Anspruch & Realität
Profisport und Kommerzialisierung: Leitartikel zur Realität
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Zum professionellen Sport gehört auch: Show. Der Profisport ist mehr als Beruf und Berufung. Er ist auch Kommerz. Es geht um Geld, Rendite, Marge, Return-on-Investment. Was sollte sonst der Grund dafür sein, dass viele der besten Radteams der Welt ihre Fahrer im Februar bei Radrennen in Saudi-Arabien antreten lassen? In einem Land, in dem immer wieder gegen Menschenrechte verstoßen wird, in dem Frauenrechtsaktivistinnen verhaftet werden und in dem ein liberaler Blogger zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt wird, weil er für Säkularismus plädierte. Ein Land, in dessen Botschaft ein regierungskritischer Journalist getötet und zerstückelt wurde.
Was sprach dafür, dass die Rad-Weltmeisterschaften 2016 in Katar ausgetragen wurden? Bei 38 Grad im Schatten. Bei einer Nicht-Atmosphäre. Bei einer Stimmung, die der deutsche Ex-Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin „beschämend“ nannte. Nichts. Außer kommerziellen Interessen. „Geld regiert eben die Welt“, sagte Martin.
Profisport als Gegenpol zum Alltag
Dass Formel-1-Rennen an obskuren Orten ausgetragen werden, ist längst Normalität. Wobei die Formel 1 auch extrem weit von einer „normalen“ Sportart entfernt ist. Noch vor dem Fußball ist sie die durchkommerzialisierteste „Sport-Event-Serie“ der Welt.
Die Frage ist: Wie weit kann die Kommerzialisierung gehen? Wie weit reicht das System „Sport“? Oder sollte man – angesichts der Summen, um die es in manchen Profi-Sportarten geht – nicht eher von einem „Multimillionen-bis-Milliarden-Business mit angeschlossenen bewegungsnahen Events“ sprechen?
Der Sport gilt als Gegenwelt zum Alltag. Als Gegenpol zur Arbeitswelt. In dieser Welt ist es egal, ob man in eine Familie in Berlin Prenzlauer Berg oder im Wedding hineingeboren wird. Anders als in der realen Welt. Denn in dieser Anders-Welt des Sports sind alle gleich. Alle starten am selben Punkt, alle müssen sich an dieselben Regeln halten. Wer dies nicht tut, wird sanktioniert. Fairness und Teamwork – Leistung und Ertrag. Darum geht es im Sport. Eigentlich. Doch das professionelle Sportsystem ist längst vom traditionellen Milieu entkoppelt.
Nur: Die Ansprüche spiegeln dies nicht wider. Es herrscht eine Diskrepanz zwischen den, auch moralischen, Erwartungen an das gesellschaftliche Teilsystem Sport und der Realität. In dieser herrscht an der Spitze der Leistungspyramide, zumindest in den populären und damit finanziell aufgeladenen Sportarten, das Geld. Der Kommerz.
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Bedingungen für Athleten und Fans spielen im Profisport keine Rolle
Die Bedingungen für die Athleten, die Fans, die Atmosphäre bei Großereignissen scheinen oftmals keine Rolle zu spielen. Wann die Olympischen Spiele erstmals nach Nordkorea vergeben werden, scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Sarkasmus Ende. Kann derjenige, der den Sport um dessen Andersartigkeit Willen liebt, noch den professionellen Fußball verstehen? Dieser hat nichts mehr mit der eigentlichen Definition des Systems Sport zu tun.
Dieser Profisport ist nicht nur kein Gegenpart zur durchkommerzialisierten Lebens- und Arbeitswelt, nein, er ist dessen obszöne Steigerung ins Extrem. Wie bei den großen Mono- und Oligopolen unserer Zeit – etwa Amazon, Google, Facebook, BlackRock, Goldman Sachs – gelten in diesem System die Regeln: the winner takes it all. Und: Wer hat, dem wird gegeben. TV-, Investoren-, Sponsoren- und Vermarktungsgelder, Champions-League-Prämien, Transfersummen – wer oben ist, nimmt immer mehr ein. Und bleibt so oben. Man kauft sich den Erfolg. Wer unten ist, hat so gut wie keine Chance.
