Lebenswandel
Stefan Oettl: Einer der besten deutschen Radmarathonfahrer
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Viele Träume bleiben Träume und werden nie Realität. Die meisten davon frisst der Alltag auf. Stefan Oettl hat nie davon geträumt, einmal einer der besten deutschen Radmarathonfahrer zu werden. Er ist es geworden, mit Training, Fleiß, Disziplin und einem Talent, das er erst mit Anfang 30 entdeckt: das Talent, sich zu quälen.
Von kurzen bis zu den langen Anstiegen, von flach bis steil, Oettl beherrscht auf dem Rad nahezu jedes Terrain. Je länger und schwieriger, desto besser. Der Ötztaler Radmarathon ist sein Lieblingsrennen. Kühtai, Brenner, Jaufenpass und Timmelsjoch. Vier Pässe, 227 Kilometer, 5100 Höhenmeter. Sieben Stunden im Sattel. Sieben Stunden lang Mann gegen Mann. Ein Kampf gegen die Natur, die Strecke, die Hitze, die Erschöpfung, die Schmerzen.
Stefan Oettl beim Ötztaler Radmarathon
Der Ötztaler gilt als inoffizielle Weltmeisterschaft der Radmarathonfahrer. Stefan Oettl zählt zu den Besten. Er fährt die 227 Kilometer bei der Austragung 2017 in einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 32 Kilometern pro Stunde, benötigt 7:06 Stunden – und wird Sechster.
„Ich war zu fett. Da war mehr drin.“
Für die meisten ist das eine unvorstellbare Leistung. Für Stefan Oettl dagegen steht am Ende des Tages fest: „Ich war zu fett. Da war mehr drin.“ Oettl wiegt zu diesem Zeitpunkt 65 Kilogramm. An seinen austrainierten, braungebrannten und glattrasierten Waden stehen die Adern hervor. Für Außenstehende ist Oettl beim Ötztaler 2017 in der Form seines Lebens.
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Rauchen, Übergewicht, Motorradfahren
Rückblick: Es ist das Jahr 2002. Deutschlands Osten stemmt sich gegen die Jahrhundertflut. Die Fußball-Nationalmannschaft wird Vize-Weltmeister. Stefan Oettl, Jahrgang 1974, lebt in der Nähe von Bad Tölz. Er entwickelt Software, sitzt 40 bis 50 Stunden pro Woche vor dem Bildschirm. Er raucht, wiegt 90 Kilogramm – bei einer Körpergröße von 1,74 Metern – und fährt gerne Motorrad.
Mit Sport hat Oettl zu diesem Zeitpunkt wenig zu tun. Stattdessen: „Liberalitas Bavariae“. Leben und leben lassen. Oettl liebt die bayerische Lebensart – und vor allem den Genuss. 2002 verletzt sich er bei einer seiner ausgiebigen Motorradtouren schwer. In der anschließenden Rehabilitation sucht er neues Vertrauen in seinen Körper. Aus Langeweile setzt er sich aufs Ergometer. Er beginnt zu treten. Immer öfter. Immer länger. Immer intensiver.
Oettl bemerkt erste Fortschritte und nimmt zehn Kilogramm ab. Nach der Reha versucht er zu joggen, achtet auf seine Ernährung, hört auf zu rauchen und nimmt an einem Spinningkurs teil. 2006 kauft er sich sein erstes Rennrad. 2008 wird Stefan Oettl schon Zweiter beim Engadiner Radmarathon und steht zum ersten Mal auf dem Podest. Er will mehr, trainiert strukturierter. Er hört von den Geschichten des „Ötztalers“. Die Radmarathons werden ihn fortan nicht mehr loslassen. Es ist seine Disziplin.
Stefan Oettl steigt mit Corratec aufs Podium
Seit der Saison 2014 startet Stefan Oettl für das Team Corratec. Im gleichen Jahr gewinnt er auf Anhieb mit seinem Partner Wolfgang Hofmann die Masters-Kategorie der Tour Transalp. Seine Teamkollegen erleben ihn außerhalb des Renngeschehens als lockeren und humorvollen Typen. Im Rennen kann er fighten wie kein Zweiter.
