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Langdistanz: Vom Rennrad-Einsteiger zum Ultra-Langdistanz-Athleten
in Race
3:10 Uhr morgens, drei Grad Celsius, 21 km/h im Flachen bei Gegenwind aus Nordwesten. Es ist ein Wind, der mich lange – viel zu lange – begleiten wird. Und das für einen großen Teil der nächsten 15 Stunden. Heute ist der Tag der Tage. Mein längster Tag auf dem Rad. Meine Tour: von München nach Seeheim-Jugenheim an der hessischen Bergstraße. Fast nonstop.
Nach einer Stunde habe ich die Stadt von Südosten bis in den Nordwesten durchquert und ihre letzten Häuser hinter mir gelassen. Ich fahre durch die Dunkelheit in Richtung Augsburg und erlebe keine Überraschung: Ich kenne das Fahren in der Nacht und in der Kälte. Meine Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei nur 23,5 km/h. Ich fahre von einem kleinen Dorf ins nächste neben dunklen Feldern und Wiesen durch den noch dunkleren Wald. Es riecht nach Grün und nach dem Harz der Bäume. Die Straßen sind leer. Ich bin allein.
Leere, Weite und Langdistanz
Vor knapp drei Stunden klingelte mein Wecker. Um 2:30 Uhr. Meine Ausrüstung ist gepackt, die Powerriegel sind in handliche Viertel vorgeschnitten in der Rahmentasche. Als Ergänzung habe ich noch eine Süßkartoffel gekocht, verpackt und verstaut. Nach einem Kaffee, Müsli und einer Banane setze ich mich auf mein Rennrad. Um kurz vor 6:30 Uhr erreiche ich wie geplant Augsburg. Als ich die Stadt hinter mir lasse, habe ich 80 Kilometer hinter mir. Die Sonne schiebt sich über den Horizont. Es wird wärmer. Sechs, acht, zehn Grad.
Dies ist meine wohl zehnte Langdistanz-Tour – meine erste Radfahrt, die mehr als 200 Kilometer lang ist. Bis 2015 habe ich gar keinen Sport gemacht. Durch den Münchner Firmenlauf 2016 begann ich zu laufen. 2019 lief ich den ersten von bislang zwei Marathons. Die Anzahl der Halbmarathons kann ich nicht mehr aufzählen.
Langdistanz-Ziele
Vor drei Jahren saß ich zum ersten Mal auf einem Rennrad. Heute ist es ein wichtiger Teil meines Lebens, meines Seins, meines Entspannens und Erlebens. Ich habe mich dazu entschieden, die „Coronazeit“ zu nutzen, um von einem durchschnittlichen Rennradfahrer zu einem Ultra-Ausdauer-Athleten zu werden. Meine ersten Langdistanz-Touren-Ziele stehen – nach einem Blick auf die Karte – schnell fest: 360 Kilometer an einem Tag zu meinen Eltern nach Seeheim-Jugenheim an die hessische Bergstraße, von München an den Gardasee an einem Tag, von München nach Prag an einem Tag und als Abschluss des Jahres so schnell wie möglich von München nach Flensburg. Und wofür?
Als Vorbereitung auf die richtig langen Strecken – und für mein erstes Ultralangdistanz-Rennen im Laufe des Sommers 2022. Der Plan steht. Nur der Weg dorthin ist noch unklar. Wie muss ich trainieren? Und noch wichtiger: Wie kann ich das Training mit meinem Vollzeitjob, meiner Familie, meinen Freunden, meinem Alltag vereinbaren? Noch immer habe ich nicht alle Antworten gefunden. Noch immer bin ich auf der Suche. Ich lerne gerne von den Besten.
Deshalb setze ich mich mit den besten Langdistanz-Radsportlern auseinander – mit Menschen wie Sean Conway, Nicole Reist, Jonas Deichmann, Christoph Strasser. Und ich stelle fest, dass fast alle dasselbe „Erfolgsgeheimnis“ haben: mentale Stärke, das passende Mindset, ein klares Ziel, strukturiertes Training.
Mein Bruder Joshua, der Personal Trainer für Ausdauersportler ist, unterstützt mich auf meinem Weg. Mit seiner Hilfe absolviere ich im Frühjahr einen Laktat-Leistungstest. Ausgehend von meiner zu diesem Zeitpunkt aktuellen Functional Threshold Power, FTP, von 278 Watt schrieb mir Joshua einen für mich optimalen Trainingsplan zur Vorbereitung auf eine Langdistanz-Fahrt. Während des Winters wechselte ich meine Trainingsschwerpunkte zwischen dem Rennrad, dem Ergometer und dem Laufen ab – und verbesserte meine Halbmarathonzeit auf 1:29 Stunden.