Natürlich geschehen ab und an noch „Fußballwunder“. Wenn ein SC Freiburg einen FC Bayern schlägt etwa. Doch diese Wunder sind selten und kurzfristig. Langfristig setzen sich die Top-Clubs – anders ausgedrückt „der Geldadel“ – finanziell und damit auch sportlich immer weiter ab. Mittels der herrschenden Geld-Erfolgs-Spirale. Es entwickeln sich sportlich-finanzielle Oligopole. Real Madrid, FC Barcelona, FC Bayern, Paris Saint-Germain, Manchester City, Juventus Turin – sie sind die BlackRocks, Vanguards und Amazons des Fußballs. Too big to fail, langfristig.
Internationalisierung
Auch im Radsport wird der Rennkalender der Profis immer länger, differenzierter, „exotischer“. Mehr Rennen an weit entfernten Zielen bedeuten für die Radprofis noch mehr Reisestress, noch weniger Zeit zu Hause. Doch wäre es zu einfach – und falsch – diese Entwicklung pauschal als „schlecht“ zu verurteilen. Denn: Natürlich sollte der Radsport weiter internationalisiert werden und nicht auf die traditionellen Radsport-Nationen beschränkt sein. Großbritannien etwa hat sich innerhalb weniger Jahre zu einer solchen transformiert – hin zu einer riesigen Fan-Gemeinde, zu immer mehr Rad-Pendlern, Radmarathons, Rad-Cafés, einer Rad-Kultur.
Der richtige Beginn dieser Transformation liegt erst acht Jahre zurück: Der erste Sieg eines Briten bei der Tour de France, Sir Bradley Wiggins’ Auftritt 2012. Ähnliche Entwicklungen sind aktuell in manchen südamerikanischen Ländern zu beobachten. Die Renn-Saison vieler Profis beginnt inzwischen im Januar, in Argentinien, mit der Vuelta a San Juan. Auf einem Kontinent, auf dem die Radsport-Begeisterung schon lange glimmt – und gerade zu einem Feuer wird. Dank Fahrern wie Rigoberto Urán, Nairo Quintana, Richard Carapaz, des aktuellen Giro-Siegers, und Egan Bernal, des aktuellen Tour-Siegers.
Die soziale Kraft
Auch die Rad-WM kann eine Chance sein. Um die Austragung 2025 haben sich zum ersten Mal zwei afrikanische Länder beworben: Marokko und Ruanda. Vor einigen Monaten wurde die Bewerbung Ruandas massiv geschwächt – durch einen Korruptionsfall im nationalen Radsportverband. Und das ausgerechnet in einem der wenigen afrikanischen Länder, in denen die Korruption zurückgedrängt wurde. Einem Land, dessen durchschnittliches Wirtschaftswachstum zwischen 2001 und 2015 bei rund acht Prozent liegt. Einem Land, in dem die Einschulungsquote bei 100 Prozent liegt – und in dem 91 Prozent der Einwohner krankenversichert sind. Einem Land, das den Radsport liebt.
Es ist ein Abwägen. Der Sport hat eine enorme soziale Kraft. Gerade auch in Ruanda habe ich diese Kraft selbst erlebt. In jenem Land, in dem vor 26 Jahren ein Genozid stattfand: Innerhalb von drei Monaten wurden bis zu einer Million Menschen ermordet. 97 Prozent der Opfer waren Tutsi. Ich habe sie während der Tour du Ruanda selbst gesehen und gefühlt: die unglaubliche soziale Kraft des Sports. Die Begeisterung, die Freude, die Euphorie. Die ruandischen Radsportler sind hier Nationalhelden. Der Radsport kann Helden schaffen – und Identität. Er kann dabei helfen, Gräben zu überwinden – und seelische Wunden zu heilen. Bringt ihn dorthin, wo er am meisten Gutes bewirken kann. Dorthin, wo er die meisten Menschen glücklich macht.
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