Radinfrastruktur, Verkehrspolitik, Leitartikel
Radinfrastruktur und Verkehrspolitik in der Corona-Krise: Leitartikel

Konsequenz

Radinfrastruktur und Verkehrspolitik in der Corona-Krise: Leitartikel

Die Corona-Krise ist disruptiv. Sie hat Vieles verändert, Vieles beschleunigt, Vieles bewirkt – vor allem zum Schlechten, aber auch zum Guten. Zum Beispiel für Radfahrer. In manchen Ländern mehr, in anderen, hierzulande etwa, weniger.
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Was etwa in Dänemark oder den Niederlanden seit Jahrzehnten eine Maxime ist – der Ausbau der Fahrrad- und Fußgängerinfrastruktur, das Erhöhen der Sicherheit auf den Straßen und Radwegen, das, wissenschaftlich klar nachgewiesene, Steigern der Lebensqualität der Bevölkerung – wird in immer mehr Ländern wahrgenommen. Und teilweise umgesetzt. „Nun beginnt eine goldene Ära des Radfahrens“, verkündete etwa der britische Premierminister Boris Johnson. Großbritannien wird zwei Milliarden Pfund in den Ausbau des Rad- und Fußgängerverkehrs investieren. „Wir wollen den Radverkehr bis 2025 verdoppeln. Wir müssen ein besseres Land bauen – mit besserer Luft und gesünderen Menschen“, sagte Grant Shapps, der Verkehrsminister. Ein goldenes Zeitalter für Radinfrastruktur.

In einer aktuellen Studie wurde festgestellt, dass 28 Prozent der erwachsenen Briten gar nicht, beziehungsweise weniger als einmal pro Monat, Rad fahren – sich jedoch wünschen, öfter auf das Rad zu steigen. In derselben Studie wurde berechnet, dass die Steigerung des Radverkehrsanteils auf 25 Prozent aller Strecken bis zum Jahr 2050 zu einem ökonomischen Gewinn von 42 Milliarden Pfund führen könnte.

Und: Allein die tägliche Radstrecke der urbanen Bevölkerung um durchschnittlich drei Kilometer zu erhöhen, beziehungsweise um einen Geh-Kilometer für Fußgänger, könnte das staatliche Gesundheitssystem über die nächsten Jahre um 17 Milliarden Pfund entlasten.

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Investitionen in die Radinfrastruktur

Diese Befunde bestätigen jene vieler weiterer Studien, die massive Kosteneinsparungen und positive Gesundheitseffekte durch den Ausbau der Fahrrad-Infrastruktur feststellten. Die Ergebnisse vieler dieser Untersuchungen finden Sie in dem Leitartikel der RennRad-Ausgabe 3/2019.

In Frankreich beschlossen die Verantwortlichen für die Region Paris, dass allein hier 300 Millionen Euro zeitnah in die Radinfrastruktur investiert werden sollen. In Tel Aviv, Israel, wird ein Aktionsplan umgesetzt, der das Ziel hat, die Größe des Radwegenetzes bis 2025 mehr als zu verdoppeln.

Selbst in den USA, dem Autoland schlechthin, sorgte die Corona-Krise für eine neue Entwicklung: Wie die New York Times berichtet, haben sich die nationalen Verkaufszahlen von Fahrrädern und Rad-Komponenten im März im Vergleich zu demselben Vorjahreszeitraum fast verdoppelt. Die Zahl der verkauften sportiven Fahrräder wuchs um 66, die der Freizeiträder um 121, die der Kindermodelle um 59 und die der E-Bikes um 85 Prozent.

In Italien bekommen Menschen, die in Ballungsgebieten leben, beim Kauf eines neuen Fahrrades vom Staat bis zu 500 Euro erstattet. In der Emilia-Romagna sollen Pendler, die mit dem Rad zur Arbeit fahren, bis zu 50 Euro im Monat Kilometergeld erhalten.

Pop-Up-Radwege in Berlin und Co.

