Leidenschaft
Lukas Klöckner: Extrem-Radsportler im Portrait
in Race
Dunkelheit, Stille, 170 Herzschläge pro Minute. Der kleine Lichtkegel seines Scheinwerfers erhellt die Straße vor ihm. Er hört seinen Atem, gleichmäßig, ruhig, tief. Das Surren der Kette, das Abrollgeräusch der Reifen auf dem Asphalt. Lukas Klöckner, 22, sitzt seit rund sechs Stunden auf seinem Rennrad. Er ist auf dem Weg zu seinem größten Extremradsport-Erfolg. Dies ist seine 68. Runde – auf dieser Motorsport-Rennstrecke in Oschersleben. Zwei mehr als sein nächster Verfolger. Ein Viertel des 24-Stunden-Rennens und 240 Kilometer liegen hinter ihm.
Er weiß, dass er gewinnen kann. Er ist in Top-Form – körperlich. Die Sonne geht unter. Es ist September, um 20 Uhr ist es dunkel. Dies ist der Moment, in dem Lukas Klöckner eine Entscheidung trifft. Eine Entscheidung, die sein Leben prägt. Eine Entscheidung, die zu einem Wendepunkt wird: Er steigt vom Rad.
Lukas Klöckner: Radmarathons und Langstrecken
Acht Jahre zuvor. Der Anfang. Lukas Klöckner kauft sich, von seinem Konfirmationsgeld, sein erstes Rennrad. Der Radsport wird für ihn zu einem Mittel dazu, Freiheit zu fühlen und zu erleben. Das Ziel: einmal mit dem Rad in die Ferien, nach Österreich. Er fährt, noch im selben Jahr, im Alter von 14, 600 Kilometer in drei Tagen, untrainiert. Zu lang, zu viel, zu unvorbereitet – eigentlich. Doch von nun an fährt er, so viel und so lange er kann.
Ihn fasziniert von Anfang an die Langstrecke, das Extreme – weniger die Lizenzrennen, kürzere, intensivere, schnellere Rennen. Mit 15 Jahren fährt er den Highlander Radmarathon. Um starten zu dürfen, muss er eine Sondergenehmigung vorlegen. Tausende Radfahrer stehen um ihn herum am Start, er ist mit Abstand der jüngste. Am Start ist er aufgeregt, die Fahrer um ihn herum wirken, als hätten sie das schon hunderte Male erlebt.
Der Start ist schnell, er fährt mit. In einer Gruppe fährt er über den ersten Anstieg, das Bödele. Ab dem Faschinajoch ist er die meiste Zeit über alleine. Zum ersten Mal spürt er die Schmerzen, die Müdigkeit.
Wachsende Begeisterung
Und er hat Pech: In der Abfahrt des letzten Passes, des Furkapasses, erleidet er einen Reifenschaden. Das Ziel erreicht er nach 7:41 Stunden, nach 180 Kilomtern und mehr als 4000 Höhenmetern.
Lukas Klöckner entstammt keiner Radsportfamilie. Der Sport hat keine große Bedeutung in seinem Umfeld – doch die Begeisterung in ihm wächst. „Mich haben von Anfang an die Extrem-Rennen fasziniert. Die Langstrecke, Tag und Nacht auf dem Rad. Das wollte ich auch erleben.“
Die Ziele des Lukas Klöckner
24-Stunden-Rennen, lange, schwere Radmarathons, das 5000 Kilometer lange Race Across America. Für diese Ziele trainiert er, dafür fährt er Rad. Bald lebt er dafür. Schon im Jahr darauf sucht er sich neue, extreme Herausforderungen. Er nimmt, mit 16 Jahren, am 24-Stunden-Rennen von Kelheim teil. Nachts, in der Dunkelheit, bricht er ein. Er macht eine längere Schlafpause und schafft dennoch 500 Kilometer. Er fährt zum Training von Siegen aus an die Nordsee – 358 Kilometer in 12:31 Stunden – und nimmt am Swiss-Cycling-Marathon teil.
