Unfallrisiko, Leitartikel, David Binnig
Unfallrisiko für Radfahrer: Leitartikel über ein politisches Totalversagen

Unfallrisiko

Unfallrisiko für Radfahrer: Leitartikel über ein politisches Totalversagen

Die Zahl der Radfahrer steigt, die der bei Unfällen schwer verletzten Radfahrer auch. Die Politik schaut nicht nur tatenlos zu – sie verschlechtert die Situation sogar noch. Der Blick auf ein politisches Totalversagen.
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Stellen Sie sich vor, die Straße, an der Sie wohnen, ist ein Unfallschwerpunkt. Das Unfallrisiko ist immens. Überall sonst fallen die Unfallzahlen seit Jahren. An dieser Straße steigen sie. Jedes Jahr mehr Verletzte. Mehr Tote. Die Reaktion der verantwortlichen Politiker – nach jahrelangem Nichtstun? Sie beschließen mehrere neue Umleitungen, die auf genau diese Straße führen. Die Folge: noch mehr Menschen und Fahrzeuge auf einer maroden, unfallträchtigen, überlasteten Infrastruktur.

Solch ein absurdes Gedankenexperiment kann man sich gar nicht ausdenken, sagen Sie? Stimmt. Denn die Realität ist noch viel verrückter: Nicht nur, dass es an Unfallschwerpunkten mehr Verkehr geben wird – es wird auch eine ganz neue, zusätzliche Klasse von Verkehrsteilnehmern dort geben. Denn, und jetzt kommt die Auflösung, diese „Straße“ steht hier bildhaft für: Radwege in Deutschland. Seit diesem Sommer sind diese auch für E-Scooter freigegeben. Zwei kleine Räder, ein sehr kurzer Radstand, ein Elektromotor, bis zu 20 km/h.

Mehr Abgaben, weniger Schutz

Diese Entscheidung lässt sich aus Politikersicht wie folgt zusammenfassen: „Erst mal nehmen wir den Leuten mehr als die Hälfte ihres Lohns ab – 54,3 Prozent laut dem Bund der Steuerzahler, um genau zu sein. Schon die direkte Belastung eines alleinstehenden Arbeitnehmers ist hier 13 Prozent höher als der Durchschnitt der anderen Industrienationen, den ,Spitzensteuersatz‘ zahlt man heute ab dem 1,3-fachen des Durchschnittseinkommens, in den 1960er-Jahren setzte er bei dem 15-fachen ein.

Dafür gewähren wir ihnen eine Rentenquote, die 20 Prozent unter dem EU-Durchschnitt liegt – und weit mehr als 40 Prozent unter jenen in, zum Beispiel, Österreich, Portugal, Italien. Was ja auch zum ,Reichtum‘ der Bürger passt, denn die Deutschen zählen mit einem Median-Haushaltsvermögen von 60.800 Euro zu den Ärmsten unter den Industrielandbewohnern. In Italien liegt dieser Wert bei 146.000, in Spanien bei 160.000 Euro.

Während wir weniger als der OSZE-Durchschnitt in die Infrastruktur und in die Bildung investieren und mit immer neuen, jeden Bau massiv verteuernden Vorschriften, abschreckenden Enteignungsdebatten, der Bauplatzvergabe an Höchstbietende und einer massiven Erhöhung der Grunderwerbssteuer dafür sorgen, dass sich kein Normalverdiener mehr Eigentum in einer Stadt-oder-Umland-Lage leisten kann, wozu natürlich auch die politisch gewollte und die Reichen massiv reicher machende Nullzins-Politik der Europäischen Zentralbank beiträgt – nach Berechnungen der BZ Bank betragen die Verluste der deutschen Sparer seit 2010 358 Milliarden Euro.

Keine Maßnahmen gegen das Unfallrisiko für Radfahrer

Allein im ersten Halbjahr 2018 hat jeder Deutsche, die Inflation eingerechnet, dadurch durchschnittlich 205 Euro verloren, während der Staat seit 2008 weit über 300 Milliarden Euro Schuldzins-Zahlungen ‚gespart‘ hat, wie praktisch. Und so sorgen wir dafür, dass die Mieten und Immobilienpreise explodieren, was zu einer ‚Umverteilung‘ von der Mitte nach ganz oben, hin zu Großinvestoren, führt und die Pendelwege zwischen Wohnort und Arbeitsplatz immer länger werden lässt – durchschnittlich rund 17 Kilometer im Vergleich zu 14,6 Kilometern im Jahr 1999.

Nur gegen das Sterben auf den Straßen und ‚Radwegen‘, gegen das Unfall- und das Todesrisiko von Radfahrern tun wir nichts. Das würde ja Geld kosten. Die Rekord-Steuereinnahmen geben wir lieber für andere Dinge aus.“ Für was eigentlich? Dass sich eine bessere Rad-Infrastruktur schnell in steigenden Radfahrerzahlen, sinkenden Unfallzahlen, Umweltschutzeffekten und einer höheren Zufriedenheit der Menschen auswirkt, haben andere Länder längst gezeigt.

All dies ist keine Meinung, sondern wurde zigfach objektiv erforscht. All dies hatte ich bereits im großen Leitartikel der RennRad-Ausgabe 5/2019 ausführlich dargelegt.

