Tour de France Femmes 2022, Annemiek van Vleuten
Tour de France Femmes: Fazit der Frankreich-Rundfahrt der Frauen

Neustart

Tour de France Femmes: Fazit der Frankreich-Rundfahrt der Frauen

Die Neuauflage der Tour de France Femmes war – trotz sturzreicher erster Etappen – ein Erfolg. Die Siegerin fuhr in ihrer eigenen Liga. Einblicke.
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66 Kilometer vor dem Ziel der Königsetappe: Sie tut, was sie so oft tut – was man von ihr erwartet hatte: Sie attackiert. Nur eine, Demi Vollering, kann ihr folgen. Aber nicht lange. Bald ist sie allein. An der Spitze des wichtigsten Rennens des Jahres. Ein Bild mit Symbolcharakter. Annemiek van Vleuten deklassiert an jenem Tag die Konkurrenz. Im Verlauf jener siebten Etappe der Tour de France Femmes – über die Anstiege Petit Ballon, Col du Platzerwasel, Grand Ballon, Route des Crêtes bis zum Ziel an der Skistation ‚Le Markstein‘. Ihr Vorsprung auf die Zweitplatzierte: 3:26 Minuten. Eine Welt. Dies war der Tag der Entscheidung. Der Entscheidung bei der wiederauferstandenen Tour de France Femmes: Es war die erste Austragung der Rundfahrt seit dem Jahr 2009. Es war ein Rennen der Extreme und der Kontraste: was den Verlauf, die Zahl der Stürze und der Form-Niveaus anging.

Vier Tage vor ihrem überlegenen Solosieg war Van Vleuten kurz davor, die Tour zu beenden. „Ich hatte enorme Magenprobleme“, sagt sie. „Ich konnte weder essen noch trinken und war supermüde. Ich fühlte mich leer. Die Etappe zu beenden, war schon ein Sieg.“ Einen Tag später, dem Tag der achten und letzten Etappe, baute sie ihren Vorsprung sogar noch weiter aus – trotz dreier Radwechsel: Wieder attackierte sie, wieder erreichte sie das Ziel der Bergankunft an der Super Planche des Belles Filles als Solistin. Diesmal mit 30 Sekunden Vorsprung. Die Daten des Anstiegs: 6,93 Kilometer mit 614 Höhenmetern.

Tour de France Femmes: Stürze und Taktiken

Für eine der anderen Top-Favoritinnen auf den Gesamtsieg war die Tour bereits am zweiten Tag vorbei: Die Italienerin Marta Cavalli, 24, stürzte schwer – und erlitt ein Schädelhirntrauma. Etliche Massenstürze prägten das Rennen, leider, mit. Unter den vielen Fahrerinnen, die sich schwere Verletzungen zuzogen, ist auch die deutsche Bahn-Weltmeisterin in der Team-Verfolgung Laura Süßemilch. Sie brach sich bei einem Massensturz drei Wirbel, eine Rippe und einen Teil des Hinterkopfs.

Auch die mit-dominierende Sprinterin, die zweifache Etappensiegerin Lorena Wiebes, musste nach einem Sturz vorzeitig aufgeben. Ihre niederländische Landsfrau Marianne Vos, 35, gewann neben zwei Etappen auch das Grüne Trikot der besten Sprinterin. Selbst für sie, die GOAT, die „greatest of all times“, die erfolgreichste Fahrerin des Frauen-Radsports, waren diese Siege etwas Besonderes. „Als ich in Provins nach meinem Etappensieg das Gelbe Trikot überziehen durfte, war das ein unvergesslicher Augenblick in meiner Karriere“, sagte sie. „Während der ersten Etappen wehte oft ein starker Wind, der bei den Positionskämpfen im Feld eine Rolle spielte.“

Auch dies könnte eine potenzielle Erklärung für die vielen Stürze sein. Die Aufmerksamkeit für die Tour – und die damit verbundene Nervosität im Peloton – eine andere. „Diese Tour hat eine ganz andere Wahrnehmung als andere Frauenrennen. Ich dachte nach dem Start in Paris noch: ‚Okay, das war Paris.‘ Aber auch an den nächsten Tagen waren die Zuschauerzahlen krass. Das habe ich im Frauenradsport noch nicht erlebt“, sagt etwa Ina-Yoko Teutenberg, die Sportliche Leiterin des Teams Trek-Segafredo. Ihre Equipe konzentrierte sich primär auf die Kapitänin, Elisa Longo Borghini, und das Gesamtklassement. Die Italienerin fuhr auf Gesamtrang sechs – ihre Teamkollegin Shirin van Anrooij, 20, gewann das Weiße Trikot der besten Nachwuchsfahrerin.