Die Zahlen: 700 Kilometer und 7000 Höhenmeter in knapp 26 Stunden. Bei diesem Rennen können sich die Teilnehmer für das Race Across America qualifizieren. Dieses Ziel ist noch nicht in seinem Kopf, als er morgens in Bern losfährt. 14 Stunden später, als es dunkel wird, denkt er an dieses langfristige Ziel. „Nachts habe ich mich wie ein richtiger Extrem-Radsportler gefühlt. Wie einer jener Fahrer, die am Ziel sind, jener Fahrer, die am Race Across America teilnehmen.“ Die Straße am Zürichsee wird nur von den Scheinwerfern seines Begleitfahrzeugs erhellt. Er fährt im „Flow“.
Doch dann, später in der Nacht, erlebt er: extreme Müdigkeit, Übelkeit, Schmerzen. Es ist Wochenende. In den größeren Ortschaften sieht er feiernde Menschen in den Bars und Kneipen. Die meisten Feiernden sind in seinem Alter. Doch Lukas Klöckner vermisst nichts. Er genießt die Ruhe. Er macht genau das, was er machen will: Radfahren. So lange und so weit wie möglich. Immer wieder setzt er sich neue Ziele – unabhängig von den Extrem-Rennen. Etwa: eine 385-Kilometer-Trainingsfahrt von seiner Heimat Siegen an die Nordsee oder eine von Siegen nach Rijeka, Kroatien – für den guten Zweck.
Lukas Klöckner: Nachtfahrten und Wendepunkte
In den folgenden fünf Jahren startet er bei immer mehr Ultracycling-Rennen. Bald mit viel Erfolg – obwohl er am Start immer einer der Jüngsten ist. Die meisten Langdistanz-Spezialisten sind weit über 30 Jahre alt. Lukas Klöckner wird mit 18 Jahren Dritter des Race Across Germany. Die Strecke: 1111 Kilometer von Flensburg nach Garmisch-Partenkirchen. Im Norden fährt er gegen den starken Wind. Am zweiten Tag erreichen die Temperaturen 34 Grad – und auch die Zahl der Höhenmeter steigt. Er kämpft gegen die extreme Müdigkeit und Schmerzen im Knie, die ihn besonders in den Mittelgebirgen, in der Rhön und im Frankenwald, bremsen.
Nach 47:11 Stunden erreicht er das Ziel. Damit schafft er die Qualifikation für das Race Across America. Doch er löst sie nicht ein. Er meldet sich nicht an. Er sieht sich mit seinen 18 Jahren weder körperlich noch mental – und auch nicht finanziell – in der Lage, um das 5000-Kilometer-Rennen quer durch die USA zu überstehen. „Ich habe mich gefragt, ob der Aufwand den Ertrag rechtfertigen kann.“ Er scheut den Druck, ein großes Team aufzubauen, das mit ihm diese Herausforderung, dieses Abenteuer erleben soll.
Extrem-Rennen in Europa
Er bleibt vorerst bei den Extrem-Rennen in Europa. Er wird Dritter bei der „Schinderei“, einem 24-Stunden-Rennen in der Nähe von Graz. Hinter Rainer Steinberger und Julian Eisenbeis, zwei erfahrenen Langdistanz-Spezialisten. „Wenn das ein 26-Stunden-Rennen gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich noch um den Sieg mitfahren können.“ Er fühlte sich bis zum Ende gut, lag gleichauf mit einigen Vierer-Teams.
