Aufstieg
Ricarda Bauernfeind: Werdegang und Training einer Aufsteigerin
in Frauen-Radsport
Der Schlussanstieg ist sechs Kilometer lang – sie ist vorne dabei. Das Tempo wird immer höher, die Gruppe immer kleiner. Im Finale platzt alles auseinander: Fast jede Fahrerin fährt alleine. Alle sind am Limit. Dies ist eine Bergankunft. Dies ist die fünfte Etappe der La Vuelta Feminina, der Spanien-Rundfahrt der Frauen. Ganz vorne sprinten die beiden Top-Stars des Sports um den Sieg: Demi Vollering und Annemiek van Vleuten. Kurz dahinter fährt eine Fahrerin in einem lila-farben-bunten Trikot: Ricarda Bauernfeind sprintet als Dritte über die Ziellinie auf dem Mirador de Peñas Llanas. Neun Sekunden hinter Vollering, sechs hinter Annemiek van Vleuten, der viermaligen Weltmeisterin, dreimaligen Vuelta- und Giro- und Tour-de-France-Siegerin. Die Niederländerin ist 17 Jahre älter als die Deutsche. Für Van Vleuten, 40, ist es die letzte Vuelta ihrer Karriere – für Ricarda Bauernfeind, 23, ist es die erste.
Studium und Radsport
Die Rundfahrt umfasst sieben Etappen. Zwei Tage später – bei der Königsetappe zu den berühmten Lagos de Covadonga –fährt Bauernfeind auf Rang fünf. Und sichert sich damit auch den fünften Platz der Gesamtwertung der Vuelta. Sie ist, schon bei ihrer ersten Grand Tour, angekommen: im Kreis der Weltbesten, der stärksten Berg- und Rundfahrerinnen überhaupt. Und das nur rund drei Jahre, nachdem sie eine längere Radsport-Pause eingelegt hat.
Bei ihrer zweiten Grand Tour, der Tour de France Femmes, ging es noch steiler bergauf: Sie gewann nach einem langen Solo die 5. Etappe. Ihre ersten Radrennen fuhr sie, angespornt durch ihren fünf Jahre älteren Bruder, im Alter von zwölf Jahren. Schon ein Jahr später gewann sie die renommierte Kids Tour in Berlin. Nebenbei besuchte sie noch eine Zeit lang die Ballettschule in ihrer Heimatstadt Eichstätt bei Ingolstadt, ehe sie sich völlig auf den Radsport konzentrierte. Als Juniorenfahrerin zog es sie auch zunächst auf die Bahn. Sie gewann 2017 den DM-Titel in der Mannschaftsverfolgung und siegte ein Jahr später zusammen mit Katharina Hechler bei der Madison-DM.
Die erste internationale Medaille
Bei der Junioren-Bahn-EM 2018 gewann sie ihre erste internationale Medaille: Bronze in der Mannschaftsverfolgung. Doch 2019 änderte sich ihre Perspektive: Sie verlor den Spaß am Radsport. Sie wollte sich nicht mehr diesem Druck aussetzen, nicht mehr durch die Welt hetzen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihr Studium in München, Lehramt mit Fachrichtung Sport, Ernährung, Hauswirtschaft. Und findet ab und zu Zeit für ihr anderes Hobby: das Backen.
In Ernährungsfragen weiß sie Bescheid – sie schreibt gerade an ihrer Bachelorarbeit zum Thema: Wie gut kennen sich Radsportlerinnen mit dem Thema Kohlenhydrat-Versorgung in der Wettkampfphase aus? Ricarda Bauernfeind wollte nicht, wie viele andere Radsportlerinnen, eine Laufbahn bei der Bundeswehr oder der Polizei einschlagen, aber sie wollte Sicherheit, eine berufliche Perspektive, wenn das mit dem Radfahren doch nicht klappt. Ihr Training hatte sie nach einer kleinen Wettkampfpause schon bald wieder aufgenommen –aber auf andere Art: virtuell. Sie absolvierte zu Hause auf dem Rollentrainer virtuelle Rennen auf der Software-Plattform Zwift.