Parallel in Deutschland: In Berlin und einigen anderen Städten entstanden einige Pop-Up-Radwege. Einige Radspuren wurden verbreitert oder neu ausgewiesen. Und zwölf Millionen Euro, die für neue Radwege vorgesehen waren, wurden – mal eben – für Bundesstraßen ausgegeben. Dies berichtete der Tagesspiegel. 200 Millionen Euro für Investitionen in die Radinfrastruktur sollen hierzulande über die nächsten Jahre hinweg bereitgestellt werden. Auf dem Papier.

In der Praxis zeigte sich, dass 2018 von den für den Ausbau von Radschnellwegen eingeplanten 25 Millionen Euro, exakt null Euro verbaut wurden. Dieses Budget wurde in 2019 übernommen – und auch in diesem Jahr nicht ausgegeben. Der Verantwortliche ist derselbe, der auch in solche „Kleinigkeiten“ wie den Diesel-Skandal, den Maut-Skandal, den Plagiat-Skandal und den Feinstaub-Skandal involviert ist: Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer.

Als mündiger Bürger stellt sich da unwillkürlich die offensichtliche Frage: Warum ist dieser Mensch noch in diesem Amt? Wie viel, und dies ist noch wohlwollend formuliert, Inkompetenz mehr kann beziehungsweise muss man zeigen, um eine solch verantwortungsvolle Position zu verlieren? Wie kommen Menschen in solche politischen Positionen? Durch Kompetenz? Durch Sachwissen? Wohl eher: nicht.

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Todesfälle

Für Politiker gelten wohl andere Regeln. Ein Untersuchungsausschuss beschäftigt sich aktuell mit der Auftragsvergabe im Zuge der populistischen, von vornherein zum Scheitern verurteilten PKW-Maut. Es geht um bis zu 700 Millionen Euro Steuergelder. Doch die dies betreffenden Handydaten des Verkehrsministers existieren nicht mehr. Sie wurden ebenso gelöscht wie Daten auf dem Smartphone der ehemaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Zum Lösch-Zeitpunkt waren diese Daten von einem Untersuchungsausschuss zu ihrer „Berater-Affäre“ als Beweismittel zur Einsicht angefordert.

Damit nicht genug der Gemeinsamkeiten zwischen von der Leyen und ihrem Unions-Kollegen: Auch sie war zusätzlich noch in eine Plagiatsaffäre verstrickt. Anders als Scheuer blieb sie jedoch – trotz einer katastrophalen Leistungsbilanz und des desaströsen Zustands der Bundeswehr – nicht in ihrem Amt. Sondern stieg noch weiter auf. An die Spitze der EU-Kommission.

In einem Ende Juni vorgelegten Untersuchungsbericht der Opposition wird festgestellt: Zu keiner Zeit sei ein verlässliches Kontrollsystem zur Auftragsvergabe installiert worden. Es werden etliche gravierende Rechtsverstöße und „das faktische Komplettversagen“ des Verteidigungsministeriums im Umgang mit Beratern konstatiert. Die dafür Verantwortliche ist nun für Richtungsentscheidungen, die das Leben aller EU-Bürger betreffen, zuständig.

Lobbyismus-Affäre von Philipp Amthor

Zu der aktuellen Lobbyismus-Affäre des „CDU-Nachwuchsstars“ Philipp Amthor, der sich mal eben als Abgeordneter für seine Nebentätigkeit Aktienoptionen eines US-Unternehmens übertragen ließ, sagte sein Parteikollege Johann Wadephul: „Er ist eben noch jung, und da trifft man im Überschwang noch leichter falsche Entscheidungen.“ Ist das noch Dreistigkeit oder schon mehr?

Man stelle sich solche Vorkommnisse – und ihre Konsequenzen – bei „normalen“ Menschen, etwa in der Kommunikation mit dem Finanzamt, vor. Welche Rolle spielt Kompetenz bei der Vergabe politischer Positionen – bei den Karrieren von Politikern? Welche Konsequenz haben Inkompetenz und Steuergeldverschwendung in dem System Berufspolitik?