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Gute Idee, dumme Ausführung

Natürlich ist die E-Roller-Legalisierung an sich etwas Gutes. Die Argumente dafür sind nachvollziehbar: einfach, platzsparend, umweltschonend. Doch zum Thema Umweltschutz hier nur eine Zahl: Die durchschnittliche „Lebensdauer“ der Leih-E-Scooter in Paris beträgt derzeit einen Monat. Dennoch könnte das Ganze eine gute Idee sein. Eigentlich. Nur ist die Umsetzung – wie so oft bei politischen Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit – bizarr undurchdacht. Auf vielen Radwegen herrscht schon heute eine Art „Verdrängungswettbewerb“. Radpendler teilen sich die wenigen, oft schmalen Wege häufig mit Fußgängern, Joggern, Skatern, Boardern, Hunden, Acht-km/h-Radfahrern, E-Bike-Fahrern – und zukünftig nun auch E-Roller-Fahrern.

Ergo wird das eigentlich gesellschaftlich gewünschte und zu fördernde Radfahren sowohl verlangsamt als auch noch gefährlicher gemacht. Die Zahl der verletzten Radfahrer steigt ohnehin seit Jahren. Bei Unfällen innerhalb geschlossener Ortschaften sterben längst mehr Rad- als Autofahrer. Die E-Scooter-Entscheidung bringt noch mehr Verkehr auf die deutsche Dritte-Welt-Land-Fahrradinfrastruktur. Und erhöht damit das Unfallrisiko für jeden, der dort unterwegs ist.

Fahrradpendler handeln gesellschaftlich wertvoll

Als Fahrradpendler handelt man gesellschaftlich extrem wertvoll: Man entlastet die Straßen, die Umwelt, die Krankenkassen. Als Dank dafür sorgt die Politik dafür, dass man mit einer noch höheren Wahrscheinlichkeit verletzt wird oder stirbt. Während die Medien jeden Sommer aufs Neue das „Anti-Kampfradler-Radl-Rambo“-Thema aufwärmen und damit Stimmung machen. In anderen Ländern hat man bereits Erfahrungen mit den Auswirkungen der E-Scooter-Legalisierung im Straßenverkehr gemacht. In der texanischen Stadt Austin wurden diese im Rahmen einer umfangreichen wissenschaftlichen Studie untersucht. Diese umfasste den Zeitraum vom 5. September bis zum 30. November 2018. Die Fakten: Innerhalb dieser 87 Tage gab es 192 eindeutig auf E-Roller-Unfälle zurückzuführende Verletzte. Das entspricht mehr als zwei verletzten Menschen pro Tag. In einer Stadt.

Die Zahl der Personen, deren Unfälle potenziell mit den Scootern zusammenhingen, lag bei 271. Und: Es wurden nur jene Unfälle berücksichtigt, nach denen sich die Betroffenen in ärztliche Behandlung begaben. Die Unfall-Dunkelziffer ist demnach wohl um ein Vielfaches höher. Weniger als ein Prozent der Gestürzten trug einen Helm – doch fast die Hälfte von ihnen erlitt Kopfverletzungen. 80 der 192 Verletzungen stuften die Ärzte als „schwer“ ein.

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Inexistente Infrastruktur fördert Unfallrisiko

Der Bundesgeschäftsführer des ADFC bringt es auf den Punkt: „Deutsche Radwege taugen nicht einmal für die sichere Abwicklung des vorhandenen Radverkehrs.“ So ist es. Die Entscheidung, die derangierte, überlastete oder inexistente Rad-Infrastruktur für eine neue Klasse an Verkehrsteilnehmern freizugeben, erhöht das Unfallrisiko für jeden, der diese Infrastruktur nutzt – und theoretisch mit der weltweit zweithöchsten Abgabenlast bezahlt. Wäre es da nicht logisch, dass jeder, der Opfer eines solchen Unfalls wird, zukünftig diejenigen, die dafür mitverantwortlich sind, zur Rechenschaft zieht? Juristisch? Denn wozu gibt es die „Amtshaftung“?

Diese besagt, dass der Staat für Schäden haftet, die „durch eine schuldhafte Pflichtverletzung eines Amtsträgers verursacht werden“. Zum Beispiel verstößt eine Gemeinde, welche die Instandhaltung ihrer Verkehrswege vernachlässigt, gegen ihre „Verkehrssicherungspflicht“. Dies ist die Pflicht, bei Gefahrenquellen die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass andere geschädigt werden. Der deutsche Staat macht das Gegenteil. Dass jedes Jahr mehr Radfahrer sterben und verletzt werden, scheint keinen Entscheider zu stören. Es wird hingenommen. Radfahrer haben in Deutschland noch immer keine Lobby.

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München: Unfallrisiko für Radfahrer steigt – statistisch belegt

Beispiel München: Im Jahr 2018 gab es nach Angaben des dortigen Polizeipräsidiums in der Stadt 3297 Unfälle mit Radfahrern – 15,2 Prozent mehr als im Vorjahr. 2933 Menschen wurden verletzt, 333 davon schwer, zehn starben.

Auf Deutschlands Straßen und sogenannten „Radwegen“ stirbt alle 22 Stunden ein Radfahrer, alle 36 Minuten wird einer schwer verletzt. Beide Zahlen steigen seit Jahren. Ohne Effekt auf die Politik. Wohl jeder, der regelmäßig als Radpendler in deutschen Städten oder als Rennradfahrer auf deutschen Straßen unterwegs ist, hat bereits Schockmomente erlebt, Beinahe-Unfälle oder, so wie ich, Nahtoderfahrungen. Die Politik fördert die Wahrscheinlichkeit, dass es mehr werden.

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