Verkehrspolitik, Kennzeichnungspflicht, Leitartikel
Kennzeichnungspflicht für Radfahrer? Rechte und Pflichten im Verkehr

Regel / Wut

Kennzeichnungspflicht für Radfahrer? Rechte und Pflichten im Verkehr

Gleiche Pflichten und Rechte für alle Verkehrsteilnehmer? Ist dies möglich? Und: Ist eine Kennzeichnungspflicht für Fahrräder sinnvoll? Ein Leitartikel.
TEILE DIESEN ARTIKEL

Jeder Mensch ist oftmals nur eine Nummer – im Steuersystem, beim Reisen, im Gesundheitssystem, im Auto. Und bald auch auf dem Fahrrad. Wenn es nach manchen geht – nach Barbara Slowik etwa, der Polizeipräsidentin von Berlin. Sie wärmte im Oktober eine alte Debatte wieder auf: Die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für Fahrräder.

Die Gründe: steigende Unfallzahlen und mehr Fahrerfluchten von Radfahrern. „Wir beobachten eine zunehmende Aggressivität im Straßenverkehr – auch bei Fahrradfahrern. Über 50 Prozent der Verkehrsunfälle mit Radfahrern werden im Übrigen von Radfahrern selbst verursacht“, sagte sie. Und: „Das Gefahrenpotenzial von Radfahrenden ist natürlich nicht mit dem von Kraftfahrzeugen zu vergleichen; dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Radfahrende gegenüber zu Fuß-Gehenden die stärkeren Verkehrsteilnehmenden sind.“

Das Ziel müsse sein, die schwächeren Verkehrsteilnehmer zu schützen. „Mit Blick auf die Beschwerden, die uns von Fußgängern übersandt werden, wäre eine Kennzeichnungspflicht auch für Radfahrer diese Überlegungen zumindest wert“, sagte Slowik im Interview mit der „Berliner Morgenpost“. Oliver Friederici von der CDU Berlin unterstützte diesen Vorschlag – und schlug vor, die Fahrrad-Kennzeichnungspflicht auf ganz Deutschland auszuweiten.

Unfälle

Auch Gunnar Schupelius fordert in seinem Kommentar in der „Berliner Zeitung“ eine Haftpflichtversicherungs- und Kennzeichnungspflicht für alle Radfahrer: „Es ist schwer zu sagen, wer sich im Straßenverkehr schlechter benimmt: die Autofahrer oder die Radfahrer. Fußgänger übrigens auch nicht zu vergessen. Aus meiner Sicht als Autofahrer sind es auf jeden Fall die Radfahrer. Sie bringen mich zehn Mal am Tag in eine gefährliche Lage, weil sie alle Regeln brechen (…). Früher waren Räder langsam und leicht, heute sind sie schnell und schwer. Sie fahren locker 40 Stundenkilometer, auch ohne Unterstützung durch einen Elektromotor, und sie haben einen langen Bremsweg (…). Unter allen Verkehrsteilnehmern begehen Fahrradfahrer am häufigsten Unfallflucht (…). Das Fahrrad gilt als gleichberechtigt mit den motorisierten Verkehrsmitteln. Dann muss es auch gleichbehandelt werden. Das wäre nur fair.“

Soweit die Meinungen – nun zu den Fakten. Zu der angeführten Zahl, dass über 50 Prozent der Fahrrad-Verkehrsunfälle in Berlin von den Radfahrern selbst verursacht werden, muss man konstatieren: ja. Und nein.

RennRad 1-2/2021, Test, Banner, Heftinhalt, Shop

Traumräder und Rollentrainer im Test, Extrem-Radsportler erzählen ihre Geschichte – dazu Training- und Ernährungstipps: Die RennRad 1-2/2021 können Sie jetzt hier als E-Paper oder Printmagazin bestellen!

Wie belastbar sind die Statistiken?

Die Zahl – 52 Prozent, um genau zu sein – ist richtig, doch ihre Aussagekraft ist nichtig. Denn, statistisch gesehen, zählt auch jeder „Alleinunfall“ auf dem Rad, jedes Ausrutschen auf feuchtem Laub etwa, als Unfall. Ebenso fließen bereits Vorfälle wie angezeigte Kratzer im Lack eines Autos in die genannte Unfallflucht-Statistik ein – „Unfälle“ also, die teils von den Verursachern nicht einmal bemerkt werden.

Die „Sonderuntersuchung Radverkehrsunfälle“ der Berliner Polizei für das Jahr 2018 zeigte, dass nach Unfällen 8,7 Prozent der Radfahrer Unfallflucht begingen. So wie 7,6 Prozent der Autofahrer, und fast 15 Prozent der LKW-Fahrer – trotz der Kennzeichen an ihren Gefährten.

