Beruf & Bundesliga
Carolin Schiff: Training und Alltag einer Rad-Bundesliga-Siegerin
in Frauen-Radsport
Mit 22 Jahren bin ich mein erstes Radrennen gefahren – jetzt, mit 35, habe ich meinen ersten Profi-Vertrag unterschrieben. Das nennt man wohl eine Spätstarterin. Mein drittes Rennen überhaupt war damals, 2008, das um die Deutsche Meisterschaft. Ich hatte kein Rennrad – also stand ich mit meinem Cyclocrosser am Start. Und kam erstaunlicherweise im Hauptfeld im Ziel an. Das hat mich selbst überrascht.
Meine Karriere im Lizenz-Radsport begann spät, und war ein einziges Auf und Ab. Eine Folge von Glück und Pech. Ein Jahr nach meiner ersten Deutschen Meisterschaft war ich zum ersten Mal bei Profi-Rennen in Belgien am Start – dann sogar auf einem Rennrad. Doch schon in diesem Jahr, 2009, kam der erste Rückschlag, einer von vielen seither: ein schwerer Sturz, während einer Rundfahrt in den Niederlanden.
Das Ergebnis: tiefe Schürfwunden – und ein Rückgang meiner Begeisterung für den Radsport. Die vielen weiteren schweren Stürze, die ich seither erlebte, waren prägende Erfahrungen. Durch meine Verletzungs- und Reha-Zeiten sind mir wohl einige Chancen verwehrt geblieben. Die Verletzungen kann man überwinden, verarbeiten. Doch die Tatsache, dass man in den meisten Fällen nichts falsch gemacht hatte, dass der Sturz, der Unfall, „über einen kam“ – damit mental umzugehen, ist extrem schwierig.
Carolin Schiff: Stürze und Motivation
Mein schwerster Unfall passierte, als mir 2014 während einer Trainingsfahrt der Fahrer eines Minivans die Vorfahrt nahm. Ich flog mitsamt meines Rades vier, fünf Meter weit durch die Luft, und blieb mit mehreren Knochenbrüchen am Straßenrand liegen. Die Brüche sind längst verheilt.
Körperlich habe ich mich einigermaßen schnell von diesen Verletzungen erholt – doch mental nicht. Ich war in einer guten Form. Vier Tage später hätte ich mit der Nationalmannschaft zu einer Rundfahrt nach Norwegen fliegen sollen. Ich wollte mich beweisen. Diese Chance wurde mir damals genommen. Von einer Sekunde auf die andere können Träume platzen.
Nach diesem Unfall hatte ich meine Radsport-Zeit beendet. Ich hörte auf. Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um mich danach zum ersten Mal wieder auf ein Rennrad zu setzen. Es hat sich angefühlt, als wäre ich noch nie zuvor auf einem gesessen. Irgendwann, nach vielen „Genussfahrten“, die nach und nach immer schneller wurden, kam die Lust zurück. Der Spaß an der Geschwindigkeit. Das gute Gefühl von müden Muskeln nach einer harten Trainingsfahrt.
Es kostete viel Kraft, Zeit, Willen und Disziplin, um wieder mein vorheriges Niveau zu erreichen. Es ging auf – und es ging wieder ab. Immer wieder. Drei Mal brach ich mir bei Stürzen ein Schlüsselbein. Irgendwann gewöhnte ich mich, soweit man das kann, an die Rückschläge, an die Schmerzen, an die Neuanfänge. Nach wie vor liebe ich den Radsport. Doch eines stört und beschäftigt mich, wie viele andere auch: Die ständige Gefahr, der man sich auf dem Rennrad aussetzt. Sei es im Training – durch andere Verkehrsteilnehmer. Oder im Rennen – durch Massenstürze.
Carolin Schiff: Beruf und Rennen
Ich glaube, dass ich für mich aus diesen Verletzungen auch Positives gezogen habe: Ich bin gelassener geworden, und dankbarer für meine Gesundheit. Ich genieße meine Zeit auf dem Rad, jede Stunde davon, noch genauso wie mit 22. Sollte ich einmal keinen solchen Spaß mehr an diesem Sport haben, würde ich das Rennenfahren aufgeben. Das ist wohl noch lange nicht der Fall. Vor dieser Saison, der Saison 2021, habe ich zum ersten Mal einen Vertrag bei einem Profiteam, der Equipe Andy Schleck – CP NVST – Immo Losch, unterschrieben. Es ist das Team des ehemaligen Tour-de-France-Siegers Andy Schleck, eines von weltweit rund 50 Frauen-Kontinental-Teams.
Profi wird man eigentlich, um Geld zu verdienen. Das ist bei mir, wie auch bei vielen anderen Frauen, nicht der Fall. Leider können nur sehr wenige Fahrerinnen von ihrem Sport leben. Ich trainiere seit diesem Winter mehr als zuvor – doch ich muss den Sport mit meinem Alltag und mit meinen Jobs vereinbaren. Deshalb muss ich auch beim Training extrem auf Effizienz achten. Das kenne ich nicht anders.
