Nadja Prieling Auffahrt Timmelsjoch
Ötztaler Radmarathon Rekord: 10 Mal in 10 Tagen

Nadja Prieling - Ötztaler Mal Zehn

Ötztaler Radmarathon Rekord: 10 Mal in 10 Tagen

238 Kilometer und 5500 Höhenmeter – dies ist die Strecke des Ötztaler Radmarathons. Nadja Prieling ist sie an zehn Tagen zehnmal gefahren. Über Motive, mentale Stärke und Schmerzen.
TEILE DIESEN ARTIKEL

Fünfmal die Ötztaler-Strecke zu fahren, würde auch reichen, hat Mutter Prieling zu ihrer Tochter gesagt. Doch das war Nadja Prieling nicht genug. 238 Kilometer und 5500 Höhenmeter stellt einem der Ötztaler Radmarathon in den Weg. Ihn einmal zu bewältigen, ist der große Traum vieler Rennradfahrer. Ihn an zehn Tagen zehnmal hintereinander zu bewältigen, war der Traum von Nadja Prieling.

Start in Sölden, 1200 Höhenmeter hinauf aufs Kühtai, 777 Höhenmeter zum Brenner, 1130 Höhenmeter am Jaufenpass und zum Abschluss noch einmal 1759 Höhenmeter und 28,7 Kilometer von Sankt Leonhard aufs Timmelsjoch. Der Ötztaler ist die inoffizielle Weltmeisterschaft der Radmarathonfahrer. Doch was ist schon eine Weltmeisterschaft gegen einen Weltrekord. Nadja Prieling will nicht wieder Zweite beim Ötztaler werden. Zweimal, 2013 und 2015, stand die 34-jährige Tirolerin schon auf der zweithöchsten Stufe des Siegerpodests. Den Traum vom Gewinnen tauscht sie 2016 gegen den Traum eines neuen Rekords.

Von der Idee zum Rekord

2014 hat der österreichische Extremradsportler Wolfgang Mader dasselbe probiert – und ist gescheitert. Am Wetter, den Schmerzen, aber vor allem an den 55.000 Höhenmetern und 2380 Kilometern in zehn Tagen. Nadja Prieling trifft Mader im Herbst 2015 und fragt ihn, ob sie sein Projekt aufgreifen darf. Sie will es zu ihrem machen. Mader willigt ein und sagt ihr seine Unterstützung zu. Noch im selben Herbst beginnen die ersten Vorbereitungen – das Training, aber vor allem die Suche nach Sponsoren für dieses Projekt. Sie nennt es „Ötztaler 9+1“. Neunmal will sie die Strecke hintereinander fahren. Das zehnte und letzte Mal dann am Ötztaler-Renntag. „Des is a verrückte Henne“, sagen einige ihrer Freunde und Kollegen. „Ich sehe das als Kompliment“, meint die Kitzbühelerin, „ich weiß, was ich meinem Körper zutrauen kann. Das unglaubliche Zusammenspiel von Kopf und Körper reizt mich ungemein.“ Ihre Familie, ihre Freunde sprechen ihr Mut zu und motivieren sie.

„Ich selbst war zu 100 Prozent davon überzeugt, dass ich es schaffe. Der Kopf spielt eine ganz entscheidende Rolle. Ich denke, dass viele Radsportler physisch mein Projekt schaffen könnten, aber an der Psyche scheitern. Es ist der Grund, weshalb viele erst gar nicht auf die Idee eines solchen Projekts kommen. Wenn du dir es nicht vorstellen kannst, dann kann es auch nicht funktionieren. Ich glaube, dass zu 60 Prozent der Kopf entscheidet. Und natürlich das Umfeld. Man muss jeden Tag aufs Neue aufstehen und sich wieder aufs Rad setzen – die Strecke einfach fahren. Ich war im Kopf schon immer stark. Ich vertraue mir, fahre mein Rennen und lasse mich nicht verunsichern. Ich vertraue stark auf die Fähigkeiten, die ich habe.“