2019 wurden in Berlin 147.306 Verkehrsunfälle von der Polizei aufgenommen. Die Hauptursache: Abbiegeunfälle. Die Unfallverursacher: in 68 Prozent der Fälle Autofahrer, in 13 Prozent der Fälle LKW-Fahrer – und in weniger als vier Prozent der Fälle Radfahrer. An 75 Prozent dieser Unfälle waren PKW beteiligt, an zehn Prozent LKW – und nur an 3,9 Prozent Fahrräder.

Kennzeichnungspflicht für Fußgänger?

52,3 Prozent der Unfälle 2019 zwischen Radfahrern und Fußgängern wurden von den Fußgängern verursacht oder mitverursacht. Wann kommt demnach, stringent gedacht, aus der Politik die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht für Fußgänger?

Die Zahl der Schwerverletzten bei Unfällen zwischen Radfahrern und Fußgängern 2019: 43. Schwerverletzte nach Unfällen zwischen Autos und Fußgängern: 385. Deutschlandweite Zahlen aus 2018: Bei Unfällen zwischen Radfahrern und PKW waren die Autofahrer zu 75 Prozent die Hauptverursacher. Bei jenen zwischen LKW und Radfahrern traf die Hauptschuld in 80 Prozent der Fälle die LKW-Fahrer.

Effizienz und Sicherheit

Die Zahl der in Berlin schwer verletzten Radfahrer stieg innerhalb eines Jahres – 2017 auf 2018 – von 627 auf 743, die der leicht verletzten von 4350 auf 4886, die der getöteten von neun auf elf. 2020 sind, laut ADFC, bis Mitte Oktober bereits 16 Radfahrer nach Unfällen auf Berliner Straßen gestorben. Dabei hat Berlin als erstes Bundesland eine „Vision Zero“ gesetzlich verankert.

Darin heißt es: „Ziel ist, dass sich im Berliner Stadtgebiet keine Verkehrsunfälle mit schweren Personenschäden ereignen.“ Das Fazit Nummer eins: Mit Statistiken, die aussagekräftig sind, scheinen in Berlin manche Schwierigkeiten zu haben. Das Fazit Nummer zwei: Mit Effizienz und Pragmatismus ebenso.

Kein deutsches Nachbarland hat Kennzeichnungspflicht für Radfahrer

Keines der deutschen Nachbarländer, in denen der Radverkehrsanteil teils sehr viel höher ist, hat eine Kennzeichnungspflicht für Fahrräder. In der Schweiz galt eine solche rund 100 Jahre lang. 2012 wurde sie abgeschafft – unter anderem wegen des zu hohen Verwaltungsaufwands.

Wenn es in Deutschland an einem nicht mangelt, dann an Bürokratie. „In Deutschland gibt es fast 80 Millionen Fahrräder“, sagt Ragnhild Sørensen, Pressesprecherin des Vereins Changing Cities. „Wir haben ein viel größeres Problem mit Falschparkern als mit Radfahrern.“

Auch Vertreter des Fachverbands Fußverkehr lehnen die Vorschläge ab. Solche Nummernschilder wären zu klein, um sie richtig erkennen zu können, sagt Roland Stimpel, ein Vereinsvorstand. Stattdessen solle die Politik für breitere Radwege und härtere Strafen sorgen. „So ließe man alle regeltreuen Radfahrer in Ruhe und bestraft die, die sich nicht an die Regeln halten.“ Welche sind die größten Gefahrenquellen für Fußgänger und Radfahrer? „Die echte Gefahr“, sagt Nikolas Linck, ADFC, „geht für beide Gruppen nach wie vor vom Autoverkehr aus: Zwei Drittel der Verkehrstoten in Berlin sind Radfahrer oder Fußgänger, obwohl sie zusammen an nur fünf Prozent aller Unfälle beteiligt sind.“

2018 registrierte die Berliner Polizei 2159 Kollisionen zwischen Kraftfahrzeugen und Fußgängern. 19 Fußgänger starben. An vier von fünf Fußgängerunfällen sind Autos beteiligt.

Radwege und Risiken

Die Zahl der Radfahrer – in Berlin und anderen Städten – steigt nicht wegen, sondern trotz der vorhandenen beziehungsweise nicht vorhandenen Fahrrad-Infrastruktur. Im Rahmen einer Forsa-Umfrage wurde festgestellt: Mehr als acht von zehn Berliner Radfahrern, 84 Prozent, geben an, dass sie sich im Straßenverkehr nicht sicher fühlen. „Sehr sicher“ fühlt sich niemand, „sicher“ nur jeder Sechste.

In einer landesweiten Umfrage des ADFC mit 170.000 befragten Radfahrern gaben diese der „Sicherheit auf dem Rad“ im vorvergangenen Jahr die Note 4,2. Zwei Jahre zuvor lag die Note noch bei 3,9. 81 Prozent der Befragten ist es demnach wichtig, auf dem Rad vom Autoverkehr getrennt zu sein. Ein Drittel der Befragten gab an, nicht zum Radfahren zu gewinnen zu sein. Unter anderem aus Angst vor dem Straßenverkehr.