Glücklicherweise engagiert sich mein Arbeitgeber BBB Cycling immer mehr im Frauenradsport und ist stolz darauf, eine Mitarbeiterin zu haben, die auf internationalem Niveau Radrennen bestreitet. Mein Training strukturierte ich von Anfang an gemeinsam mit meinem Partner Vladi. Ich profitiere nach wie vor von unseren vielen gemeinsamen Fahrten, da er mich fordert und mir auch ehrliches Feedback gibt. Inzwischen habe ich zudem professionelle Unterstützung durch einen Trainer aus dem WorldTour-Bereich. Dieses sehr strukturierte Training hilft mir, Beruf und Leistungssport zu kombinieren.
Traum und Training
In den Zeiten der Corona-Lockdowns und Rennabsagen habe ich mehr Struktur in mein Training gebracht – und eine neue Leidenschaft entdeckt: das Zeitfahren. Ich hatte mich zuvor damit noch nie wirklich bewusst auseinandergesetzt. Jahrelang hatte ich mich vor der Teilnahme an der Deutschen-Zeitfahr-Meisterschaft gedrückt. Doch als Führende der Bundesliga-Wertung kam ich dann nicht mehr darum herum. Während der „Vorbereitung“ darauf habe ich mich ganze zwei Mal auf mein Zeitfahrrad gesetzt.
Mein Ziel lautete: mich nicht vollkommen zu blamieren. Doch im Vorjahr habe ich zum ersten Mal erlebt und entdeckt, dass die Minuten auf dem Zeitfahrrad nicht die Hölle sein müssen – und dass das Ganze sogar Spaß machen kann. Ergo lautet seitdem eines meiner Projekte: schneller im Zeitfahren werden. Schon als Auszubildende und später als Studentin musste ich mir meinen Sport finanzieren. Mit meiner Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin und dem folgenden BWL-Studium habe ich mir einen guten Grundstein gelegt.
Heute arbeite ich für die Firma BBB Cycling als PR- und Marketingkoordinatorin und betreibe gemeinsam mit meinem Partner Vladi Riha – durch ihn kam ich damals auch erst zum Radsport, nachdem ich mich zuvor im Schwimmen, Laufen und Triathlon ausprobiert hatte – einen Fahrradladen in Bremen. Die neue Aufgabe muss in unser Leben passen.
Ich bin eine Bergfahrerin – obwohl ich im flachen Norddeutschland lebe. Deshalb ist einer meiner großen Träume in diesem Jahr die Teilnahme am Giro Rosa, dem Giro d’Italia für Frauen, dem wohl größten und wichtigsten Rennen des WorldTour-Kalenders. In den vergangenen Jahren habe ich es geschafft, eine ganz gute Work-Life-Balance zwischen dem Radsport, dem Beruf und dem Privatleben zu finden. Glücklicherweise werde ich von meinem Partner und meinem Arbeitgeber bestmöglich unterstützt, so dass dies alles möglich ist. Dieses Gleichgewicht zu halten, ist nicht einfach – aber es ist die Voraussetzung für so vieles.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 6/2021. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.
Carolin Schiff: Zur Person
Carolin Schiff, 35 lebt in Bremen. Sie fuhr jahrelang für das deutsche Team Maxx Solar-Lindig – und gewann in dessen Farben unter anderem die Gesamtwertung der Frauen-Rad-Bundesliga 2019. Die Serie umfasste zehn Rennen, die zwischen März und September ausgetragen wurden.
Im selben Jahr wurde sie bei dem Bundesliga-Rennen im württembergischen Auenstein Deutsche Bergmeisterin. Die Zweitplatzierte: Nadine Gill. Auch sie ist eine Späteinsteigerin, die inzwischen den Aufstieg in den Profiradsport geschafft hat. Das Portrait zu der Deutschen, die als Diplomatin in São Paulo, Brasilien, lebte, finden Sie hier.
Die Saisonbilanz der Carolin Schiff im Jahr 2019: sechs Siege, 15 Top-Ten-Platzierungen. 2020 wurde sie Fünfte des Rennens um die Straßen-DM. Sie startete mit einer Hundert-Prozent-Quote in die Saison 2020/21: drei Starts – drei Siege. Alle drei fuhr sie bei Cyclocross-Rennen ein, zwei davon bei zwei Läufen der Cross-Bundesliga.
Größe | 164 Zentimeter |
Körpergewicht | 46,5 Kilogramm |
Größte Erfolge | Deutsche Meisterin DM Berg 2019, Bundesliga Siegerin 2019, Siegerin Bundesliga Berg- und Sprintwertung 2019, 6. Platz DM Straße 2019 |
Räder | Cervélo S5 Shimano Ultegra Di2, Cervélo P5 Sram Force AXS, Cyclocross: Specialized Crux Elite mit Sram Force AXS |