Gipfel Sturm
Michael Spögler im Porträt: Gipfel Sturm
in Race
Sportler lieben Grenzen, weil sie wissen, dass sie sie verschieben können. Durch Willen, durch Zeit, durch Training. Das Streben danach zählt zu den Grundprinzipien des Leistungssports. Grenzen überwindet man nicht einfach so. Dahinter steckt ein Plan, ein Ziel, Disziplin– und viel Arbeit. Was solchen Ausnahmeleistungen vorausgeht, bleibt meist unsichtbar. Im Vordergrund bleiben die Zahlen: Siege, Platzierungen, Bestzeiten. In der Bestenliste der schnellsten Auffahrtszeiten auf das berühmte Stilfser Joch, den König der Alpenpässe, steht: eine Stunde, 17 Minuten, acht Sekunden.* Davor steht der Name des Rekordhalters, eines jungen Südtirolers: Michael Spögler.
Dieser Artikel erschien in der RennRad-Ausgabe 9/2018.
Der Stelvio zählt zu den berühmtesten Pässen überhaupt. Wer hier oben ankommt, der erfüllt sich einen Traum. Wer hier Rekorde bricht und dabei Profis schlägt, der erfährt Aufmerksamkeit. Am 15. Juli 2018 fuhr Michael Spögler hinauf. Von Prad auf den Gipfel. Durch 48 Kehren. 1840 Höhenmeter bergauf. Am Ende steht eine neue Bestzeit auf dem Segment der App Strava. Michael Spögler ist ein Ausnahmetalent – und eine Ausnahmeerscheinung. Denn er hat eher den Körperbau eines Basketballers als eines Radfahrers. Typische Bergfahrer sind klein und leicht. Michael Spögler ist 2,04 Meter groß. In Relation zu seiner Größe ist er jedoch enorm leicht. Sein Gewicht: 77 Kilogramm. Michael Spögler fällt auf. Im Alltag. Aber noch viel mehr in der Radmara-thon-Szene. In den Spitzengruppen überragt er die kleinen Bergfahrer um sich herum. Spögler fällt jedoch nicht nur durch seine Größe auf, sondern auch durch sein Alter: Er ist erst 23. Die meisten Top-Radmarathonfahrer sind mindestens zehn Jahre älter, oft Ende dreißig oder teils auch weit über vierzig. Michael Spögler ist eine Ausnahmeerscheinung. Durch seine großen Hebelverhältnisse. Und vor allem: Durch seine extreme Leistungsfähigkeit am Berg. Er ist ein Bergfahrer in der Statur eines Rouleurs.
Michael Spögler: „Ich bin zu groß und zu schwer für einen Bergfahrer“
„In der Theorie bin ich zu groß und zu schwer für einen Bergfahrer. Aber schon in der Jugend zählte ich an Anstiegen immer zu den Stärksten. Bis 2015 bin ich nur Mountainbike-Rennen gefahren, unter anderem für die italienische Nationalmannschaft. Erst 2016 habe ich richtig mit dem Rennradfahren angefangen. In der U23-Lizenz-Klasse. Leider fanden dort viele der Rennen im Flachen statt. Das war langweilig. Es war das Gegenteil dessen, was ich gerne mache. Ich liebe Berge. Bergauf habe ich am meisten Spaß.“
Spögler zieht 2017 die Konsequenzen und spezialisiert sich auf Bergrennen. Und: Er nimmt an ersten Alpen-Radmarathons teil. Je länger und schwieriger ein Anstieg ist, desto wohler fühlt er sich. 2018 stellte er an nahezu jedem Alpenpass, den er fuhr, eine neue persönliche Bestzeit auf. Die Rennserie „Südtirol Berg Cup“ führt er aktuell an. Sie umfasst Bergrennen auf fünf Südtiroler Klassiker: Mendelpass, Gampenpass, Stilfser Joch, Penser Joch und Reiterjoch. Das Format scheint wie für Spögler geschaffen. Beim ersten Start am Mendelpass wird er nur knapp geschlagen. Der italienische Bergmeister Andrea Zamboni ist ihm noch eine Radlänge voraus. Die 14,8 Kilometer und 958 Höhenmeter legen beide in nur 39:16 Minuten zurück. Am Gampenpass dreht Spögler die Reihenfolge um. Auf den 17,5 Kilometern und 1205 Höhenmetern entbrennt zunächst ein packendes Duell. Dann zieht Spögler Zamboni davon. Den bis zu zehn Prozent steilen Anstieg legt er von Lana aus mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 21 Kilometern pro Stunde zurück. Im unteren Teil tritt er konstant 400 Watt. Im oberen, dem entscheidenden Abschnitt, fährt er seinen verbliebenen Konkurrenten mit bis zu 470 Watt davon. Er lässt sie hinter sich. Im Ziel hat Spögler einen Vorsprung von 48 Sekunden. Seine Zeit an der Passhöhe des Passo Palade, wie der Gampenpass auf Italienisch heißt: 50:27 Minuten.
Bestes Rennen am Stilsfer Joch
Im Juli gelingt Michael Spögler sein wohl bisher bestes Rennen. Ausgerechnet am berühmten Stilfser Joch. Ausgerechnet am Pass der Pässe. Später spricht er von einem „fast perfekten Tag“.