Es bleibt der bislang größte Erfolg seiner Extrem-Radsportkarriere. Zwei Jahre später denkt er sich eine eigene Herausforderung aus – ein neues Ziel: 830 Kilometer nonstop fahren. Er schafft es. Nach 34 Stunden. Es ist Sommer, doch nachts liegen die Temperaturen bei nur drei, vier, fünf Grad. Feuchter Nebel kommt auf. „Ich musste immer wieder abstiegen und mich aufwärmen. Ich war, physisch wie psychisch, am Ende. Aber der Gedanke ans Aufgeben kam nie auf. Keine Millisekunde lang.“
Gefühl der Geschwindigkeit
Dunkelheit, Ruhe, Einsamkeit: Das Fahren durch die Nacht fasziniert ihn. Das Gefühl der Geschwindigkeit, die schemenhafte Landschaft in der Dunkelheit, die Ruhe um ihn herum. Er liebt es, nachts auf seinem Rennrad unterwegs zu sein – bis zu jenem Abend auf der Rennstrecke von Oschersleben. Bis zu diesem einen Moment, der das vorläufige Ende seiner Extrem-Radsportkarriere bedeutet. Seine Mutter, sein Stiefvater und einige Freunde begleiten ihn zu seinen Rennen.
Auch beim VeloFondo in Oschersleben sind sie dabei. Zu ihnen fährt er nach sechs Stunden des 24-Stunden-Rennens. Und steigt ab. Und nicht wieder auf. Das war es. Das Ende einer Leidenschaft. „Ich hatte kein körperliches Problem. Es war nicht die Erschöpfung. Ich fühlte mich gut. Ich kann bis heute nicht sagen, woran es gelegen hat. Es ging einfach nicht mehr weiter.“ Die Freude an den langen Fahrten durch die Nacht, um schneller zu sein, um zu gewinnen – diese Freude war weg.
Das Ende für Lukas Klöckner
Mit 22 Jahren beendet Lukas Klöckner seine Extrem-Radsportkarriere. Nachts radfahren? Ist für ihn seitdem unvorstellbar. Es ist keine persönliche Krise, es ist kein trotziger Abschied vom Sport. „Ich wollte nie das Rad in die Ecke stellen. Ich wollte immer weiter Radfahren, auch die Qualen im Rennen und im Training waren nie ein Problem.“
Er lebt weiterhin für den Radsport. Die Landschaft, die Natur, das Erleben, die Gefühle auf dem Rad – dies ist, was er noch immer sehen und fühlen will. „Ich liebe den Radsport. Und das wird immer so bleiben.“
Neue Motivation und neue Ziele
Der Radsport bestimmt weiterhin seinen Alltag. Er bleibt seine Passion. Schon während seiner Zeit als „Ultra-Radsportler“ begann er eine Ausbildung zum Industriekaufmann und arbeitet nun Vollzeit in seiner Heimat im Siegerland. Sein Arbeitstag startet früh, oft um sechs oder sieben Uhr morgens – sodass er meist schon ab 15 Uhr Zeit für sein Training hat. Fast jeden Tag.
An den Wochenenden fährt er sechs, acht, zehn oder zwölf Stunden lange Einheiten. Mit ein paar Freunden fährt er ins 500 Kilometer entfernte München – einfach so. „Ich habe in meiner Jugend auch andere Sportarten ausprobiert, Volleyball oder Fußball. Aber ich könnte mir niemals langfristig einen Sport in einer Turnhalle vorstellen.“ Also fährt er Rad. Um in der Natur zu sein. Um das Gefühl von Freiheit zu erleben.
Emotionen und Liebe zum Radsport
Viele kennen die Emotionen, die er beschreibt. Wenige leben den Radsport so intensiv wie er. Bis zu 800, 900, 1000 Kilometer fährt er pro Woche. Einen Trainingsplan hat er nicht. „Ich fahre nur nach Gefühl.“
Ein Wattmesser gehört dennoch zur Standardausstattung an seinem Rad: Er ist ein Perfektionist, er mag die Zahlen. Seine selbstvorgegebenen Intervalle und Trainingsbereiche will er möglichst exakt einhalten. Seit 2019 trainiert er für neue Ziele.