Bei „der richtigen“ Vernetzung anscheinend: keine. Welche Rolle spielen innerparteiliche Netzwerke, Parteisoldatentum, Lobbyismus und „Drehtüreffekte“, die Verflechtungen mit Berater- und Großfirmen, die „fliegenden“ Wechsel aus der Politik auf hochdotierte Posten? Warum will ausgerechnet ein SPD-Politiker wie Olaf Scholz eine einst sinnvolle Idee, das Vorgehen gegen spekulative Großinvestoren, in ihr pervertiertes Gegenteil verkehren? Er nennt das Ganze „Finanztransaktionssteuer“ – doch was einst, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, als Mittel gegen Spekulations-Exzesse gedacht war, wurde von Scholz zu einer Gängelung von Sparern und Kleinanlegern umfunktioniert.

Spekulative Anlagen wie etwa Derivate sind von seiner geplanten Steuer explizit ausgenommen. „Die Allokation von Kapital in den Händen vieler (Kleinanleger) wird hier geopfert zugunsten des großen Kapitals“, schrieb ‚Der Aktionär‘. So ist es. Deutlicher kann man keine Politik gegen die – ohnehin von der die Immobilienpreise extrem inflationierenden Nullzins-Politik und der höchsten Abgabequote der Welt stark unter Druck gesetzten – Mittelschicht machen*. Und für die Finanzindustrie und Großinvestoren.

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Wo ist die Empörung?

Erst schwächt man das gesetzliche Rentensystem, und propagiert die „private Vorsorge“, von der vor allem große Versicherungs- und Finanzkonzerne profitieren – auch deshalb wird schon bald für 20 Prozent der Normalverdiener die Zukunft „Altersarmut“ heißen**. Dann besteuert man Aktien- und ETF-Käufe, und damit eine der extrem wenigen Möglichkeiten, sich, zumindest potenziell, etwas gegen die drohende Altersarmut zu wappnen.

Denn: „Dank“ der Nullzinsen, durch die sich Staaten entschulden, wird der Normalbürger an jedem Tag, an dem das Ersparte auf dem Konto liegt, ärmer. Wieso fällt die mediale Empörung, wenn überhaupt davon berichtet wird, gegenüber solchen stupid-dreisten Verdrehungen so verhalten aus? Welche Konsequenzen haben steigende Todeszahlen? Medial – und politisch?

Radinfrastruktur-Ausbau anderer Länder

Offensichtlich riesige, wenn es um einen Virus geht. Und fast keine, wenn es um deutsche Straßen geht. Die Zahl der Verkehrstoten geht in Deutschland seit Jahren zurück – die der getöteten Radfahrer steigt. Auf 426 im Jahr 2019. Mehr als 88.000 Radfahrer verunglückten im vergangenen Jahr. Die Lösungen liegen auf der Hand. Nichts muss neu erfunden werden.

Man muss sich nur die Bilanzen des Radinfrastruktur-Ausbaus anderer Länder zu Gemüte führen. In Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden verunglücken Radfahrer rund zehnmal seltener als in Deutschland – obwohl dort viel mehr Rad gefahren wird. In einer Studie des ADFC gab rund ein Drittel der Verkehrsteilnehmer an, nicht zum Radfahren zu gewinnen zu sein. Unter anderem aus Angst vor dem Straßenverkehr. Die Investitionen in den Radverkehr pro Kopf, laut einer Greenpeace-Studie: 70 Euro in Oslo, 105 Euro in Groningen, 132 Euro in Utrecht. In Stuttgart: fünf Euro. In Berlin: 4,70 Euro. Keine weiteren Fragen.

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Fußnoten

*Dass die deutsche Bevölkerung bei den Faktoren Median-Vermögen, Rentenhöhe und Immobilienbesitz, in Relation zur deutschen Wirtschaftskraft und zu vergleichbaren Ländern, völlig abgehängt ist, wurde in vielen früheren Leitartikeln thematisiert und kann leicht online nachgelesen werden. Zu diesem Thema sind etwa alle Veröffentlichungen des Ökonomen Dr. Daniel Stelter empfehlenswert, so auch sein neues Buch „Coronomics“. Zum Thema Kompetenz des Finanzministers hier ein Zitat von ihm zum Thema Geldanlage: „Es ist auf meinem Girokonto, ich kriege also auch keine Zinsen.“ Empathie mit den nicht-verbeamteten und seine Diät und Pension bezahlenden Steuerzahlern: offenbar null.

**Im Jahr 2036, nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung.

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