Emanuel Buchmann: Ein deutscher Tour-Sieger?
Emanuel Buchmann kann die Tour de France gewinnen
in Race
1997 löste ein damals 23-Jähriger ein „Tour-Fieber“ aus: Jan Ullrich gewann die Tour de France – und machte Deutschland zu einer Radsport-Nation. Kurzfristig. So hoch und schnell er aufstieg, so tief fiel er auch. Wie alle seine großen Konkurrenten war auch „Ulle“ gedopt. Seither kamen aus Deutschland einige der erfolgreichsten Sprinter, Marcel Kittel und André Greipel, Zeitfahrer, Tony Martin, und Klassikerspezialisten, John Degenkolb, der Welt. Doch Martins Zeitfahr-Weltmeister-Titel oder Degenkolbs Sieg bei Paris-Roubaix 2015 waren den meisten deutschen Medien nur eine Randmeldung wert.
Medienlogik
In der breiten Öffentlichkeit scheint nur eines zu zählen: die Tour de France. Würde man in den Fußgängerzonen des Landes eine Umfrage dazu machen, was den Menschen zu dem Begriff „Radsport“ einfällt, so würde wohl die Antwort fast immer „Tour de France“ lauten. Allein seit 2011 haben deutsche Fahrer 32 Tour-Etappen gewonnen. Doch eine Euphorie trat hierzulande nie auf. Dafür braucht es wohl einen Fahrer, der um das Gelbe Trikot der Tour fahren kann. Denn nur dann springt die Medienmaschine an. So funktioniert – leider – die Medienlogik.
Emanuel Buchmann: In den Bergen weltklasse
Zum Sportlichen: Die Grand Tours werden in den Bergen entschieden – und Emanuel Buchmann hat sich zu einem Weltklasse-Bergfahrer entwickelt. Er ist aktuell der zweit- oder drittstärkste Fahrer des Tour-Pelotons. Bergauf ist aktuell nur einer etwas stärker: Thibaut Pinot, der Sieger der Bergankunft am Tourmalet. Gleichstark ist der Kolumbianer Egan Bernal. Pinot hatte in den Vorjahren immer mindestens einen schwachen Tag. Bernal ist erst 22 Jahre alt – und seine Kapitänsrolle im Team Ineos ist nicht geklärt, denn sein Teamkollege ist der Vorjahressieger, Geraint Thomas.
Studie: Wie stark darf der Trainingsreiz sein?
Die Tour ist spannend wie nie
Das Gute aus Sicht aller Zuschauer ist: Das Team Ineos, einst bekannt unter dem Namen „Sky“, tritt bei dieser Tour de France nicht so dominant auf wie in den Vorjahren. Was natürlich damit zusammenhängt, dass ihr Teamleader und Top-Favorit wegen schwerer Verletzungen nicht am Start ist: Chris Froome. Bei der Bergankunft in Foix waren am Ende noch drei Ineos-Fahrer vorne dabei. Man stelle sich vor, der fünfmalige Tour-Sieger Froome wäre als vierter noch mit dabei gewesen: Dann hätte Ineos wohl wie in den Vorjahren wieder alles durch eine zahlenmäßige Überlegenheit „platt gemacht“. Ohne diese Dominanz ist diese Tour de France sehr viel offener, spannender.
Emanuel Buchmann: Taktisch clever, physisch stark
Emanuel Buchmann fährt bislang eine extrem aufmerksame und konstante Tour. Mit etwas mehr Glück hätte er bereits das wichtigste Vorbereitungsrennen, das Criterium du Dauphine, gewinnen können. Die Stärke hatte er. Er wurde dritter. Aktuell zeigte er sich bergauf als stärker als fast alle Top-Favoriten. Wobei zum aktuellen Stand noch jeder der Top-Sechs die Tour gewinnen kann. Buchmann ist sechster mit einem Rückstand von 2:14 Minuten auf Julian Alaphilippe. Der Franzose zeigte auf dem Weg nach Foix erstmals Schwächen und verlor Zeit.
Mannschaftsstärke
In den Alpen könnte es genug Gelegenheiten geben, ihm noch mehr Zeit abzunehmen. Im Vergleich zu den Teams Ineos und Jumbo-Visma haben sowohl Alaphilippe als auch Buchmann einen Nachteil: Ihre Teams sind schwächer. Hätte man beim deutschen Team Bora-Hansgrohe damit gerechnet, um den Tour-Sieg fahren zu können, so hätte man vielleicht andere Fahrer mitgenommen, und die ganze Saison auf die Tour ausgerichtet: Ein Rafal Majka und ein Davide Formolo als Helfer in Bergen könnten wohl viel ausrichten.
Die Entscheidung fällt in den Alpen
Noch dauert diese Tour de France lange. Wahrscheinlich wird sie in den Alpen entschieden. Doch es kann auch sein, dass auf einer flachen oder mittelschweren Etappe eine Vorentscheidung fällt. Denn gerade das Team Ineos wird jedes taktische Mittel versuchen. Wie bereits in der ersten Woche, als sie zusammen mit anderen Teams, das Feld bei starkem Seitenwind auf der „Windkante“ zerrissen haben. Thibaut Pinot und andere Favoriten verloren an diesem Tag viel Zeit. Gut für die Bergspezialisten wie Buchmann ist, dass es kein Zeitfahren mehr geben wird. Schlecht für ihn ist, dass die Ineos-Fahrer in den Vorjahren oft während der Tour noch an „Form“ gewannen.
Alles zur Tour de France 2019: Alle Etappen, alle Etappensieger, die Trikots uvm.
Emanuel Buchmann: Behutsamer Aufbau
Emanuel Buchmann kann diese Tour de France gewinnen. Dies ist ein Fakt – kein Anspruch, keine Erwartung. Er hat das Potenzial dazu, die Physis und wohl auch die mentale Stärke. Bei Bora-Hansgrohe hat man ihn sehr behutsam aufgebaut, ohne zu viel Druck. Aber ob er gewinnt, zweiter, achter oder 18. wird: Seine Leistung und seine Entwicklung sind überragend.
Mit seinen 26 Jahren ist er längst nicht am Ende seiner Entwicklung. Es bleibt zu hoffen, dass beides entsprechend gewürdigt wird – ohne zukünftig den üblichen medialen Erwartungsdruck aufzubauen, an dem Menschen zerbrechen können. Es sollte auch in der breiten Öffentlichkeit nicht nur um „Gelb“, den Sieg, einen „neuen Ullrich“ gehen, sondern um den einzelnen Menschen und den Sport.