„Die Temperaturen waren optimal. In den Kehren herrschte kaum Wind. Ich hatte die perfekten Beine. Im unteren Bereich musste ich mich bremsen. Erst die letzten zehn bis zwölf Kilometer bin ich dann am Anschlag gefahren. Mit mehr als 450 Watt habe ich attackiert. Mit rund 400 Watt bin ich ins Ziel gekommen. Meine Durchschnittsleistung am gesamten Anstieg: 403 Watt – Normalized Power.“
Wie kommen solche Leistungswerte eines 23-jährigen Nicht-Profis zustande? Michael Spögler lebt nicht vom Radsport – und nicht alleine für ihn. Im Sommer dieses Jahres hat er sein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Innsbruck abgeschlossen. Aktuell ist er auf Jobsuche. Seine Leistungsfähigkeit in der Saison 2018 resultiert in erster Linie aus einem gezielteren Training als in den Vorjahren. Unterstützt wird er dabei von den Machern des Teams Corratec. Seit 2018 fährt er für das Raublinger Team, eine der erfolgreichen Radmarathon-Mannschaften der Welt. Transalp- und Ötztaler-Siege hat das Team schon auf dem Konto. Die individuellen Trainingspläne der Mara-thon-Spezialisten schreibt der Teammanager Kuno Messmann.
Sechs Mal pro Woche Training
„Ich trainiere derzeit bis zu sechs Mal pro Woche. In der Vorbereitungszeit stehen bis zu 800 Kilometer pro Woche in meinem Trainingsplan. In der Wettkampfperiode reduziert sich der Umfang deutlich. Ich komme dann auf maximal 500 Kilometer. Der Fokus liegt klar auf den Rennen. Dort zählt es. Dort gilt es, ausgeruht und frisch zu sein. Wichtig ist mir aber auch, dass ich ein Gefühl für meinen Körper entwickle, ihm Ruhepausen gönne, wenn er sie fordert.“
Michael Spögler hat mit seinen 23 Jahren ein erstaunliches Gespür dafür, wann Ruhephasen hilfreich sind. Sein Winter-Training besteht zum Beispiel zu einem Großteil aus alternativen Sportarten. Ohne Leistungsmessung. Aus einem Training nach Körpergefühl. Draußen in der Natur. Im Schnee der Südtiroler Berge.
„Im November sitze ich überhaupt nicht auf dem Rad. Im Dezember und Januar fahre ich höchstens zwei Einheiten auf der Rolle. Ich setze stattdessen auf Skilanglauf als Ausdauereinheit. Dabei trainiere ich zu 100 Prozent nach Gefühl statt nach Plan. Parallel dazu mache ich auch Krafttraining mit und ohne Gewichte. Denn: Nur wenn der Kopf frei ist, habe ich im Frühjahr wieder richtig Lust aufs Radfahren. Ich bin kein Fan davon, das ganze Jahr auf dem Rad zu sein.”
Ruhephasen während der Saison
Auch während der Saison baut Spögler solche Ruhephasen ein. Beispielsweise nach seinem ersten Saisonhöhepunkt, der Transalp-Etappenfahrt. Dort ging er mit seinem Partner Michael Markolf als Mitfavorit ins Rennen. Am Ende belegten sie in der Gesamtwertung Rang zwei. Nach Wochen der Erholung und des Neuaufbaus ist die zweite Saisonhälfte gespickt mit Bergrennen und klassischen Alpenmarathons. Auch beim Ötztaler Radmarathon, der inoffiziellen Weltmeisterschaft der Radmarathonfahrer, wird Spögler wohl am Start stehen. In Zukunft könnte er dort einer der prägenden Fahrer werden. Noch sieht er sich aber in einer Außenseiterrolle. Seinen Start 2018 will er nutzen, um zu lernen.
„Der Ötztaler Radmarathon ist ein Mythos. Aber es gibt auch andere große Rennen, die ich gerne gewinnen möchte. Bei Ultra-Marathons habe ich noch ein paar Probleme. Derzeit fühle ich mich auf den kürzeren Strecken wohler. Natürlich hängt dies auch mit meinen Trainingsinhalten zusammen. Der Fokus liegt aktuell einfach auf den kürzeren Distanzen. Umso überraschender kam beispielsweise der Sieg beim Amadé-Radmarathon 2018. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Mein erster Radmarathon-Sieg.“
Die Ziele und Bestmarken werden Michael Spögler wohl auch in Zukunft nicht ausgehen. Sein Leben auf die Leistung – und auf Siege – reduzieren will er nicht. Ihm geht es nur um das Verschieben der eigenen Grenzen. Aufwand und Ertrag müssen dabei stimmen. Daher klingt sein langfristiges Ziel eher bescheiden: „Ich will Job und Sport vereinbaren. Ich muss weiter Spaß haben am Sport, am Radfahren. Dann ist alles möglich.“
Zur Person Michael Spögler
Michael Spögler ist 23 Jahre alt und lebt derzeit im Sarntal, Südtirol. Er bestritt im Alter von acht Jahren sein erstes Mountainbike-Rennen und gewann es auf Anhieb. Seit 2017 ist er hauptsächlich auf dem Rennrad unterwegs. Er gilt als Bergspezialist und Talent für Radmarathons. Er startet für das Team Corratec.
Michael Spöglers Erfolge im Jahr 2018
- 2. Platz Sardinienrundfahrt
- 1. Platz Bergrennen Gampenpass
- 1. Platz Imster Radmarathon
- 1. Platz Amadé Radmarathon
- 2. Platz Tour Transalp
- 1. Platz Bergrennen Stilfser Joch
- 1. Platz Bergrennen Monte Bondone
- 1. Platz Bergrennen Kitzbüheler Horn
- 1. Platz Arlberg Giro
Trainingstipps von Michael Spögler
Ein typisches Schwellentraining in der Vorbereitung:
- 4 x 12 Minuten in Pyramidenform
- 6 Minuten in LB 4 | 400 Watt
- 4 Minuten in LB 4,5 | 450 Watt
- 2 Minuten in LB 5 | 500 Watt
- Dazwischen jeweils 10 bis 15 Minuten locker bei maximal 200 Watt
Plan: Eine Beispiel-Trainingswoche