Smart Drugs, Selbstoptimierung, Leitartikel
Smart Drugs und Selbstoptimierung: Leitartikel zu Psyche und Doping

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Smart Drugs und Selbstoptimierung: Leitartikel zu Psyche und Doping

Mehr, schneller, schöner, besser – immer, in allen Lebensbereichen. Der Aufstieg von „Smart Drugs“, die menschliche Psyche und Doping.
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Der Mensch ist ein Säugetier. Ein Primat. Ein Allesfresser. Ein Ausdauer-Jäger. Rund 98 Prozent des menschlichen Genoms stimmen mit jenem von Schimpansen überein. Europäer tragen zu durchschnittlich rund vier Prozent Gene von Neandertalern in sich. Der durchschnittliche gemessene Intelligenzquotient stieg in den Industrienationen über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich an, um rund drei Punkte pro zehn Jahre. Bis in die Mitte der 1990er-Jahre – seitdem scheint er in einigen Ländern zu stagnieren und in manchen sogar zurückzugehen.

Zu den Gründen dafür existieren viele Theorien und wenig Konsens. Ungeachtet dieses „Anti-Flynn-Effekts“ versuchen immer mehr Menschen, neben ihrem Körper, auch ihre psychische Leistungsfähigkeit zu steigern. Um diesen Trend zur Selbststoptimierung herum ist eine – zur heutigen Zeit – passende Industrie entstanden: ‚Nootropica‘ oder auch ‚Smart Drugs‘. Zu Deutsch: Mittel, mit denen die Denk-Leistung erhöht werden soll. Mehr Konzentration, mehr Leistung, mehr Effizienz, mehr Punkte bei den Prüfungen, mehr Euro auf dem Gehaltszettel, weniger Müdigkeit, weniger „Zeitverschwendung“. So lauten wohl die Versprechen – oder vielmehr: die Erwartungen. Mit Nootropics wurden 2017 rund 1,3 Milliarden US-Dollar umgesetzt. 2024 soll der weltweite Smart-Drug-Umsatz, laut einem „Zion-Market-Report“, bei rund sechs Milliarden Dollar liegen.

Wettbewerb

Das Neuro-Enhancement, die versuchte Optimierung des Denk-Organs, ist eine logische Entwicklung – passend in eine Selbst-Optimierungs-Gesellschaft. Wo ist der Unterschied zwischen dem Neuro-Enhancement und Doping? Wo ist die Thematisierung? Schule, Studium, Beruf, Hobby, Sport, Sex. Ob die Pille blau ist und ‚Viagra‘ heißt – oder weiß und den Namen Adderall, Modafinil, Ritalin oder was auch immer trägt: Immer und überall wird am „optimalen Selbst“ gearbeitet. Am Mehr. Am Besser. Am Schneller. Am Mit-Weniger-Anstrengung. Am „einfachen schnellen“ Weg.

Die größte Studie zur Verbreitung von ‚Smart‘ und anderen Drogen ist der ‚Global Drug Survey‘: Fast 30.000 Menschen wurden dafür befragt. 14 Prozent von ihnen gaben an, in den vorangegangenen zwölf Monaten mindestens einmal Neuro-Stimulanzien verwendet zu haben.

Die Studie, über die unter anderem das Fachjournal ‚Nature‘ berichtete, stammt aus 2017. Im Vergleich zu den Angaben der Studie zuvor aus 2015 kam es innerhalb von nur zwei Jahren fast zu einer Verdreifachung der Nutzer. Die Daten der Untersuchung wurden in 15 Ländern erhoben – in allen 15 stieg die Zahl der „Smart-Drug“-Konsumenten: in den USA von 20 auf fast 30 Prozent, in Großbritannien von fünf auf 23, in Frankreich von drei auf 16 Prozent. 48 Prozent der Konsumenten gaben an, dass sie die Medikamente durch Freunde erhalten hatten. Zehn Prozent kauften die Neuro-Enhancer von einem Händler oder über das Internet, sechs Prozent erhielten sie von einem Familienmitglied, vier Prozent mittels eines eigenen Rezepts.

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Akademischer Druck führt zu höherem Konsum von Smart Drugs

2017 führten Forscher der Universität Verona in Norditalien eine Befragung von Studenten durch. 899 Fragebögen wurden ausgewertet. Das Ergebnis: 11,3 Prozent der Befragten hatten bereits Neuro-Stimulanzien – wie etwa Methylphenidat oder Amphetamine – eingenommen. 58 Prozent davon öfter als fünf Mal in den sechs Monaten zuvor. Als Gründe wurden zu 51 Prozent eine „verbesserte Konzentrationsfähigkeit“ und zu 25,5 Prozent eine „verbesserte Sport-Leistung“ genannt.

Studien aus den USA haben gezeigt, dass die höchsten Nutzungsraten an den Eliteuniversitäten im Nordosten zu finden sind. Dort, wo der akademische Druck wohl am größten ist. Dort, wo die Studenten am „wettbewerbsfähigsten“ sind.