Die Vorbereitung

Ihre mentale Stärke bringt Nadja Prieling auch im anstrengenden Trainingsalltag weiter. Sie vertraut auf Mentaltraining, nutzt die Visualisierung ihrer Ziele, um den Kopf auf die anstehenden Höchstleistungen vorzubereiten. Knapp ein Jahr dauert die Vorbereitung für das Projekt „Ötztaler 9+1“. Im Winter schuftet sie im Kraftraum, geht Skitouren oder nutzt das Skilanglaufen. Ihr Rennrad rührt sie zu dieser Zeit kaum an. Das Rollentraining beschränkt sie auf eine Stunde pro Woche. Ab Januar erhöht sie das Grundlagentraining, legt ihre Kilometer aber zu 90 Prozent weiter auf Skiern zurück. Krafttraining und Klettern in der Halle nutzt sie, um die Rumpfstabilität zu steigern und an der Maximalkraft zu arbeiten. Erst ab Mitte März beginnt ihre „wahre“ Radsaison. Ein Trainingslager in den Wintermonaten plant sie nie. Wenn dann fliegt sie spontan für ein paar Tage gen Süden. Bisher ging es immer ohne. Sie bleibt lieber daheim in den Tiroler Alpen. Kitzbühel statt Costa Blanca. Zur unmittelbaren Wettkampf-Vorbereitung fährt sie im Juli in ein dreiwöchiges Höhentrainingslager nach Livigno. Essen, Trainieren, Schlafen und wieder von vorne. 21 Tage lang ist dies ihr Tagesablauf.

„Grundsätzlich trainiere ich alleine. Ich genieße es, mich nur aufs Radfahren zu konzentrieren. Ich kann meinen Tagesablauf so gestalten, wie ich will. An einem normalen Trainingstag fahre ich zwischen 130 bis 180 Kilometer und rund 4000 Höhenmeter. Mein Training steuere ich selbst. Ich habe einen groben Plan, bin aber auch eine große ‚Gefühl-Trainiererin‘. Gegen das wattgesteuerte Training habe ich mich lange gewehrt und erst 2016 ausprobiert. Natürlich ist das interessant. Aber am liebsten verlasse ich mich auf mein Gefühl. In den letzten Wochen vor dem Ötztaler habe ich mein Trainingspensum deutlich zurückgeschraubt. Im Prinzip habe ich nicht viel anders gemacht als die Jahre zuvor, außer die extrem harten Trainingseinheiten durch extrem lange Trainingseinheiten zu tauschen.“

Zwischen 10.000 und 15.000 Kilometer fährt Nadja Prieling jährlich auf ihrem Rennrad. Rund 200.000 Höhenmeter kommen dabei zusammen. 2016 hat sie bis August rund 150.000 Höhenmeter gesammelt. Der Ötztaler Radmarathon fasziniert sie schon lange. Ihre Bestzeit steht bei knapp über acht Stunden. Siebenmal ist sie bereits mitgefahren. Oft ist sie Zweite geworden. Zu oft. „Ötztaler 9+1“ war daher auch ein sehr persönliches Projekt – weg vom Gedanken, endlich gewinnen zu müssen. Abstand gewinnen von diesem Ziel und neue Erfahrungen sammeln. Am 19. August 2016 startet sie mit einem Team aus Familie, Freunden und Physiotherapeuten ihren Rekordversuch. Ihre Betreuer begleiten sie in einem Wagen. Sie reichen Verpflegung, sie helfen bei Defekten – und bei nachlassender Motivation. Alle hoffen auf gutes Wetter, gute Beine und gute Laune. Als sie um 6:15 Uhr in Sölden los fahren, geht gerade die Sonne auf und verdrängt eine sternenklare Nacht.

