Schweizer Weltklasse
Marc Hirschi im Portrait: Eintagesfahrer in der Radsport-Weltspitze
in Race
Dies ist seine erste Tour de France, seine erste Grand Tour überhaupt – und das dritte Mal, dass er um den Etappensieg fährt. Die Etappe von Chauvigny nach Sarran ist anspruchsvoll, 218 Kilometer, wellig, bergig. Er ist Teil einer Spitzengruppe – bis zum Fuß eines langen Anstiegs. Bis er aus dem Sattel geht, beschleunigt – und allein ist. Es sind noch rund 30 Kilometer bis ins Ziel. Marc Hirschi kommt an. Mit 47 Sekunden Vorsprung. Nach den Etappenplätzen zwei und drei holt er sich nun seinen Sieg. „Ich habe immer gezweifelt, die Verfolger waren nah dran. Ich hatte das Bild noch aus den letzten Etappen im Kopf und fürchtete, dass es wieder nicht reichen würde. Erst auf den letzten Kilometern habe ich an mich geglaubt. Es ist mein erster Profisieg, und das gleich bei der Tour. Es könnte nicht besser laufen. Es fühlt sich wie ein Traum an“, sagte er im Ziel.
Marc Hirschi feiert Tour-Etappensieg
Bereits drei Tage zuvor, während der neunten Etappe, war er der stärkste Fahrer des Pelotons: Rund 60 Kilometer vor dem Ziel setzte er sich aus einer Fluchtgruppe ab – und wurde erst zwei Kilometer vor dem Ziel abgefangen. Im Ziel der Grande Boucle wurde diese Fahrweise belohnt: Marc Hirschi wurde als aktivster, aggressivster Fahrer der Tour de France ausgezeichnet.
Dass er einer der stärksten Eintages-Fahrer der Welt ist, zeigte er auch danach: Innerhalb von zwei Wochen wurde er Dritter des extrem schweren Weltmeisterschafts-Rennens von Imola, Sieger des Flèche Wallonne und Zweiter von Lüttich-Bastogne-Lüttich. Die Namen der Fahrer, die bei diesem Klassiker den Sieg unter sich ausmachten: Primož Roglič, Tadej Pogačar, Matej Mohorič, Mathieu van der Poel, Julian Alaphilippe – und Marc Hirschi.
Der Weltmeister Alaphilippe war es, der den jungen Schweizer im Sprint mit einer „Welle“ aus dem Tritt brachte. „Was soll ich sagen, ich habe nicht gewonnen. Es war nicht fair von Alaphilippe, aber das Ergebnis ist nicht mehr zu ändern“, sagte Hirschi im Ziel. Dies sagt viel über ihn aus. Es zeigt zum einen: eine grundlegende Gelassenheit. Und zweitens: ein ebensolches Selbstbewusstsein.
Marc Hirschi kam als junger Fahrer bei einem der härtesten und renommiertesten Klassiker mit den weltbesten Fahrern – unter anderem dem Weltmeister und dem Sieger und dem Zweitplatzierten der Tour – ins Ziel. Und will nichts anderes als den Sieg.
Schon früh der Fahrer der Zukunft
In der Schweiz gilt Hirschi bereits seit Jahren als der Fahrer der Zukunft. Als Supertalent. „Seit Tony Rominger hatten wir niemanden mit einem solchen Killerinstinkt“, sagt Thomas Peter, der Sportdirektor von Swiss Cycling. Marc Hirschi ist der erste Schweizer seit acht Jahren, der einen Tour-Etappensieg holte – und der erste seit Ferdy Kübler im Jahr 1952, der den Flèche Wallonne gewann.
Er stammt aus demselben Ort, Ittigen, einem Vorort der Hauptstadt Bern, wie sein Vorgänger – der Schweizer Radsportheld und sein heutiger Manager Fabian Cancellara. Noch heute lebt Hirschi in seiner Heimat, mit seinen Eltern und drei Geschwistern. Wie lange noch? „Er ist sehr bodenständig und wird sicher nicht anfangen, First Class zu fliegen und Luxusschlitten zu fahren“, sagte Fabian Cancellara der NZZ. „Er wird auch mit dem wachsenden Druck umgehen können.“ Dennoch: Die Erwartungen der Schweizer Fans sind extrem hoch.
Supertalent
So prophezeite etwa Tony Rominger, der einstige Gesamtsieger des Giro d’Italia und der Vuelta: „Seit Alex Zülle in den 90er-Jahren wartet die Schweiz auf einen, der in den Rundfahrten ganz vorne mitmischen kann. Marc Hirschi könnte genau dieser Fahrer sein.“ Allerdings ist die Frage, ob sich Hirschi in die Richtung eines Gesamtwertungs-Fahrers entwickeln wird, noch eine völlig offene.
Die meisten Experten erwarten, dass er sich auf jenen Bereich fokussiert, in dem er in der Saison 2020 in die Weltspitze gefahren ist: Klassiker.