„Stefan hat eine Wahnsinnsphysis und einen unglaublichen Willen. Vor einigen Jahren fuhr er noch ständig vorne im Wind und hat damit viele Chancen vergeben. Auf der anderen Seite hat er dadurch seine eigene Leistung stetig entwickelt und könnte jetzt richtig anfangen, davon zu profitieren“, beschreibt ihn sein Corratec-Teamkollege Bernd Hornetz.
„Ohne Programm zu fahren, kommt bei mir nicht vor.“
Durchdachte Trainingsplanung
Die Grundlagen für diese Physis legt Oettl früh. Die Saisonvorbereitung beginnt am 1. November. Er absolviert einen Leistungstest, lässt seine Trainingswerte ermitteln und sammelt Kilometer. Meistens trainiert er alleine. Oft auf dem Rad, der Rolle oder bei guter Schneelage mit den Tourenski im Lenggrieser Skigebiet.
Als Software-Entwickler verfügt er über ein begrenztes Zeitbudget. Seine Trainingszeit ist wohl durchdacht. Von langen und ruhigen Einheiten hält der Bad Tölzer schon lange nichts mehr: „Ich bin weg davon, im Winter nur Grundlage zu fahren. Auch in der kalten Jahreszeit absolviere ich viele intensive Sachen. Ohne Programm zu fahren, kommt bei mir nicht vor.“
Im Frühjahr flieht er für ein paar Tage ins Warme. 2017 trainierte er beispielsweise zehn Tage auf Gran Canaria. Es sollte sein bisher bestes Jahr werden.
Stefan Oettl: Teamplayer mit Handicap
Stefan Oettl ist keiner, der sich wegen seiner Erfolge in den Vordergrund drängt. Er ist ein Teamplayer, einer der sich im Rennen aufopfert für seine Kollegen. Wenn die ihn mal fahren lassen, landet er meist auf dem Podest. „Stefan ist ein Allrounder auf hohem Niveau. Er ist immer vorne dabei, selbst wenn er viel für andere gearbeitet hat. Bei Rennen mit finalem Sprint aus einer kleineren Gruppe ist er unser Mann“, erklärt Bernd Hornetz.
Er weiß allerdings auch, dass Oettl eine Schwäche hat: seinen Rücken. 2009 erlitt der Tölzer einen Bandscheibenvorfall mit Lähmungserscheinungen. Seitdem kämpft er immer wieder gegen plötzlich auftretende Schmerzen, auch während eines Rennens. „Ich merke dann sofort den Unterschied. Mit Schmerzen sind es 20 bis 40 Watt weniger, die ich zu treten in der Lage bin“, sagt Oettl.
Übungen zur Rumpfstabilität und Physiotherapie helfen zwar gegen die Schmerzen. Ganz eliminieren lassen sie sich nie. „Wenn Stefan seine Rückenprobleme in den Griff bekommt, bin ich zuversichtlich, dass er auch Rennen gewinnt, nach so vielen Podiumsplatzierungen im Jahr 2017“, sagt Teamkollege Hornetz mit Blick auf die Saison 2018.
Mit mentalem Training den nächsten Schritt machen
Für die kommende Saison sieht Stefan Oettl selbst noch immer Verbesserungspotenzial. „Ich glaube, dass ich vor allem im mentalen Bereich noch Reserven habe“, sagt er. In den vergangenen Jahren stand er zwar häufig auf dem Podest, ein Sieg bei einem der großen Radmarathons ist ihm aber stets verwehrt geblieben.
„Oftmals war ich physisch sogar der Beste in der Spitzengruppe. Das letzte Quäntchen hat dann allerdings immer gefehlt. Ich erhoffe mir für 2018, durch entsprechendes mentales Training noch einmal zulegen zu können“, meint Oettl.
Auch hinsichtlich seiner Ernährung besteht noch „Luft nach oben“, schätzt Oettl. Viel Obst, viel Gemüse und wenig Fleisch stehen ohnehin bereits auf dem Speiseplan. An der einen oder anderen Tafel Schokolade will er aber in Zukunft sparen.
2018 soll sein Jahr werden. Oettl ist kein Träumer. Das war er noch nie.