Comeback
Mark Cavendish: Rekordhalter bei der Tour de France im Portrait
in Race
Rang zwölf – dies war seine beste Platzierung bei einem Radrennen, einer Etappe der Polen-Rundfahrt, in der vergangenen Saison. Auch 2019 gewann er kein Rennen. 2018 hatte er einen Saisonsieg, bei der Dubai Tour. Mark Cavendish war über seinen Zenit, seine Karriere war vorbei. Hieß es. Er war einer von jenen Sport-Stars, die nicht loslassen können, die ihre Karriere nicht früh genug beenden und so den eigenen Status zerstören. Dachten wohl die meisten.
Heute ist Mark Cavendish 36 Jahre alt – und der Wieder-Aufsteiger des Jahres. Er rückte nur als Ersatzmann für den verletzten Super-Sprinter Sam Bennett, der im Vorjahr zwei Tour-Etappen und das Grüne Trikot gewann, ins Aufgebot seines neuen Teams Deceuninck-Quick Step. Dieser Beginn der Comeback-Story des Jahres hat etwas Märchenhaftes.
Das Comeback des Mark Cavendish
Doch die Geschichte beginnt schon früher: mit seinem Teamwechsel. Bis 2016, 2017 war der Mann von der Isle of Man ein Star: 30 Etappensiege bei der Tour, 15 beim Giro, drei bei der Vuelta. Bei allen drei Grand Tours konnte er das Trikot des besten Punktesammlers gewinnen. Auf seiner Siegesliste stehen Klassiker wie Mailand-San Remo und das Rennen um die Straßen-Weltmeisterschaft 2011.
Ruhmreiche Jahre hatte der Radprofi, dessen Laufbahn 2005 beim Team Sparkasse in Bochum begann, hinter sich. Im Trikot des deutschen Teams feierte er auch 2005 seinen ersten internationalen Erfolg: einen Etappensieg bei der Tour de Berlin. Danach ging es steil bergauf: 2006 wechselte er zum T-Mobile-Team, das später unter dem Namen HTC-Columbia in der ersten Liga fuhr. Gleich bei seiner ersten Tour de France 2008 gewann der Brite vier Etappen, 2009 waren es sechs, 2010 und 2011 jeweils fünf, 2011 holte er sich zusätzlich das Grüne Trikot. 20 Etappen-Siege in vier Jahren.
Die Siegesserie reißt
Später wechselte Cavendish für ein Jahr zum Team Sky, dann zum Team Quick Step. Dort blieb er für drei Jahre – und feierte weitere große Erfolge. 2016 folgte der Wechsel zum Team Dimension Data. In seinem ersten Jahr dort gewann er vier weitere Tour-Etappen. Doch dann riss seine Siegesserie.
2017 und 2018 holte er nur jeweils einen Etappensieg in Abu Dhabi. Er erkrankte während dieser Zeit am Epstein-Barr-Virus. Dazu kamen Depressionen, die ihn aus der Bahn warfen. 2020 trug er das Trikot des Teams Bahrain-McLaren. Es war ein Jahr zum Vergessen. „Es waren dunkle Tage“, sagt Cavendish.
Dann wandte er sich an Patrick Lefevere. Der Leiter des belgischen Deceuninck-Quick Step-Teams gab seinem einstigen Schützling eine zweite Chance – zu vergleichsweise geringen Bezügen. Cavendish wollte nur weiter Rennen fahren – und wieder Rennen gewinnen. Nach drei Jahren ohne Sieg. So wollte er nicht abtreten. Er wollte nicht den Kritikern Recht geben müssen. Denen, die sagten, dass seine Zeit längst vorbei sei.
Mark Cavendish in der Saison 2021
Die Saison 2021 begann gut für Cavendish: Er wurde Dritter bei der „inoffiziellen Weltmeisterschaft der Sprinter“, dem Scheldeprijs. Danach ging er bei der Türkei-Rundfahrt an den Start – und begann wieder zu siegen. Er gewann gleich vier Etappen. Dennoch: Damit, dass er in das Tour-Aufgebot seines Teams rücken würde, rechnete er selbst nicht. Patrick Lefevere warf seinem eigentlichen Star-Sprinter Sam Bennett Versagensängste vor und schickte Cavendish ins Rennen. „Es ist schon mehr als ein Traum, wieder dabei zu sein“, sagte Cavendish vor dem Tour-Start in Brest.