Team und Ergebnisse
Sie holt dabei etliche Top-Platzierungen und fällt mit hervorragenden Leistungsdaten auf. 2021 ist die Saison ihres „Comebacks“. Das Saison-Highlight: die deutschen Profi-Straßenmeisterschaften. Ricarada Bauernfeind fährt sofort ganz vorne mit. Sie ist die Überraschung des Rennens – und sprintet hinter den Top-Stars Lisa Brennauer und Lisa Klein zur Bronzemedaille. Diese Leistung bescherte ihr das „Ticket“ zur Europameisterschaft. Dort fährt sie im U23-Straßenrennen auf Rang zehn.
Längst waren einige Profiteams auf die junge Bayerin aufmerksam geworden – so auch die deutsche WorldTour-Equipe Canyon-Sram. Sie erhält die Chance, in dem Nachwuchsteam der deutschen WorldTour-Equipe zu fahren. Und ergreift sie. „Mario Vonhof hat das damals vermittelt“, erinnert sich Ronny Lauke, der Canyon-Sram-Teamchef. „Wir freuen uns aktuell sehr über ihre außergewöhnlichen Leistungen. Das ändert aber nichts daran, dass sie als junge Fahrerin noch Zeit braucht – und die geben wir ihr. Sie soll sich möglichst unbeschwert weiterentwickeln. Tief drinnen, da weiß sie, was sie kann.“
Mario Vonhof ist Landestrainer in Bayern. Er kennt seine Athletin genau und wusste, dass sie in diesem Nachwuchsteam erst einmal gut aufgehoben war. Er begleitet ihre Karriere schon seit Jahren. „Wenn sie gesund bleibt und den Spaß am Sport behält, dann wird ihr Weg noch weit nach oben führen“, sagt er. Schon im Vorjahr zeigte Ricarda Bauernfeind eine enorme Leistungsentwicklung: Sie gewinnt die deutschen Meistertitel der U23-Klasse auf der Straße und im Zeitfahren. Dabei fährt sie fast 20 Sekunden schneller als die spätere Elitemeisterin und Ex-Weltmeisterin Lisa Brennauer. Mit der deutschen Mixed-U23-Staffel holt sie bei den Europameisterschaften in Anadia in Portugal die Goldmedaille. Sie wird Dritte der Andalusien-Rundfahrt – und beendet dabei jede Etappe auf dem Podium. Bei der Internationalen Thüringen-Rundfahrt fährt sie auf den fünften Gesamtrang. „Bei der Andalusien-Rundfahrt habe ich zum ersten Mal gesehen, dass ich gut lange Berge fahren kann“, sagt sie. Ein gutes Jahr später ist sie in der Weltspitze angekommen. Eine Entwicklung, die enorm ist – enorm schnell.
Training: Beispiel-Einheiten
Rollen-Programm 1
- 10 Minuten im GA1-Bereich warmfahren
- 30 Minuten GA2, abwechselnd 5 Minuten unteres GA2, anschließend fünf Minuten oberes GA2
- 5 Minuten Pause im lockeren GA1-Bereich
- 30 Minuten GA2, abwechselnd 5 Minuten unteres GA2, anschließend fünf Minuten oberes GA2
- 10 Minuten im lockeren GA1-Bereich ausrollen
Rollen-Programm 2
- 10 Minuten im GA1-Bereich warmfahren
- 18 Minuten GA2/EB, abwechselnd 6 x 3 Minuten abwechselnd im GA2 und im Entwicklungsbereich
- 5 Minuten Pause im lockeren GA1-Bereich
- 18 Minuten GA2/EB, abwechselnd 6 x 3 Minuten abwechselnd im GA2 und im Entwicklungsbereich
- 10 Minuten im lockeren GA1-Bereich ausrollen
Ricarda Bauernfeind im Interview: „Ich bin selbst mein größter Gegner“
Ricarda Bauernfeind über Leistungsdruck und die neu entdeckte Liebe zu den Bergen.
RennRad: Frau Bauernfeind, im Mai absolvierten Sie Ihre erste Grand Tour, die Vuelta, und fuhren auf den fünften Gesamtrang. Glückwunsch! Wie haben Sie die Rundfahrt erlebt?