Ernährung und Berge
Noch immer ist es früh am Morgen. Ich rolle neben der Donau entlang, erreiche Dillingen – und komme nach 120 Kilometern in eine erste kleine Krise. Die Straßen gen Heidenheim führen meist leicht bergan mit zwei, drei, vier Prozent Steigung. Der Gegenwind wird immer stärker. Ich bin so langsam unterwegs, dass ich die schöne Landschaft um mich herum genießen könnte. Doch mein Blick ist immer nur auf die drei, vier Meter Asphalt vor mir gerichtet.
Während der kurzen Abfahrten spüre ich die Kälte – und irgendwann spüre ich plötzlich noch etwas anderes: Hunger. Ich habe einen absoluten Anfängerfehler gemacht: nicht frühzeitig ans Essen zu denken. Wenn man auf dem Rad den Hunger spürt, kann es schon zu spät sein. Ein Hungerast und damit ein Leistungseinbruch ist nahe. Doch ich kann ihn – mithilfe von vier Energiegels – noch einmal verhindern.
Eine halbe Stunde später bin ich „auf“ der Schwäbischen Alb und wieder in meinem Rhythmus. Die Anstiege sind nun länger, Flachstücke sind selten. Ich komme langsam voran, aber ich komme voran. Ich denke nur von Zwischenziel zu Zwischenziel. Um 13 Uhr habe ich 200 Kilometer hinter mir. Vor zehn Stunden bin ich losgefahren. Mein nächstes Zwischenziel: das Familientreffen in den Löwensteiner Bergen. Zwei Stunden später ist es so weit: Meine beiden Brüder kommen mir entgegen. Im Auto. Doch einer von ihnen, Joshua, holt sein Rennrad aus dem Kofferraum und steigt auf. Ab jetzt bin ich nicht mehr alleine.
Der längste Anstieg des Tages
Wir fahren los – und direkt in den längsten Anstieg des Tages hinein: Zehn Kilometer und 300 Höhenmeter weit geht es bergan in Richtung Löwenstein. Auf den letzten Metern des Anstiegs erlebe ich meine zweite kleine Krise: Die Kraft ist weg. Doch: Die folgende Abfahrt ist traumhaft schön, das Wetter wird etwas besser – zwölf Grad – und ich kann mich etwas erholen.
Um 16 Uhr sehe ich über dem Kürzel „Km“ eine schöne Zahl auf dem Display meines Radcomputers: 250. Dennoch wird mir klar: In diesem Tempo wären wir frühestens gegen 21 Uhr an unserem Ziel. Die Distanz dorthin: 110 Kilometer. Deshalb entscheiden wir uns: 300 Kilometer genügen für heute. Wir fahren durch Neckarsulm und Reichartshausen und sehen die magische Zahl auf unseren Radcomputern: 300. Dann steigen wir von unseren Rädern in das Auto unseres Bruders.
Dolomiten und Pässe
Knapp fünf Monate vorher: meine erste Mehrtagestour mit dem Rennrad. Es ist eine Tour durch die Alpen: von Kufstein, Österreich, bis Verona, Italien – 500 Kilometer, 8200 Höhenmeter. Dies ist der dritte Tag, die dritte Etappe. Meine Tagesaufgabe: 82 Kilometer und 2500 Höhenmeter. Mein Tagesziel: Canazei in den Dolomiten. Die Pässe des Tages: der 2233 Meter hohe Passo di Giau und der 2239 Meter hohe Passo Pordoi. Die Daten dieser beiden Auffahrten: 10,7 Kilometer und 780 Höhenmeter – 9,3 Kilometer und 647 Höhenmeter.
Die Schönheit der Landschaft um mich herum lenkt mich ab. Sie ist fast schon kitschig schön. Die Berggipfel der Dolomiten sind hellgrau und schroff, die Sonne steht hoch über einem wolkenlosen blauen Himmel. Die meisten dieser Pässe steigen gleichmäßig und nicht zu steil an – sie sind rhythmisch zu fahren. Doch der Passo Giau ist anders: härter, steiler, gemeiner. Ich schaffe es nicht, meinen Rhythmus zu finden. Im letzten Drittel des Anstiegs bin ich am Ende. Ich schleppe mich nach oben. Pause. Absteigen. Auf die Landschaft starren – mit einem leeren glasigen Blick. Essen. Das Funkeln kehrt in die Augen zurück. Abfahrt.