„Smart Drugs“ im antiken Griechenland

Schon im antiken Griechenland dopten sich Olympioniken mit Stierblut, Atropin aus der Alraunwurzel und Alkohol. Die Vorgänger der heutigen ‚Smart Drugs‘ wurden – unter dem Namen Pervitin – von deutschen Jagdfliegern während des zweiten Weltkriegs eingesetzt.

Den Beginn der großen, gesellschaftlich relevanten Verbreitung markiert jedoch wohl das Aufkommen einer neuen Krankheit: ADHS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom.

Die Hintergründe, Daten und Studien dazu finden Sie im Leitartikel der RennRad-Ausgabe 10/2020. In den USA werden heute elf Prozent der Kinder zwischen vier und 17 Jahren mit ADHS diagnostiziert. Die Gegenmittel heißen: Methylphenidat, Medikamente wie Ritalin oder Medikinet und Amphetamine, die die Konzentration und die Ausschüttung von Dopamin erhöhen sollen.

Im Sport gelten sie als Doping-Mittel – im „normalen“ Leben nicht. Die US-Leichtathletin Kelli White ist die erste, die des ‚Smart-Drug-Dopings‘ überführt wurde. 2003 wurde sie positiv auf Modafinil getestet – und musste ihre beiden WM-Goldmedaillen zurückgeben.

Musik und Betablocker

Der Sport steht für eine „Gegenwelt“ zum Alltag. Für Fairness, Teamwork und Chancengleichheit. Ebenso wie ein anderes gesellschaftliches Teilsystem: die Musik. Die Mittel und Wege zu mehr Leistung sind andere – doch die Prinzipien sind dieselben.

Das „Optimierungsmittel“, das unter ambitionierten und Profi-Musikern wohl am weitesten verbreitet ist, heißt: Betablocker. 72 Prozent der mehr als 5000 befragten Klassik-Musiker gaben an, aktuell oder zuvor Betablocker einzunehmen beziehungsweise eingenommen zu haben. Dies zeigte eine Studie aus dem Jahr 2016. 1987 lag diese Quote bei „nur“ 30 Prozent.

Betablocker sind das EPO und das Anabolikum der Orchester-Musiker. Die Medikamente verlangsamen das Herz, unterdrücken Nervosität, mindern Fahrigkeit und zitternde Finger. Die WADA stuft sie als leistungssteigernde Mittel ein. Im Golf, Motorsport, Bogenschießen, Schießen und einigen Ski- und Snowboardwettbewerben sind sie verboten. 2008 wurden einem nordkoreanischen Olympia-Medaillengewinner im Pistolenschießen beide Medaillen wegen der Einnahme eines Betablockers aberkannt.

Geld und Status

„Für moderne klassische Musiker liegt die Entscheidung zu dopen nicht darin begründet, ein neues künstlerisches Niveau zu erreichen, sondern darin, den eigenen Job zu sichern“, schreibt ‚The Harvard Crimson‘. Und – als Fazit: „Es ist an der Zeit, zuzugeben, dass unser musikalisches Elfenbein vom Elefanten im Raum stammt.“

Der Elefant im Raum, über den niemand spricht. Dieses Bild traf auch auf den Radsport zu. Bis 1998, dem Jahr des Festina-Doping-Skandals. Hat der Radsport ein Doping-Problem? Natürlich. Zumindest spricht extrem viel dafür, dass dem so ist: die Vergangenheit, die Leistungen, der Pharma-Markt, die potenziellen Effekte, die physiologischen Belastungen, die nachgewiesene Ineffizienz des Doping-Kontrollsystems, die menschliche Psyche. Runtergebrochen: Wenn es die Möglichkeit zum Betrug – oder anders ausgedrückt zur ‚Selbstoptimierung‘ – gibt, werden Menschen diese auch nutzen. Denn dies ist der ‚leichte‘ Weg. Man arbeitet an sich, seinem Körper, seinem Geist, seiner Optik, seinem Selbstwertgefühl.

Profi-Radsport als schwarzes Schaf?

Laut einer Studie des Robert Koch-Instituts nahmen 23 Prozent der männlichen Fitnessstudiobesucher bereits Anabolika ein. Warum? Es geht ihnen – anders als im Profisport – nicht um Verträge, nicht um Geld, nicht um die eigene Zukunft. Es geht um die Arbeit an der eigenen Identität. Und um das Nutzen von Möglichkeiten.

Noch heute wird der Profi-Radsport vielfach als das eine schwarze Schaf des Sport-Systems dargestellt. Jedoch spricht Vieles dafür, dass – um in diesem Bild zu bleiben – alle Schafe schwarz, oder zumindest grau, sind. Nicht nur im Leistungssport, sondern in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. In dem einen System heißt das Sich-Selbstoptimieren „Betrug“, im anderen heißt es „Effizienz“. Im einen gibt es Kontrollen, Regeln und Sanktionen – im anderen spielt nur die erbrachte Leistung eine Rolle. Der Weg dorthin interessiert niemanden.

Die – wie auch immer erbrachte – Leistung, beziehungsweise das wie auch immer optimierte Äußere, wird honoriert. Mit Anerkennung, Geld, Status, Instagram-Followern, Ruhm. Vielleicht lautet das passende Wort dafür: Doppelmoral.

Übersicht über alle Inhalte der RennRad 4/2021.

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