Schlechter Start in die Corona-Saison 2020
Dabei begann diese so besondere „Corona-Saison“ 2020 schlecht für ihn: mit lang andauernden Hüftproblemen. Er war kurz davor, sich operieren zu lassen. Doch vor und während der Rennpause wählte er den konservativen Ansatz – die Arbeit mit einem Physiotherapeuten. Er änderte seine Sitzposition auf dem Rad. Und überwand die Probleme. Gerade rechtzeitig für den Einsatz bei seiner ersten dreiwöchigen Rundfahrt.
Einer, der Hirschis Entwicklung schon lange verfolgt, ist Beat Müller. Der Leistungssportchef des Schweizer Radsportverbandes hat ihn schon früh auf seine Fähigkeiten getestet – unter anderem auf der Radrennbahn von Grenchen, am Sitz des Schweizer Radsport-Verbandes. Stefan Küng, der heute einer der weltbesten Zeitfahrer ist, absolvierte die 3000 Meter dort als 16-Jähriger in 4:14 Minuten. Marc Hirschi unterbot im selben Alter Küngs Bestmarke um acht Sekunden. Trotz seiner anderen Statur und seines Leichtgewichts: Er wiegt heute, bei einer Größe von 1,74 Meter, 61 Kilogramm.
Von da an ließen Müller und Sportdirektor Thomas Peter dieses junge Talent nicht mehr aus den Augen. „Wir hatten in den letzten Jahren niemanden wie ihn. Tony Rominger war vielleicht der Letzte“, vergleicht ihn Peter mit dem früheren Schweizer Rundfahrt-Spezialisten.
Marc Hirschi: Klassiker-Spezialist
Marc Hirschi hat nicht nur körperlich viel Potenzial, sondern ist auch mental sehr stark und reifer als viele seiner Altersgenossen. „Viele Fahrer sind während des Rennens einfach zu beeinflussen, indem man ihnen falsche Signale sendet“, sagte er im Interview. „Wenn es mir schlecht geht, spiele ich ihnen vor, dass ich mich stark fühle. Bin ich dagegen gut unterwegs, suggeriere ich, demnächst einzubrechen. Dann tritt der Gegner vielleicht an, weil er denkt, er könne mich mit einer kurzen Attacke stehen lassen. Aber er verbraucht damit nur wertvolle Energie. Das kann ich später gegen ihn verwenden.“ Der frühere Schweizer Nationaltrainer Danilo Hondo nannte ihn den „Killer“, da er ein Rennen „lesen“ könne. Er erfasse Situationen sehr schnell, schätze seine Gegner richtig ein, sei mutig und attackiere im richtigen Moment.
Marc Hirschi kam durch seinen Vater, einen Hobby-Mountainbiker, zum Radsport. Er begann mit dem Mountainbike-Sport.
Ausbildung
Mit 14 Jahren war er zum ersten Mal bergauf schneller als der Vater. „Mir war früh klar, wo ich hinwill. Darum habe ich auf viel verzichtet“, sagt der heute 22-Jährige. Neben dem Leistungssport absolvierte er noch eine kaufmännische Ausbildung bei der Schweizer Armee. In seiner knappen Freizeit liest er alles über die richtige Ernährung, Aerodynamik, Rennmaterial. Schon früh ordnet er seinem Sport viel unter. Sein Training beruht von Beginn an auf objektiven Daten. Morgens nach dem Frühstück legt er sich häufig noch einmal hin – für zwei Stunden Schlaf vor dem Training.
2015 wird er Schweizer Junioren-Meister auf der Straße, 2016 Junioren-Weltmeister im Madison auf der Bahn. Im selben Jahr startet er bei drei Rundfahrten – und kommt dreimal aufs Podest: Er gewinnt die Tour du Pays de Vaud und wird jeweils Dritter beim GP Patton und beim GP Rüebliland. 2018 wird er – auf der Straße – sowohl Europa- als auch Weltmeister der U23-Klasse. Im Jahr danach steigt er vom Development- in das Sunweb-WorldTour-Team auf. „Er ist ein Multitalent“, sagt sein Sunweb-Trainer Luke Roberts. Bisher entwickelt sich Hirschi als Allrounder, als Fahrer für schwere Eintagesrennen.
Schon 2019, in seiner ersten Saison in der WorldTour, lieferte er konstant gute Resultate ab: Er war Dritter der Clásica San Sebastián, trug das Trikot des besten Nachwuchsfahrers der Deutschland Tour, platzierte sich in der schweren Baskenland-Rundfahrt zweimal unter den fünf Besten und war Zweiter der Schweizer Zeitfahrmeisterschaft hinter Stefan Küng. Ende 2021 läuft Hirschis Vertrag mit seinem Team Sunweb aus. Er könnte zu den begehrtesten Fahrern überhaupt gehören.
Denn Marc Hirschi ist: der vielleicht stärkste Eintages-Fahrer der kommenden Jahre.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 1-2/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.