Alpen-Überquerung
Ich mute mir während dieser Alpen-Überquerung viel zu. Wohl zu viel für einen Rennrad-Einsteiger. Doch mit jeder Tour, mit jedem Tag, mit jedem Pass wächst mein Spaß am Radfahren – und mein Selbstbewusstsein. Mir wird bewusst, dass ich schaffen kann, was ich mir vorgenommen habe. Das ist wohl das, was Psychologen „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ nennen. Jeden Tag fällt etwas von den Zweifeln an mir selbst – von dieser typischen Anfänger-Unsicherheit – von mir ab. Jeden Tag kann ich das Fahren und die Natur, durch die ich mich mittels meiner eigenen Kraft, meiner eigenen Ausdauer, meinem eigenen Willen bewege, mehr genießen. Jeden Tag verbringe ich etwas mehr Zeit im „Flow“, jenem quasi-meditativen mentalen Zustand, in dem man eins ist mit sich und in dem, was man gerade tut, vollkommen aufgeht.
Die Highlights meiner nächsten Tour lauten: Passo di Carezza und Passo di Lavaze. Ihre Daten: acht Kilometer, 375 Höhenmeter und 13 Kilometer, 969 Höhenmeter. Die Auffahrt zum Lavaze-Pass erscheint mir fast surreal – wie aus einem Traum. Ich bin durchgehend allein. Keine Autos, keine Häuser, keine Stromleitungen, keine Menschen. Nur Wald und der Ausblick in Richtung Ortler-Massiv und Rosengarten.
Irgendwann bin ich oben am höchsten Punkt, 1808 Meter über dem Meer. Um mich herum: ein kleines Gasthaus, grauer Fels, Natur. Dies ist ein Ort – dies ist ein Moment – den ich niemals wieder vergessen werde. Dieses Gefühl, einen solchen Ort durch die eigene Leistung erreicht zu haben, erreichen zu können, ist noch neu und ungewohnt für mich. Es ist ein Gefühl, das ich noch viel öfter spüren will. Noch vor drei Jahren war es für mich unvorstellbar, einen Alpenpass mit dem Fahrrad hinaufzufahren. Seitdem habe ich mehr als 15.000 Kilometer auf meinem Rennrad und 10.000 auf meinem Mountainbike zurückgelegt – und bin zu einem Radsportler geworden.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 6/2022. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Vom Einsteiger zum Langdistanz-Athleten: Zur Person
Name | Jonathan Both |
Alter | 28 Jahre |
Wohnort | München |
Beruf | Teamleiter |
Radsporterfahrung | Ambitionierter Hobbysportler. Rennrad- und Mountainbike-Training seit drei Jahren, keine Radsportwettkampferfahrung |
Radsportambitionen | Persönliche Grenzen verschieben, Teilnahme am Atlas Mountain Race, dem Race Across America und einem Ironman-Triathlon |
Das Material
„Ich habe mein Cannondale SystemSix Ultegra im Rahmen eines Bike-Fittings von ‚aerodynamisch‘ auf ‚komfortabel‘ umgestellt. Dafür habe ich unter anderem den Lenker um rund zehn Grad in die Horizontale gedreht. Bei der Bereifung setze ich auf 28 Millimeter breite Continental Grand Prix 5000. Sie sorgen für etwas Dämpfungskomfort und haben mir viele pannenfreie Fahrten beschert. Die Akku-Lichtanlage ist eine GVolt 70.1 von Cateye. Mit meiner Garmin Fenix 5x am Arm und der Komoot-App auf dem Smartphone habe ich die Route und meine Leistungsdaten immer im Blick. Um zu verhindern, dass der Handyakku schlappmacht, habe ich in einer Rahmentasche von Topeak eine Powerbank. Während meiner Vorbereitung bin ich auf einen Trick für warme Füße gestoßen: Man nimmt eine doppelte Schicht Alufolie, legt sie unter die Einlegesohle, trägt ein normales Paar Socken und umwickelt den Fuß ebenfalls mit Alufolie. Über das Ganze kommen dann noch die wind- und wasserdichten Überschuhe und schon hat man warme Füße – auch über mehrere Stunden hinweg und bei Werten knapp über dem Gefrierpunkt.“ Jonathan Both.