„Nach den ersten drei Tagen hatte ich das Gefühl, dass wirklich alles funktioniert und ich mich tatsächlich nur aufs Radfahren konzentrieren konnte. Das Beeindruckendste für mich war der Zusammenhalt im Team. Es gab in den zehn Tagen keine gröberen Zwischenfälle. Irgendwann hatte ich kein Zeitgefühl mehr. Nur noch jeden Tag aufs Neue die Strecke zu absolvieren. Wir hatten extremes Glück mit dem Wetter. Das war vielleicht mitentscheidend, dass alles so reibungslos klappte.“

Im Durchschnitt verbringt Nadja Prieling rund zehneinhalb Stunden täglich auf dem Rad. Kühtai, Brenner, Jaufenpass und Timmelsjoch. Tagein, tagaus. Immer und immer wieder. Nach den Zielankünften muss alles sehr schnell gehen. Die Energiespeicher müssen wieder gefüllt werden. Es gibt große Portionen Nudeln für Prieling – jeden Tag. Die Kitzbühelerin hat das Glück, dass sie in Ernährungsfragen unkompliziert bis undogmatisch ist. Sie ist weder Vegetarierin noch Veganerin, von speziellen Diäten hält sie nichts. Während der Fahrt reichen ihr die Begleiter Brötchen mit Schinken, Bananen und Äpfel. Ab und zu gibt es zwischendurch auch ein Stück Kuchen. Hauptsache viele Kohlenhydrate – und, was heute fast schon ungewöhnlich ist: Hauptsache es schmeckt.

Schock und Triumph

Bis zum vorletzten Tag klappt alles reibungslos. Einen Leistungseinbruch hat sie nie. Prieling tritt ihren Rhythmus, spricht unterwegs mit ihren Begleitern und hat zwischendurch sogar Zeit für Fotos. Siebenmal hat sie die 238 Kilometer und 5500 Höhenmeter schon absolviert, als sich am achten Tag ihre Achillessehne meldet: mit Schmerzen, die sie bei jeder Pedalumdrehung spürt. Sie muss anhalten, absteigen, warten. Minuten der Verzweiflung. Die Physiotherapeuten im Team drücken und kneten und tapen. Angst vorm Scheitern hat sie nicht. Ans Aufhören denkt sie nie. Von Pannen und Stürzen ist sie während der acht Tage im Sattel verschont geblieben. Nur einmal geraten die anderen Rennradfahrer, die sie einen Teil des langen langen Weges begleiten, in eine brenzlige Situation: Als am Jaufenpass ein Auto in die Gruppe fährt. Die Radfahrer stürzen. Am schlimmsten trifft es Ottmar Peer, den Sprecher des Ötztaler Radmarathons. Bis zu diesem Zeitpunkt hat er sie begleitet. Jetzt wird er mit einem Brustwirbelbruch abtransportiert. Nach dem ersten Schock und einer kurzen Pause fährt Nadja Prieling weiter.

Dann kommt der 28. August: Für 4000 Teilnehmer ist der Ötztaler Radmarathon der Höhepunkt des Jahres. Sie haben alles auf diesen einen Tag ausgerichtet. Für Nadja Prieling ist es der zehnte Ötztaler am zehnten Tag hintereinander. Als der Startschuss fällt, hat sie schon 2142 Kilometer und 49.500 Höhenmeter in den Beinen. Sie ist nervös, hat Respekt und auch etwas Furcht vor dem Geräusch, wenn Carbon auf Asphalt trifft. Gerade die ersten Kilometer des Ötztalers sind gefährlich. Die große anonyme Masse drängt aus Sölden hinaus – auf der Abfahrt nach Oetz. Hier passieren die meisten Stürze – oft aus Unachtsamkeit und Unerfahrenheit.

Nadja Prieling fährt in der Mitte des zerstreuten „Frauenfeldes“ – trotz der enormen Vorbelastung, trotz der müden Muskeln. Gegen die Ötztaler-Siegerin Laila Orenos (die wir in der RennRad 1/2_2017 portraitierten) reicht es erwartungsgemäß nicht. Das war auch nicht ihr Ziel. Nicht in diesem Jahr. Der Ziel war der Rekord: Ötztaler 9+1. Nach zehn Stunden und 33 Minuten überquert sie die Ziellinie in Sölden, zum zehnten Mal – auf Platz 78. des Damen-Klassements.

