Konstant
Lisa Brennauer: Erfolge und Ziele des Radsport-Stars
in Race
Eine Sekunde. Eine Sekunde bringt ihr den Sieg. Nach neun Kilometern am Limit – auf dem Zeitfahrrad. Die Strecke ist flach. Es ist windig. Lisa Brennauer fährt die neun Kilometer in 12:40 Minuten. Durchschnittsgeschwindigkeit: 42,63 km/h.
Sie ist damit eine Sekunde schneller als die Zweitplatzierte, als eine der weltbesten Fahrerinnen: als Elisa Longo Borghini. Dieses Zeitfahren im Westen Madrids bildet die zweite von drei Etappen der Ceratizit Challenge. Schon am Tag zuvor zeigte Brennauer, wofür sie – seit vielen Jahren – steht: Konstanz. Das 82 Kilometer lange Rennen fand nach zwei Stunden Fahrzeit mit einem Massensprint auf einer ansteigenden Zielgeraden seinen Abschluss. Vier Fahrerinnen lösen sich vom Feld – darunter auch Lisa Brennauer. Sie wird Dritte. Die Siegerin: die wohl schnellste Sprinterin der Welt, die erst 21-jährige Niederländerin Lorena Wiebes aus dem deutschen Team Sunweb. Die ersten Vier dieser Etappe gewinnen drei Sekunden auf alle anderen. Drei sehr wichtige Sekunden für Lisa Brennauer.
Der dritte Tag, die letzte Etappe. 97 Kilometer. Wieder kommt es zu einem Massensprint. Wieder ist es eine ansteigende Zielgerade. 300 Meter vor der Linie ist Brennauer am richtigen Hinterrad. Dem der Italienerin Elisa Balsamo. Doch auf den letzten 150 Metern öffnet sich eine Lücke.
Lisa Brennauer wird Siebte – und gewinnt: die Gesamtwertung. Und damit das letzte Rennen der Women’s WorldTour 2020. Sie verteidigt damit ihren Titel aus dem Vorjahr. Es ist der Abschluss einer besonderen, für sie sehr erfolgreichen Saison. Die Zahl ihrer Renntage: 22. Die Zahl ihrer Top-Ten-Platzierungen: 15. Das nennt man wohl Konstanz.
Zeitfahren und Sprints
Die Straßensaison begann für die 32-jährige Allgäuerin erst am 1. August – mit der „Strade Bianche“. Das Rennen über die weißen Straßen der Toskana wurde vom März in den August verlegt, an den Beginn des „Re-Starts“ der Saison, die wegen des Coronavirus beinahe ein halbes Jahr stillstand.
Das Rennen auf den Schotterpisten um die toskanische Stadt Siena bedeutet im Hochsommer: Staub und Hitze. Das Tempo ist hoch. Die steilen Anstiege auf losem Untergrund und die hohen Temperaturen sorgen dafür, dass das Feld in viele Teile zerfällt. Lisa Brennauer kommt als Achte ins Ziel.
3:26 Minuten hinter der Siegerin – der „Überfahrerin“: Annemiek van Vleuten. Für die Niederländerin ist es zu diesem Zeitpunkt der fünfte Sieg im fünften Rennen.
Beeindruckende Bilanz der Lisa Brennauer
Doch auch die Bilanz der Deutschen ist beeindruckend: acht, eins, vier, sechs, eins – so lauten ihre ersten fünf Platzierungen dieser so besonderen „Corona“-Saison. Ende August verteidigt Lisa Brennauer ihren Deutschen Meistertitel auf der Straße. Wenige Stunden später fliegt sie in die Bretagne, um bei den Europameisterschaften zu starten. Im Einzelzeitfahren verpasst sie als Vierte eine Medaille – um nur 15 Sekunden.
Vier Tage später gewinnt sie die Goldmedaille: in der Mixed-Zeitfahr-Staffel. Der Ablauf: Erst absolvieren drei Männer zwei Runden auf dem Kurs in Plouay, dann drei Frauen. Die Distanz: je 27,3 Kilometer. Das deutsche Herren-Trio, bestehend aus Michel Heßmann, Justin Wolf und Miguel Heidemann, ist noch unerfahren. Es fährt dennoch stark und übergibt, auf Platz zwei liegend, an Lisa Klein, Mieke Kröger und Lisa Brennauer.