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Unausgeglichenheit

Die Schweizerin Marlen Reusser, Olympia-Zweite und WM-Zweite im Einzelzeitfahren und Tagessiegerin des vierten Abschnitts nach Bar-sur-Aube, sah Unausgeglichenheit innerhalb des Pelotons als eine der Ursachen der vielen Stürze und Ausfälle: „Alle sind bei der Tour ein bisschen extra motiviert, aber es sind auch Fahrerinnen am Start, bei denen man sich schon die Frage stellt, warum sie dabei sind. Das macht das Feld sehr heterogen.“

24 Mannschaften zu je sechs Fahrerinnen waren am Start. 14 von ihnen hatten den WorldTour-Status. Sie selbst stürzte während der sechsten Etappe, zog sich eine Gehirnerschütterung zu – und musste das Rennen beenden. Insgesamt kamen 25 Prozent der Starterinnen nicht ins Ziel. „Es ist das wichtigste Rennen des Jahres, natürlich gibt es viel Druck und Stress“, sagt Marion Rousse, die Renndirektorin der Tour de France Femmes.

Stress und Unruhe entstand nicht nur im Peloton, sondern auch bei den Begleitfahrzeugen. „Manche verlassen immer wieder ihre Position und turnen dann vor einem herum. Und diese Nervosität überträgt sich dann auf die Fahrerinnen“, sagte Ronny Lauke, der Teamchef des deutschen Rennstalls Canyon//SRAM. Die Komposition der Tour de France Femmes war jene eines Dramas – mit den beiden Höhepunkten am Ende: den beiden Bergankünften in den Vogesen. Die ersten Etappen wurden im Sprint entschieden. Zweimal siegte Lorena Wiebes, zweimal Marianne Vos. Im weiteren Verlauf erwartete man dann, ähnlich wie in der Tour der Männer, eine besondere Konstellation: ganze Teams gegen eine Einzelfahrerin.

Tour de France Femmes: Teams und Entwicklung

Annemiek van Vleuten ging als Top-Favoritin in diese Tour. Doch es war von Beginn an klar: Ihr Movistar-Team ist deutlich schwächer, in der Breite, als Top-Equipes wie etwa SD Worx und Trek-Segafredo. Im Finale der dritten Etappe sah es bereits so aus, als sei Van Vleuten im Kampf um den Gesamtsieg geschlagen: Sie konnte an einer kurzen steilen Rampe nicht mehr mitgehen und fiel zurück. Vorne setzte sich eine neunköpfige Spitzengruppe ab. Mit dabei: zwei Fahrerinnen des Teams SD Worx. Doch: Sie arbeiteten nicht zusammen. Die Gruppe harmonierte nicht. Mit einer Geschwindigkeit von 28 km/h erreichte man den Teufelslappen, das Zeichen für den finalen Kilometer. Auf diesem fuhr Van Vleuten zurück nach vorne – und „entschärfte“ somit eine für sie gefährliche Situation.

Vier Tage später, in den Bergen, fuhr sie dann in ihrer eigenen Leistungsliga. „Dieser Sieg bedeutet mir unglaublich viel. Ich bin sehr stolz, die erste Gewinnerin der Tour de France der Frauen zu sein. Ein wirklicher Traum wurde wahr“, sagte sie im Ziel. Doch die Tour de France Femmes war nicht nur für sie ein enormer Erfolg, sondern auch für den gesamten Frauenradsport. Dies zeigten bereits die hohen Zuschauerzahlen und Einschaltquoten. Dies ist ein Neustart – und, potenziell, der Beginn von etwas ganz Großem.

Dieser Artikel erschien in der RennRad 10/2022Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.


Tour de France Femmes: Ergebnis

1. Annemiek van Vleuten – Movistar Team 26:55:44 h
2. Demi Vollering – Team SD Worx +3:48 m
3. Katarzyna Niewiadoma – Canyon//SRAM +6:35 m
4. Juliette Labous – Team DSM +7:28 m
5. Silvia Persico – Valcar +8:00 m
6. Elisa Longo Borghini – Trek-Segafredo +8:26 m
7. Cecilie Uttrup Ludwig – FDJ +8:5 9m
8. Évita Muzic – FDJ +13:54 m
9. Veronica Ewers – EF Education +15:05 m
10. Margarita García – UAE Team ADQ +15:15 m

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