Safety-in-Numbers-Effekt

Ein effizientes Mittel für mehr Sicherheit wäre: Die Zahl der Radfahrer zu steigern. Denn: Es besteht ein „Safety-in-Numbers-Effekt“. Dies zeigten mehrere große Studien. So wurde etwa in der auf den Radverkehr eingestellten und ausgelegten Hauptstadt Dänemarks, Kopenhagen, festgestellt, dass das Unfallrisiko für Radfahrer innerhalb von 15 Jahren um mehr als 70 Prozent zurückgegangen ist. Trotz, beziehungsweise wegen des massiven Anstiegs des Radverkehrsanteils.

In Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden verunglücken Radfahrer rund zehnmal seltener als in Deutschland. Hier noch einmal die bereits in einem früheren Leitartikel angeführten Zahlen zu den Berliner Radinfrastruktur-Investitionen.

Recht und Pflicht

Die Summe, die der für die Radverkehrsinfrastruktur verantwortlichen Berliner Landesgesellschaft Infravelo 2019 zur Verfügung stand: 6,5 Millionen Euro. Die Summe, die dafür in den Radwegebau floss: 73.000 Euro. Die Summe, die laut dem Tagesspiegel für das Anmalen von Radwegen mit grüner Farbe, die „Grünbeschichtung von Radverkehrsanlagen“, ausgegeben wurde: 4,13 Millionen Euro. Die Investitionen in den Radverkehr pro Kopf, laut einer Greenpeace-Studie, in Berlin: 4,70 Euro. In Oslo: 70 Euro. In Utrecht: 132 Euro.

Das Fazit Nummer drei dieses Leitartikels lautet demnach: In Deutschland – gerade in großen Städten wie Berlin – herrscht bei den Themen Radverkehr und Sicherheit ein klar belegbares Politikversagen.

Ein Fazit passend zu Berlin. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung verglich für die Studie „Berlin auf dem Weg ins Jahr 2030“ die deutsche mit 15 anderen europäischen Hauptstädten. Die Ergebnisse: Bei der Verwaltungseffizienz kam Berlin auf den vorletzten Platz, knapp vor Rom, bei der Luftverschmutzung auf den zwölften – von 16. Der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel sagte bereits 2019, dass der Rechtsstaat in der Stadt „in Teilen nicht mehr funktionsfähig“ sei. 8500 Haftbefehle seien nicht vollstreckt, Straftäter blieben frei, minderschwere Verbrechen würden teils gar nicht erst verfolgt.

Allein alle Skandale um die „Ausbildung“ an der Berliner Polizeischule hier aufzureihen, würde den Rahmen sprengen. Berlin erfüllt viele Kriterien eines „failed state“. Eine Grundsatzfrage demnach ist: Haben die Verantwortlichen der Berliner Politik und Polizei nicht andere Dinge zu tun? Grundsätzliches? Das Gewährleisten der Sicherheit der Bewohner und eine funktionierende Verwaltung und Exekutive etwa? Ja, man kann dies Polemik nennen. Die Kennzeichnungspflicht für Fahrräder wird unter anderem mit dem Argument der Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer gefordert. Dieses Argument ist völlig legitim. Dem könnte man sofort zustimmen. Dann gälte: dieselben Rechte und Pflichten für alle.

Eine Infrastruktur, die alle Verkehrsteilnehmer schützt

Nur sollte dies dann auch die Infrastruktur betreffen. In Form von: Radwegen, die diese Bezeichnung verdienen. Sicherheitsstreifen an Kreuzungen. Radschnellwegen. Genug öffentlichen Stellplätzen.

Einer Infrastruktur, die alle Verkehrsteilnehmer schützt. Die die Angst vor dem Radfahren – und die Angst auf dem Rad – nimmt. Die Radfahrer, Fußgänger und Autos räumlich trennt. Die dazu beiträgt, mehr Menschen auf Fahrräder zu bekommen. Und damit gleich mehrere enorm wichtige, wünschenswerte, nein notwendige Effekte hat – auf den CO2-Ausstoß, auf Staulängen, auf die Luftqualität, auf Bewegungsmangel-Krankheiten, auf das Gesundheitssystem, auf die Psyche. Effekte, wie sie die politischen Entscheider fördern sollten. Müssten. Eine Infrastruktur wie sie andere Länder* längst haben.

*Trotz deutlich niedrigerer Abgabequoten. Die Deutschen zahlen die höchsten Steuern und Sozialabgaben der Welt. Fehlende Budgets können damit für die Politik nicht als „Argument“ gegen den Infrastrukturausbau dienen. Zahlreiche Belege und Studien für die positiven Effekte von Radinfrastruktur-Investitionen finden Sie in den Leitartikeln der RennRad-Ausgaben 3/2020 und 8/2020.


Weitere Leitartikel von RennRad-Chefredakteur David Binnig

Schlagworte
envelope facebook social link instagram