Lisa Brennauer als Lokomotive
Vor der letzten Runde haben die Deutschen elf Sekunden Rückstand auf das Team aus der Schweiz. Mit Lisa Brennauer als „Lokomotive“ wird aus dem Rückstand ein Vorsprung von 26 Sekunden. Gemeinsam mit ihrer Teamkollegin auf der Bahn, Lisa Klein, überquert sie die Ziellinie. „Rückblickend war diese Rennwoche das Highlight des letzten Jahres für mich. Ich wurde Deutsche Meisterin und belegte nur einen Tag später in Plouay den vierten Platz im Zeitfahren“, sagt Brennauer. „Da habe ich mir gesagt: Ich bin international wieder da. Schon bei Strade Bianche habe ich gespürt, dass die Form stimmt. Dann der EM-Erfolg, der Sieg mit der Mannschaft, das gute Abschneiden im Straßenrennen, bei dem ich trotz eines Sturzes unter die ersten Zehn gefahren bin. Das hat mir unglaubliche Motivation für den weiteren Saisonverlauf gegeben.“
Dieser sieht zunächst die Weltmeisterschaften vor, die kurzfristig von der Schweiz in das italienische Imola verlegt wurden. Im Einzelzeitfahren wird sie erneut Vierte. Wieder fehlen nur 14 Sekunden zu einer Medaille. Seit 2015 wartet die beste deutsche Einzelzeitfahrerin auf eine Medaille in dieser Disziplin. Im Jahr zuvor war sie im spanischen Ponferrada nach Hanka Kupfernagel und Judith Arndt die dritte Deutsche, die Weltmeisterin im Zeitfahren wurde. „Jeder große Erfolg hat seine unglaublichen emotionalen Momente, die einem für immer bleiben, aber der WM-Titel im Einzelzeitfahren war schon besonders.“
Lisa Brennauer: Fast ein Jahrzehnt in der Weltspitze
Seit fast einem Jahrzehnt fährt Lisa Brennauer konstant in der Weltspitze. Nicht nur auf der Straße, sondern auch auf der Bahn. Dabei kommt es auch auf das Mentale an. Die Zielsetzung spielt eine zentrale Rolle. „Ich habe ein Bild im Kopf: Wie ich auf dem Siegertreppchen ganz oben stehe. Dazu kommen die kleinen Momente, neue Fortschritte, die man im Training macht, bis hin zu neuen Bestleistungen. Das ist es, was mich Tag für Tag motiviert.“
Ihr nächstes großes Ziel lautet: die Olympischen Spiele von Tokio 2021. Es wären ihre dritten Spiele. „Es werden sicherlich andere Spiele werden, als ich sie schon zweimal erlebt habe. Ich glaube, dass sie stattfinden werden, wenn auch mit keinen oder nur wenigen Zuschauern. Ich hoffe es jedenfalls – und schaue optimistisch nach vorne, nach Japan, weil ich aus einer Sportart komme, die es geschafft hat, nach dem Lockdown im letzten Frühjahr wieder durchzustarten. Unsere Meisterschaften, mit Ausnahme der Zeitfahr-DM, konnten alle stattfinden.“
Bahn und Straße
Der Traum von einer Olympiamedaille ist ihr großer Antrieb. Bei Welt- und Europameisterschaften gewann sie bisher 13 Medaillen, eine olympische fehlt noch in ihrem Palmarès. Bei ihren ersten Spielen, jenen von in London, war sie erst 21 Jahre alt. Als Teil des deutschen Frauen-Vierers auf der Bahn fuhr sie auf Rang acht.
Vier Jahre später waren die Voraussetzungen andere: In das Einzelzeitfahren von Rio de Janeiro startet sie als Mitfavoritin. Die Verhältnisse: extrem schlecht. An den Tagen zuvor schien an der Copacabana die Sonne, der Wind spielte nur an der Küstenstraße eine Rolle. Doch statt der Sonne erwarteten die Athleten an diesem Tag Starkregen und Sturm.
