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Leitartikel: Welche Auswirkungen hat Spitzensport auf die Lebenserwartung?

Siegen & sterben

Leitartikel: Welche Auswirkungen hat Spitzensport auf die Lebenserwartung?

Sport ist gesund, heißt es. Ja, Bewegung ist eine Notwendigkeit – ein Puzzlestück der Gesundheit, des Erlebens, der Zufriedenheit, des Glücks. Doch der Spitzensport ist, teilweise, sehr anders.
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Jung stirbt, wen die Götter lieben? Dieses Zitat stammt aus der Antike – doch es ist auch die Überschrift eines aktuellen wissenschaftlichen Artikels. Dessen wichtigste Erkenntnis: Spitzensportler sterben früher. Und: Je erfolgreicher ein Athlet ist, desto früher stirbt er.

Dies sind – vereinfacht zusammengefasst – die Befunde einer großangelegten Studie. Die Stichprobe: 6066 deutsche Top-Athleten, Teilnehmer an Olympischen Spielen. Der untersuchte Zeitraum: 1956 bis 2016 – von den Winterspielen in Cortina d’Ampezzo bis zu den Sommerspielen von Rio de Janeiro. Der Autor der Studie, Professor Lutz Thieme, ist Sportökonom an der Hochschule Koblenz – und selbst ein ehemaliger Leistungssportler. Er untersuchte die Lebenszeiten der deutschen Olympia-Athleten, verglich sie mit der „Normalbevölkerung“ – unterteilt in unterschiedliche Jahrgänge und weitere Kategorien – und stellte fest: Deutsche Top-Athleten leben kürzer. Spitzensport wird mit dem „Einsatz von Lebenszeit“ bezahlt.

Überraschungen

Das Risiko steigt mit dem Erfolg. Top-Athleten sterben früher als „normale Menschen“, Männer früher als Frauen – und Olympiasieger früher als -teilnehmer. Goldmedaillen bedeuten: ein kürzeres Leben. Die – statistisch gesehen – stärksten drei Risikofaktoren für die Überlebenswahrscheinlichkeit: das männliche Geschlecht, Teil des westdeutschen Teams zu sein, eine Goldmedaille zu gewinnen.

Für westdeutsche Olympiateilnehmer in der Altersgruppe bis 34 Jahre lag das Sterberisiko in allen untersuchten Generationen deutlich über dem der Gesamtbevölkerung. Ab 1995 ist die Mortalitätsrate unter Olympiateilnehmern doppelt so hoch.

Auch die Werte der ostdeutschen Olympiateilnehmer dieser Altersgruppe liegen über denen „normaler Menschen“ – aber deutlich niedriger als jene westdeutscher Athleten. Dies ist das wohl am wenigsten erwartete Ergebnis: DDR- leben länger als BRD-Olympia-Athleten. „Ich weiß, dass das erstaunt und zu Diskussionen führen wird“, sagt Lutz Thieme, „aber das ist nun mal das Ergebnis. Da wird nichts zurechtgebogen.“

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Welche Effekte hat ein jahrelanges Doping?

Die Frage, welche Effekte ein jahrelanges Doping hat, kann mittels dieser Untersuchung nicht beantwortet werden. Dass nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik Staatsdoping-Programme durchgeführt wurden, wurde im großen Rahmen erst durch die Studie „Doping in Deutschland“ 2013 publik.

Die Daten „klassischer Dopingsportarten“ – zu denen Thieme Schwimmen, Biathlon, Skilanglauf, Leichtathletik, Eiskunstlauf, Rudern und Gewichtheben zählte – weichen nicht von denen anderer Sportarten ab.

Für Deutschland gab es bislang nur eine ähnliche Studie. Darin wurde die Mortalität von 812 Fußball-Nationalspielern der Jahre 1908 bis 2006 überprüft. Das Ergebnis: Ihre Sterblichkeit war über die Jahrzehnte hinweg stets erhöht. Je jünger die Spieler waren, als sie in die Nationalkader aufgenommen wurden, desto größer war ihr Risiko, früh zu sterben.

Ist Erfolg im Spitzensport lebensgefährlich?

Ist Erfolg im Sport demnach lebensgefährlich? Ja und Nein. Wie immer gilt: Pauschalisierungen sind etwas für Idioten. Teramoto & Bungum verglichen 2010 in einer großen Metaanalyse die Teilnehmer an nationalen oder internationalen Meisterschaften beziehungsweise Profisportler mit „normalen Menschen“. Und fanden bei Ausdauer-Athleten eine erhöhte Lebenserwartung.