Doch er war so viel mehr als nur dabei. Sein Etappensieg in Fougères am vierten Tour-Tag war einer der emotionalsten seiner Karriere. „Wir haben mehr als 100 Etappensiege bei großen Landesrundfahrten, aber noch nie habe ich alle Team-Angehörigen zusammen weinen sehen“, sagte Lefevere danach. „Es war sehr emotional für jeden.“ In Fougères, wo der Brite bereits 2015 triumphiert hatte, sprintete er zu seinem ersten Tour-Tageserfolg seit fünf Jahren und konnte im Ziel seine Tränen nicht zurückhalten. „Ich habe nicht geglaubt, dass ich noch einmal zu diesem Rennen zurückkommen würde, aber so viele Leute haben noch an mich geglaubt“, sagte Cavendish danach.
Sprintzug und Taktik
Ausgerechnet in diesem kleinen bretonischen Örtchen Fougères steht eine eiserne Skulptur, die zu seinen Ehren aufgestellt wurde. Dort hinterließ der britische Radprofi nach seinem Etappensieg eine Botschaft der Zuversicht. „Always believe“, schrieb er, strich die aufgedruckte Zahl seiner Etappensiege durch und kritzelte eine 31 daneben. „Dieses Rennen hat mir das Leben gegeben, das ich habe. Und ich haben dem Rennen das Leben gewidmet, das ich hatte“, sagte Cavendish.
Zwei Tage später holte er seinen nächsten Sieg: 13 Jahre nach seinem ersten Tour-Triumph an diesem Ort und zehn Jahre nach seinem letzten sprintete er in Châteauroux erneut zum Sieg.
Seinen 32. Etappensieg fuhr er schon im Grünen Trikot des Punktbesten ein. Wie aus dem Lehrbuch brillierte sein Sprinterzug auch im Finale der zehnten Etappe nach Valence. Auch der amtierende Weltmeister Julian Alaphilippe zählte dazu und machte Tempo, sodass Cavendish seinen dritten Triumph in nur einer Woche feiern konnte.
Mark Cavendish zieht mit Eddy Merckx gleich
Drei Tage später: Sieg Nummer vier in Carcassonne. Damit stieg die Zahl seiner Etappenerfolge auf 34 und er egalisierte den Rekord des „Kannibalen“, des größten Radsportlers aller Zeiten: Eddy Merckx. „Der erfahrenste und stärkste Fahrer in diesem Sport hat den Sprint gewonnen“, sagte einer seiner härtesten Gegner, der 23-jährige Belgier Jasper Philipsen danach. Sein Alpecin-Fenix-Teamkollege Tim Merlier, der die dritte Etappe im Sprint gewonnen hatte, musste die Tour bereits während der neunten Etappe beenden. Auch der Top-Sprinter Caleb Ewan aus dem Team Lotto-Soudal stürzte früh – während der dritten Etappe – und musste das Rennen vorzeitig beenden.
Dennoch: Mark Cavendish arbeitete bei dieser Tour an seiner eigenen Legende. Er war, und ist, einer der Größten. Unumstritten war er nie. Er agierte in den Sprints meist extrem clever, teils auch rücksichtslos. „Im Rennen bin ich ein Arschloch“, sagte er einmal.
2014 etwa beim Tour-Start in Harrogate in seiner Heimat wollte er unbedingt den Auftakt-Etappensieg und damit auch das Gelbe Trikot. Doch er riskierte zu viel, stürzte, brach sich das Schlüsselbein und schied aus.
Der „neue“ Mark Cavendish wirkt nicht mehr so verbissen wie in früheren Jahren. Es scheint, als betrachte er all das, was gerade geschieht als Zugabe zu einer beispielhaften Karriere.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 9/2021. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.