteristik gehören sie zu „den Klassikern“ überhaupt. Paris-Roubaix gilt als deren Königin, als „Hölle des Nordens“ und polarisiert wie keine andere Veranstaltung. Warum die meisten von einer Hassliebe sprechen, wird mir schon im Bett klar.
Kälte
Mitten in der Nacht reißt mich ein nerviges Piepen aus der Tiefschlafphase. Es ist halb vier Uhr morgens, mein Wecker klingelt erbarmungslos. Was er mir mitteilen will? Ich soll aufstehen. Jetzt. Sofort. Wenige Minuten später stolpere ich durch das Hotelzimmer – auf der Suche nach meiner Zahnbürste. Mein Körper funktioniert im Automatikmodus. Rennklamotten an, Trikottaschen vollstopfen und ab ans Frühstücksbuffet, bevor uns der Bus-Shuttle um fünf Uhr morgens von Roubaix zum Startort Busigny bringt.
Da die Strecke von A nach B führt und die meisten der Teilnehmer im Zielort übernachten, bietet der Veranstalter diesen Shuttle-Service zum Start an. Treffpunkt für den Transfer ist ein verlassener Supermarkt-Parkplatz. Dutzende LKW stehen nebeneinander, jedem ist ein Reisebus zugeordnet. Über 5000 Menschen und Räder müssen verladen werden. Ein professioneller Radschmuggel sähe wohl nicht viel anders aus.
Die Logistik ist eine Meisterleistung. Der Transfer dauert allerdings eine gefühlte Ewigkeit. Nicht nur wegen der Distanz, sondern auch wegen der gefühlten minus drei Grad im Bus. Die Heizung ist kaputt. Wir zittern. Jetzt schon. Ungemütlicher kann ein Tag kaum beginnen. Aber: Im Vergleich zu dem, was heute noch auf uns zukommt, ist dies nur ein lächerlicher Vorgeschmack.
„Würfelzucker“
Dichter Nebel hängt über den Feldern des nordfranzösischen Departements Hauts-de-France. Die Temperaturen liegen nur knapp über dem Gefrierpunkt. Es ist ein Zitterstart. Wie ein kaputtes Hochleistungs-Morse-Gerät schlottern meine Zähne unkontrolliert aufeinander. Die Nachricht von meinem Kleinhirn an mein Großhirn ist deutlich: Junge, du bist völlig verrückt! Und trotzdem: kurze Zeit später rollen wir los, freihändig, mit den Händen unter den Achseln. Jeder normal denkende Mensch würde jetzt den Kopf schütteln. Bei der Paris-Roubaix-Challenge existiert keine genaue Startzeit, sondern eine Start-Zeitspanne.
Von 7 Uhr bis 9 Uhr kann man auf die Strecke. So entzerrt sich das Teilnehmerfeld, das Gefahrenpotential wird minimiert. Wie wichtig das ist, zeigt sich schon nach elf Kilometern auf dem ersten Pavé. Auf den schmalen Straßen wird es eng, das Manövrieren auf dem Pflaster ist schwierig und die Ideallinie will sowieso niemand verlassen. Bei der Ideallinie handelt es sich dabei um einen 20 Zentimeter breiten Ackerstreifen, der entweder links oder rechts neben den Cobbles wenigstens etwas Pause von den Schlägen und den Schmerzen bringt. Noch nie habe ich mich so darüber gefreut, mit dem Rennrad auf einem braunen, dreckigen, festgetretenen Erdstreifen zu fahren wie bei der Paris-Roubaix-Challenge. Man lernt die einfachen Dinge zu schätzen.
Je länger das Rennen dauert, desto schlimmer wird das Gefühl auf dem Pflaster. Zwischen den Sektoren hat man gerade einmal vier, fünf, manchmal zehn Kilometer Pause. Zu wenig, um sich zu erholen. Irgendwann vergehen die Schmerzen im Nacken, im Rücken, in den Gelenken, eigentlich im ganzen Körper nicht mehr. Und dann kommt schon wieder das nächste Banner mit Sternen darauf. Erbarmungslos. Endlos.
Die Pflastersteine werden von den Anwohnern liebevoll „Würfelzucker“ genannt, weil sie kantig sind. Die runde Version heißt „Melone“. Süß ist daran aber gar nichts. Darauf zu fahren ist anstrengender als jeder Berg. Und macht eigentlich keinen Spaß. Vor allem dann nicht, wenn die Geräusche des Rads hinzukommen. Es kracht, vibriert und knarzt. Materialschonend ist anders.
Amnesie
Auf den Pavés fahren meine drei Begleiter und ich immer im eigenen Tempo. Erst auf den Asphaltstücken wird wieder aufeinander gewartet und mögliche Körper- und Materialschäden werden lokalisiert. Zum Glück bleibt alles heil, bis auf drei platte Reifen. Wir sind gemeinsam durch die Hölle gefahren, haben sie überlebt und biegen nach 172 Kilometern nebeneinander in das Velodrom von Roubaix ein. Es ist ein magischer Moment.
Genau jetzt zeigt sich, dass mein Kurzzeitgedächtnis den größten Schaden auf dem Kopfsteinpflaster genommen haben muss. Amnesie: Auf einen Schlag sind alle Schmerzen und Schläge vergessen. Ich fahre freihändig und greife nach den Händen meiner Begleiter. Arm in Arm rollen wir über die Betonpiste des Velodroms. Unsere Körper sind von Strapazen gezeichnet. Die Gesichter sind mit Staub bedeckt. Wir schauen uns an, lachen, und schütteln ungläubig die Köpfe. Alles, was wir fühlen, ist: reines, ungefiltertes Glück. Die Freude über den Triumph über die Pavés überstrahlt den Schmerz. Wir haben die „Hölle des Nordens“ bezwungen. Schöner kann ein Geburtstag nicht sein.
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