Lisa Brennauer fährt dennoch stark – zumindest denkt sie das auf der Strecke. Während jenen anspruchsvollen 30 Kilometern. Doch: Am Ende reicht ihre Zeit „nur“ für Platz acht. Sie ist 56 Sekunden langsamer als die Siegerin: die damals 42-jährige US-Amerikanerin Kristin Armstrong. „Ich bin natürlich enttäuscht. Unterwegs habe ich mit Blick auf meine Werte gedacht, das muss ein Toprennen sein“, sagte Brennauer damals nach dem Rennen.
Endlich eine Medaille bei Olympia
2021, bei ihrer dritten Teilnahme an den Olympischen Spielen, will sie nun „endlich“ eine Medaille. Sie wird dafür mehrere Möglichkeiten haben – auf der Straße und auf der Bahn. Vier Jahre lang ist Lisa Brennauer nicht auf der Bahn gefahren. Sie konzentrierte sich von 2013 bis 2017 ausschließlich auf Straßenrennen. Obwohl sie ihre ersten großen Erfolge auf den Holzovalen einfuhr: Sie wurde Deutsche Meisterin in der Einerverfolgung und im Omnium und gewann mehrere EM-Medaillen in der Mannschaftsverfolgung. Nach dem Rückzug von der Bahn verlief ihre Karriere auf der Straße extrem erfolgreich.
Doch nach den großen Siegen mit Gold und Silber bei der WM 2014 und der Bronze-Medaille im WM-Zeitfahren 2015 wurden die internationalen Erfolge weniger.
Nach einer – für ihre Verhältnisse – wenig erfolgreichen Saison 2017 mit „nur“ vier Siegen und dem zwölften Platz im WM-Zeitfahren wollte sie etwas verändern. Sie brauchte neue Reize, einen neuen Antrieb. Sie fand ihn in einer Rückbesinnung: auf die Bahn. „Mit Lisas Rückkehr auf die Bahn kehrte der Erfolg zurück“, sagt der Bundestrainer André Korff. Bei ihrem ersten Rennen in der Mannschaftsverfolgung verbesserte Brennauer – zusammen mit Gudrun Stock, Charlotte Becker und Lisa Klein – den deutschen Rekord um mehr als vier Sekunden. „Ich hatte nicht mal mehr ein Bahnrad im Keller. Deshalb war ich nach vier Jahren Pause schon sehr nervös vor dem ersten Training. Man muss sich schon umgewöhnen: Geschwindigkeit, Kurvendruck, starrer Gang, Abstand – aber nach fünf Minuten war wieder alles wie früher“, sagt Lisa Brennauer.
Die letzte Medaille des deutschen Frauen-Vierers, EM-Silber, datierte aus 2011. Mit dabei: Lisa Brennauer. Bis zum Gewinn der nächsten Medaille dauerte es sieben Jahre. Es brauchte: Lisa Brennauers Rückkehr. Sie war die dominierende Fahrerin der EM 2018 – und unterstrich dies mit dem Titelgewinn in der Einerverfolgung.
Das große Ziel
Ihre erfolgreiche Saison 2020 begann bereits früh – auf der Bahn. Bei den Weltmeisterschaften auf dem Velodrom von Berlin. Der deutsche Frauen-Vierer zeigte, dass er endgültig wieder in der Weltspitze angekommen ist: Die Fahrerinnen verbesserten den deutschen Rekord erneut, um mehr als fünf Sekunden: auf 4:11,039 Minuten. Die Siegerzeit der US-Amerikanerinnen war zwei Zehntelsekunden langsamer – doch die deutsche Mannschaft musste sich mit Bronze begnügen.
Ein Fehler im Halbfinale verhinderte den Einzug in das Rennen um die Gold-Medaille. „Wir wissen, was wir können. Unser Ziel für Tokio 2021 muss daher lauten, um Gold zu fahren“, sagte Lisa Klein.
Hinter der überragenden Fahrerin dieser Weltmeisterschaft, Chloe Dygert, gewann Lisa Brennauer zudem Silber in der Einerverfolgung. Nun fehlt noch eines in ihrer enormen Erfolgsliste, in ihrer Medaillensammlung: Olympia-Gold.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 3/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.
Lisa Brennauer: Steckbrief
Team | Ceratizit-WNT Pro Cycling |
Geburtsdaum | 08.06.1988 in Kempten |
Größe | 1,68 Meter |
Gewicht | 62 kg |
Wohnort | Durach |
Erfolge | Auf der Straße:
Auf der Bahn:
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