„Die Zieldurchfahrt war der absolute Wahnsinn: Eine unbändige Freude. Ich war so stolz auf mich und mein Team, darauf, dass wir diesen Rekord geschafft haben. Etwas geschafft zu haben, was noch keiner vorher geschafft hat. Das werde ich nie vergessen. Realisiert habe ich die Dimension erst später. Auch wenn es viele nicht glauben: Die zehn Tage waren tatsächlich ein Genuss, keine Quälerei. Ich musste nicht, ich wollte unbedingt den Rekord holen. Ich habe mich unglaublich schnell wieder von den Strapazen erholt. Schon zwei Wochen später bin ich wieder Rennen gefahren.“

Nadja Prieling genießt die Wochen nach ihrem Rekord. Sie hält Vorträge und berichtet über ihr Projekt „Ötztaler 9+1“. Warum sie diese Strapazen auf sich genommen hat, fragen viele Zuschauer. Viele glauben an eine verlorene Wette. Nadja Prieling aber hat keine Wette verloren, sie hat einen Rekord gewonnen. Ihren Traum vom Ötztaler-Sieg will sie weiter träumen. „Ich habe noch eine Rechnung offen“, sagt sie, „im Vordergrund steht jetzt nicht noch länger zu fahren, sondern schneller zu werden. Mein Traum ist es einmal im Leben den Ötztaler Radmarathon zu gewinnen.“ //

Die Athletin

Nadja Prieling ist 34 Jahre alt und lebt in Reith bei Kitzbühel. Sie arbeitet als Diplom-Shiatsu-Praktikerin in ihrer eigenen Praxis. 2013 und 2015 wurde sie jeweils Zweite beim berühmten Ötztaler Radmarathon. Ihre Bestzeit dort: acht Stunden und zwei Minuten (2015). Während ihres Rekordversuchs fuhr sie die Ötztaler-Runde im Durchschnitt in zehn Stunden und 30 Minuten. Die schnellste Runde legte sie in neun Stunden und 56 Minuten zurück, die langsamste aufgrund von Achillessehnenproblemen am neunten Tag in elf Stunden und 53 Minuten. Prieling nimmt an Radmarathons und Mehretappenrennen in ganz Europa teil. Dafür fährt sie zwischen 10.000 bis 15.000 Trainingskilometer jährlich und legt dabei bis zu 200.000 Höhenmeter zurück. Ihr großes Ziel ist es, einmal den „Ötztaler“ zu gewinnen.

Ihr Training

Nach jeder Rennsaison gönnt sich Nadja Prieling acht Wochen Pause, bevor sie Mitte November wieder mit dem Training für die nächste Saison beginnt. Im Winter setzt sie auf Abwechslung: Skitouren und Langlaufen sowie Rollentraining von maximal einer Stunde pro Woche. Klettern in der Halle nutzt sie als Rumpfstabilitätstraining. Zusätzlich feilt sie im Kraftraum an ihrer Maximalkraft. Erst Mitte März sitzt Prieling wieder verstärkt auf ihrem Rennrad. Zur Vorbereitung auf den Ötztaler Radmarathon absolviert sie regelmäßig ein dreiwöchiges Höhentrainingslager in Livigno. An einem durchschnittlichen Trainingstag fährt sie dort zwischen 130 und 180 Kilometer mit rund 4000 Höhenmetern.

Mehr Infos zu Nadja Prieling: www.roadbike-extrem.at

Die Strecke des Ötztaler Radmarathons

Sölden (1.377 Meter) – Längenfeld – Umhausen – Oetz (820) – Kühtai (2.020) – Kematen (610) – Völs – Innsbruck (600) — Sonnenburgerhof – Schönberg – Matrei am Brenner – Steinach am Brenner – Gries am Brenner – Brenner (1.377) – Sterzing – Jaufenpass (2.090) – St. Leonhard im Passeiertal – Timmelsjoch (2.509) – Sölden (1.377 Meter über dem Meer)

Der Ötztaler Radmarathon ist der wohl bekannteste Radmarathon im Alpenraum. Jährlich bewerben sich rund 20.000 Sportler für die 4000 Teilnehmerplätze. Die Strecke ist 238 Kilometer lang und hat 5500 Höhenmeter. Sie steigt auf knapp 100 von 238 Kilometern an. Das Gros des Teilnehmerfeldes bewältigt den Radmarathon in neun oder mehr Stunden.

Mehr Infos zum Event: www.oetztaler-radmarathon.de

Schlagworte
envelope facebook social link instagram