Lukas Klöckner ist ein Teil des Jedermann-Teams Strassacker. Was ihn in seiner Jugend nur wenig interessierte, gehört nun zu seinem Alltag: Taktik, hohe Intensitäten, Rennen von wenigen Stunden Dauer. Er nimmt an Rennen wie der Tour de Kärnten, Rund um Köln und dem Münsterland Giro teil. Als Helfer trägt er zu einigen Siegen in der Einzel- und in der Teamwertung bei. Die Rennen der German-Cycling-Cup-Serie sind in der Regel zwischen 100 und 150 Kilometer lang – und damit, aus seiner Sicht, fast schon Sprint-Distanzen. „Ich habe deshalb mein Training verändert. Aber auf die ganz langen 200-, 300-, 400-Kilometer-Einheiten will ich einfach nicht verzichten.“
Lukas Klöckner: Keine Rennen im Jahr 2020
Durch die Corona-Pandemie fanden 2020 keine Rennen für ihn statt – doch durch seine Teamkollegen näherte er sich wieder seiner „alten“ Leidenschaft an: Langdistanzen. Er übernahm bei einem dreifachen Ironman-Triathlon die Radstrecke – und fuhr 540 Kilometer in 16 Stunden. „Was ich dabei gefühlt habe, hat mich selbst überrascht: Das Langdistanz-Rennen hat mir Spaß gemacht. Wie früher. Dieses Erlebnis hat einige Denk-Prozesse ausgelöst.“
Denk-Prozesse, die zu neuen Ideen und Zielen führten. Diese lauten, unter anderem: die 24 Stunden von Kelheim und das rund 570 Kilometer lange Rennen von Trondheim nach Oslo durch die Weite Norwegens. Weite Strecken, sehr lange Fahrten. Derzeit: nur am Tag. In der Zukunft: vielleicht auch wieder in der Nacht.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 5/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.
Der Athlet: Lukas Klöckner
Lukas Klöckner ist 24 Jahre alt. Von 2013 bis 2018 fuhr er vor allem Extrem-Radrennen. Er startete insbesondere bei 24-Stunden-Rennen und Ultracycling-Events wie dem Race Across Germany. Seit 2019 fährt er Jedermann-Rennen für das Team Strassacker. Der Industriekaufmann legt zwischen 20.000 und 30.000 Kilometer jährlich auf dem Rad zurück.
Erfolge und Erlebnisse
3. Platz
24-Stunden-Rennen „Schinderei“ 2016
745 Kilometer Gesamtstrecke
3. Platz
Race Across Germany 2015
1111 Kilometer | Bruttozeit: 47:41 Stunden
5. Platz
Race Around Austria Challenge
560 Kilometer | Bruttozeit: 18:28 Stunden
Highlander Radmarathon 2012
Mit 15 Jahren | Fahrzeit: 7:41 Stunden | 180 Kilometer | 4000 Höhenmeter
Das Team
Das Team Strassacker existiert seit dem Jahr 2000. Der Start bei dem Jedermann-Rennen im Rahmen der Deutschland-Tour 2001 war das erste Rennen des Teams. Gegründet wurde es von Franco Adamo. Der Hauptsitz ist in Süßen bei Göppingen in Baden-Württemberg.
Heute ist das Team eines der erfolgreichsten Amateur-Teams in Deutschland und dem umliegenden Ausland. 2019 waren die Fahrer unter anderem beim Riderman, dem Münsterland Giro, der Deutschland-Tour und dem proAM Hannover am Start. 2020 fanden keine Jedermann-Rennen mit Beteiligung des Teams statt. Mehr gibt es auf der offiziellen Website des Team Strassacker.
„Das Team Strassacker bietet mir ein sehr professionelles Umfeld und eine Truppe voller Radfahrer, die genauso drauf sind wie ich. Wir haben einfach alle sehr viel Spaß am Radfahren. Und: Wir wollen uns verbessern. Ich möchte durch das Team viel lernen und dabei stärker werden, zugleich möchte ich auch dem Team etwas zurückgeben und mich in den Rennen als Helfer für die anderen einsetzen.“ Lukas Klöckner