Gravel, Pässe & Comeback
Giro d’Italia 2021: Renn-Analyse mit Fokus auf Egan Bernal
in Race
Als Egan Bernal im Sommer 2019 in Paris die oberste Stufe des Tour-de-France-Podiums bestieg, schien eine neue Ära zu beginnen: Er war 22 Jahre alt – und hatte eine Grand Tour, das wichtigste Radrennen des Jahres, gewonnen. Man kannte sein Talent: Seine maximale Sauerstoffaufnahme, VO2max, betrug 91 Milliliter pro Kilogramm Körpergewicht und Minute – ein Weltklassewert. Er war der Aufsteiger: Ein junger Kolumbianer aus armen Verhältnissen. Ein ehemaliger Mountainbiker, der von dem erfahrenen Teammanager Gianni Savio entdeckt und nach Europa geholt wurde.
Ein Jahrhundert-Talent, das bereits während seiner ersten Saisons als Rennradfahrer die wichtigsten Nachwuchsrennen dominierte. In seinem ersten Jahr in Europa, als 18-Jähriger, gewann er die Tour of Bihor, wurde Vierter der Tour of Slovenia, 17. der Settimana Coppi e Bartali und Vierter der „Tour de France für Nachwuchfahrer“, der Tour de l‘Avenir. Ein Jahr später gewann er diese Rundfahrt – und die Sibiu Tour. Und die Tour de Savoie Mont Blanc. 2018 wechselte er zu dem weltweit dominierenden Team: Sky.
Tour de France 2020: Bernal-Desaster
Unter dem Namen Ineos Grenadiers ist es noch heute die Equipe mit dem größten Budget: angeblich mehr als 40 Millionen Euro pro Saison. Im Vorjahr stellte das Team – zum ersten Mal nach 2014, nach einem Sturz des damaligen Leaders Chris Froome – seit 2012 nicht den Tour-de-France-Sieger.
Egan Bernal ging 2020 als alleiniger Kapitän an den Start der Tour. Doch die 15. Etappe hinauf zum Grand Colombier wurde für ihn zum „Desaster“. Er verlor mehr als sieben Minuten auf die beiden Tagesbesten Primož Roglič und Tadej Pogačar – und fiel vom dritten auf den 13. Rang der Gesamtwertung zurück.
Fahrtechnik und Formaufbau
Zwei Tage später gab er die Tour auf. Die 17. Tour-Etappe war sein letztes Rennen 2020. Der Grund: Rückenprobleme. Vom vielen Fahren auf der Rolle in der Pandemie-Saison war ein Nerv in der Wirbelsäule „eingeklemmt“. Die Mediziner stellten zudem fest, dass seine Beine unterschiedlich lang sind, was zu Fehlbelastungen führte. Er wurde erfolgreich behandelt und veränderte seine Sitzposition auf dem Rad.
Er arbeitete den ganzen Herbst und Winter über an den Ursachen seiner Schmerzen und seiner verminderten Leistungsfähigkeit. Mit Erfolg: Bereits zu Beginn dieser Saison zeigte er seine Klasse – etwa mit zwei dritten Plätzen bei der Tour de la Provence und Strade Bianche. Bei diesem italienischen Klassiker über die „weißen Straßen“, die Schotterwege und -Hügel der Toskana, zeigte sich nicht nur seine Form, sondern auch, dass der frühere Mountainbiker sein Rad perfekt beherrscht.
Egan Bernal gewinnt den Giro d’Italia 2021
Dieser Fakt trug dazu bei, dass er rund zwei Monate später seine zweite Grand Tour gewann: den Giro d‘Italia.
Denn: Die 11. Giro-Etappe führte über eben jene staubigen Schotterpisten. Und Egan Bernal nutze sie – und attackierte. Er gewann rund 26 Sekunden auf andere Top-Fahrer wie etwa Simon Yates, den Vuelta-Sieger von 2018, und mehr als zwei Minuten auf einen anderen Favoriten, der bis dahin wie sein vielleicht härtester Gegner wirkte: Remco Evenepoel. Für den 21-jährigen Belgier war der Giro seine erste Grand Tour. Auch er gilt, wie zuvor Bernal, als Jahrhunderttalent.
Giro d’Italia 2021: Teams und Taktiken
Doch, wie Bernal, so kam auch Evenepoel nach einer langen Pause zurück. Nach einem schweren Sturz während der Lombardei-Rundfahrt, bei dem er sich unter anderem das Becken brach, musste er eine neunmonatige Reha- und rennfreie Phase einlegen.
Der Giro begann gut für ihn – doch er endete tragisch. Nach mehreren Stürzen und vorzeitig. Zum Start der 18. Etappe trat er nicht mehr an.
Doch der Fahrer der ersten zwei Giro-Wochen hieß eindeutig: Egan Bernal. Er arbeitete sich kontinuierlich nach vorn. Nach der sechsten Etappe, die er hinter dem jungen Schweizer Etappensieger Gino Mäder auf dem zweiten Platz beendete, verbesserte er sich im Gesamtklassement auf den dritten Platz. Drei Tage später, in Campo Felice, holte er sich seinen ersten Etappensieg – und das Rosa Trikot.
Rund eine Woche später gewann er seine zweite Etappe, jene von Sacila nach Cortina d‘Ampezzo: Fünf Kilometer vor dem Gipfel des Passo Giau attackierte er. Wieder distanzierte er seine Konkurrenten klar. Er gewann die Etappe mit 27 Sekunden Vorsprung vor Romain Bardet und Damiano Caruso, 2:11 Minuten vor Aleksandr Vlasov, 2:37 Minuten vor Simon Yates.
Nach dieser Vorstellung schien der Giro entschieden zu sein. Zu dominant waren Bernal und sein Ineos-Grenadiers-Team.
Giro d’Italia 2021: Spannender Kampf um die Gesamtwertung
Doch: Es kam anders. Im Finale, in der letzten Rennwoche, während der 17. Etappe, wurde der Kampf um die Gesamtwertung noch einmal spannend. Denn: Egan Bernal erlebte einen „schwarzen Tag“. An dem steilen Schlussanstieg nach Sega di Ala konnte er den Besten nicht mehr folgen. Er verlor knapp eine Minute auf Simon Yates. War es ein Hungerast? Ein falscher Formaufbau? Viel wurde spekuliert.
Zwei Tage später verlor er erneut 30 Sekunden auf den Etappensieger Yates. Doch Bernal antwortete: mit Leistung. Die 20., die finale Bergetappe, wurde zu einem Showdown: Der Zweite der Gesamtwertung, Damiano Caruso, attackierte früh – und setzte Bernal unter Druck. Doch der blieb ruhig und ließ seine extrem starken Helfer für sich arbeiten: Jonathan Castroviejo und Daniel Martinez. Letzterer war einer der stärksten Bergfahrer des Giro. Im Vorjahr gewann der Kolumbianer das Criterium du Dauphiné – und wechselte danach zum Team Ineos.
Dank dieser Teamtaktik gewann Bernal an diesem Tag sogar noch einmal Zeit auf seine Konkurrenten. Auf alle bis auf Damiano Caruso. Der 33-jährige Italiener gewann in seinem 13. Jahr als Radprofi seine erste Grand-Tour-Etappe. Er schrieb eine der Geschichten dieses Giro. Sie lautet: vom Helfer zum Sieganwärter. Da der Kapitän seines Bahrain-Teams, Mikel Landa, nach einem Sturz das Rennen früh beenden musste, war Caruso von seinen Helferdiensten befreit – und fuhr sich selbst ins Rampenlicht.
Dieser Artikel erschien der RennRad 7/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.