Die Autoren führen dies auf die positiven Effekte des Sports auf das Herz-Kreislauf-System zurück. Für Kraft- und Mannschaftssportarten liegen jedoch sehr differenzierte internationale Ergebnisse vor.

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Spitzensport-Welten

US-amerikanische Forscher stellten bei ihrer Studie an fast 4000 Profi-Footballspielern der Jahre 1982 bis 1992 keine Unterschiede zu den Sterblichkeitsraten der Bevölkerung fest. Die finnischen Meister im Gewichtheben der Jahre 1977 bis 1982 zeigten jedoch – in einer anderen Studie und verglichen mit der Gesamtbevölkerung – eine klar höhere Mortalität.

„Den Sport“ gibt es nicht. Es gibt verschiedene Teilbereiche des gesellschaftlichen Systems „Sport“. Der Spitzen- und Profi- ist eine völlig andere Welt als der Freizeitsport. Über die Vorteile des Sporttreibens muss man nicht mehr debattieren – sie sind wissenschaftlich klar erwiesen, valide und objektiv. Kinder, Alte, Kranke – jeder kann vom Sporttreiben profitieren. Körperlich und mental. Doch an der Spitze der Leistungspyramide herrschen, wie überall an der Spitze von Kompetenz- beziehungsweise Leistungshierarchien, andere, extremere Umstände.

Warum herrschen im Spitzensport extremere Umstände?

Was sind die Gründe? Hat diese Sterblichkeit mit den Auswirkungen des Dopingmissbrauchs zu tun? Ist es ein Henne-Ei-Problem? Vielleicht sind im Hochleistungssport mehr Menschen mit „extremen“ Charakteren vertreten als in der „Normalbevölkerung“: höher, schneller, weiter – mehr Risiko, weniger Kompromissbereitschaft.

Zudem ist die Sozialisation in Leistungssportstrukturen eine andere als außerhalb. Willensstärke, Disziplin, Selbstüberwindung, Ehrgeiz, eine enorme intrinsische Motivation – wer diese Eigenschaften nicht aufweist, wird in der Regel kein Spitzenathlet.

Der faustische Pakt: Leben gegen Erfolg

Nicht nur die Physis von Top-Athleten könnte anders als die „normaler Menschen“ sein, sondern auch die Psyche. Dies zeigte unter anderem das berühmte „Goldman-Dilemma“. Der Begriff geht auf Untersuchungen des US-amerikanischen Arztes Bob Goldman zurück. Er führte, zwischen 1982 und 1995, immer wieder Befragungen von Akteuren im Spitzensport durch.

Seine Frage an die Athleten lautete sinngemäß: Wären Sie bereit, eine Droge beziehungsweise ein Mittel einzunehmen, durch das Sie garantiert eine olympische Goldmedaille gewinnen – auch wenn Sie innerhalb der nächsten fünf Jahre daran sterben? Rund 50 Prozent der befragten Athleten antworteten mit: Ja. Leben gegen Erfolg – ein faustischer Pakt.

Heute werden Goldmans Ergebnisse teils kritisiert und infrage gestellt. In einer 2013 im „British Journal of Sports Medicine“ erschienenen Studie nahmen nur zwei der 212 befragten Athleten diesen Pakt an. Wäre das verabreichte Mittel „legal“, so würden 13 Sportler den Tod akzeptieren. In einer 2018 in „Sports Medicine“ erschienenen Untersuchung mit rund 2900 Probanden akzeptierten zwischen sieben und 14 Prozent der befragten Athleten den Tod. Die höchste „Zustimmungsrate“ wurde unter den Spitzensportlern festgestellt.

Welche Ursachen hat das frühere Sterben im Spitzensport?

Was sind die Konsequenzen aus Lutz Thiemes Studie? Was sind die Ursachen des frühen Sterbens? Doping? Charakter oder Sozialisation, was war zuerst da? Kann man guten Gewissens Kinder und Jugendliche zum und im Spitzensport sozialisieren? Diese Fragen müssen beantwortet werden.

Lutz Thieme plädiert für eine von „Sportverbandsinteressen unabhängige medizinische Überwachung“. Und für einen Ausgleich – eine Sportlerrente etwa.

Einen Deal: Lebenszeit gegen Geld. Doch: Kann dies eine ethisch vertretbare Lösung sein? „Wenn individuelle sportliche Leistungen weiterhin gesellschaftlich angeeignet werden“, schreibt Thieme, „sind deren Erbringer für die entgangene Lebenszeit zu entschädigen.“


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