Ricarda Bauernfeind: Geplant war das nicht. Ich habe aber schon im Trainingslager vorher gemerkt, dass ich gut lange Berge fahren kann. Die Strecke der Vuelta lag mir, vor allem der letzte Tag. Allerdings wusste ich vor der Schlussetappe nicht, wie gut ich die letzten sieben Tage verkraftet habe. Diese Renndauer war ja ganz neu für mich. Ich bin dann einfach nach Gefühl gefahren.
Wie groß war danach der Rummel um diesen Erfolg?
Es war vor allem viel los in den sozialen Netzwerken. Ich spürte aber auch eine gewisse Müdigkeit und war extrem froh, wieder nach Hause zu können und dort ein paar Tage zu haben, um den Kopf freizubekommen. Ich stehe nicht so gern im Mittelpunkt.
Ricarda Bauernfeind über Erfolge
War dieser fünfte Gesamtrang bei der Vuelta Ihr bis dahin – bis zu Ihrem Tour-de-France-Etappensieg – größter Erfolg?
Ich würde eher sagen, dass das die Andalusien-Rundfahrt im Jahr zuvor war. Dort bin ich zum ersten Mal auf Top-Fahrerinnen wie Mavi García getroffen. Und dort habe ich das erste Mal gespürt, dass ich gut in den Bergen zurechtkomme, dass mir lange Anstiege liegen. Das war echt besonders. Ich liebe lange Berge.
Kam der fünfte Platz in Spanien für Sie überraschend?
Ja, in gewisser Weise schon. Ich habe zwar einen hohen Anspruch an mich selbst, aber dass mein Name dort in einem Atemzug mit Fahrerinnen genannt wurde, die ich vor drei Jahren noch im Fernsehen bewundert habe, das hat mich schon etwas überrascht. Denn damals war ich noch meilenweit von ihnen entfernt. Das ging nun innerhalb von rund drei Jahren extrem schnell.
Ricarda Bauernfeind über Druck
Sie hatten zu Beginn Ihrer Laufbahn teils Probleme, mit Druck umzugehen. Mit zunehmendem Erfolg wird der aber vermutlich eher größer, oder? Haben Sie hier eine Strategie gefunden?
Ich habe mir selbst immer am meisten Druck gemacht. Vor den Rennen war ich extrem nervös, wie in einem mentalen Tunnel und manchmal den Tränen nah. Ich habe nicht mehr die Leichtigkeit verspürt, die Freude am Radsport. Darum habe ich mir Ende 2019 auch eine Auszeit genommen – und mein Lehramtsstudium klar in den Mittelpunkt gestellt. Aber richtig aufhören konnte und wollte ich dann doch nicht. Ich habe seither viele Gespräche mit meinem Trainer Mario Vonhof geführt und kann inzwischen ganz gut mit dem Druck umgehen. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich inzwischen älter geworden bin, erwachsener.
Haben Sie ein Vorbild, eine Fahrerin, die Sie stark beeindruckt?
Nein, eigentlich nicht. Ich habe den Anspruch an mich, noch näher heranzukommen an die ganz großen Top-Fahrerinnen, dabei aber keine bestimmte im Auge. Eigentlich bin ich selbst mein größter Gegner. Ich möchte immer stärker werden und besser sein, als ich es gerade bin. Ich möchte mich inspirieren lassen, aber dabei meinen eigenen Weg finden und ihn konsequent gehen.
Ricarda Bauernfeind über die Zukunft
Wo sehen Sie sich selbst in fünf Jahren?
Das kann ich nicht sagen, denn ich weiß nicht, was noch alles passiert. Mein Leben hat sich in den letzten drei Jahren sehr stark verändert. Damals hatte ich zum Ziel, eine gute Lehrerin zu werden, die sich am Wochenende ab und zu mal aufs Rad schwingt. Jetzt ist alles anders – der Radsport ist mein Beruf.
Dieser Artikel erschien in der RennRad 9/2023. Hier können Sie die Ausgabe als Printmagazin oder E-Paper bestellen.