Fahrradklima
Fahrradklima-Test 2020: Leitartikel zur Radinfrastruktur in Deutschland
in Allgemein
Welche Schulnote braucht es wohl, um zur „fahrradfreundlichsten“ Großstadt Deutschlands gekürt zu werden? Die Antwort lautet weder 1,0 noch 1,3 noch 1,8 noch 2,2 – sie lautet: 3,6. Oder anders, traditionell, ausgedrückt: eine Drei-Bis-Vier. Nicht sehr gut, nicht gut, nicht befriedigend, nein, „ausreichend“. Dies reicht aus für den ersten Platz. Zumindest im Deutschland des Jahres 2020. Diese Note wurde im Rahmen des „ADFC Fahrradklima-Test 2020“ vergeben. Dafür haben bundesweit 230.000 regelmäßig radfahrende Menschen über die „Fahrradfreundlichkeit“ von 1024 Städten und Gemeinden abgestimmt.
Die wichtigsten Ergebnisse beim ADFC Fahrradklima-Test: Die Gesamt-Zufriedenheit der Radfahrer bleibt auf einem sehr niedrigen Niveau. Die Schulnote dazu: 3,9. 80 Prozent der Befragten halten die Radwege in ihrer Region für zu schmal. Für 75 Prozent sind mangelnde Falschparker-Kontrollen auf Radwegen ein Problem. Rund 70 Prozent bemängeln die schlechte Führung von Radwegen an Baustellen. 69 Prozent fühlen sich beim Radfahren nicht sicher. Die Schulnoten für die Breite, die Baustellenführung und die Falschparker-Kontrolle von beziehungsweise auf deutschen Radwegen: 4,7, 4,7, 4,8. Oder anders ausgedrückt: mangelhaft.
Fahrradklima-Test: Stadt und Land
Die Städte und Gemeinden wurden in sechs Größenklassen unterteilt: mehr als 500.000, mehr als 200.000, mehr als 100.000, mehr als 50.000, mehr als 20.000 und unter 20.000 Einwohner. Die besten Noten erhielten die „kleinen Städte“: Nordhorn wurde in der Kategorie „mehr als 50.000 Einwohner“ mit der Note 2,6 am besten bewertet, Baunatal in der Klasse mit mehr als 20.000 Einwohnern mit der Note 2,4. In der Gruppe bis 20.000 Einwohner wurden gleich 17 Orte besser als 3,0 bewertet. Die schlechtesten Bewertungen in ihren Größenklassen betrafen: Köln, Note 4,4 – Duisburg, Note 4,5 – Hagen, Note 4,9 – Lüdenscheid, Note 5,0 – Kulmbach, Note 4,7 und Schiffweiler, Note 4,9.
Die deutschlandweiten „Bestnoten“ betrafen die schnelle Erreichbarkeit von Stadtzentren, Note 2,9, die Öffnung von Einbahnstraßen in der Gegenrichtung, Note 3,0 und die Radnutzung durch Radfahrer aller Altersklassen, Note 3,1.
Fahrrad-Boom
Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass die Corona-Pandemie die Bedeutung des Fahrrads gesteigert habe. Zurecht – wenn man sich die Verkaufszahlen und die Umsatzsteigerung des Fahrradhandels zu Gemüte führt. Letztere betrug 2020: rund 60 Prozent. Allein im ersten Halbjahr wuchs der E-Bike-Absatz nach Schätzungen des Zweirad-Industrie-Verbands um 15,8 Prozent. Rund 1,1 Millionen E-Bikes wurden allein in diesen ersten sechs Monaten des Vorjahres verkauft.
Die Zahl der verkauften Rennräder stieg im Jahr 2020 um 26,9 Prozent im Vergleich zu 2019. Dem „Mobilitätsmonitor 2020“ des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge stieg der Anteil der Menschen, die täglich Rad fahren, im Vergleich zum Vorjahr von 17 auf 22 Prozent.
Allein in München nahm der Radverkehr, laut einer BR24-Datenanalyse, innerhalb eines Jahres um rund ein Fünftel zu. Die Zahlen dazu sind objektiv, da in der Stadt sechs festinstallierte „Raddauerzählstellen“ täglich valide Daten zum Zweiradverkehr liefern. Für die Analyse wurden die Radfahrer-Zahlen der Monate März bis Mai 2020 mit jenen desselben Vorjahreszeitraums verglichen.
Schlusslicht beim Fahrradklima-Test
Dass die Zunahme des Radverkehrs nicht mit einer Zunahme der Qualität und/oder der Quantität der Rad-Infrastruktur zusammenhängen muss, machen etliche Beispiele deutlich: Etwa die, natürlich nicht objektive, jahrelange Erfahrung des Autors dieser Zeilen hinsichtlich der Nutzung einer der „Haupt-Radverkehrs-Schlagadern“ Münchens – des „Isar-Radwegs“.
Der wohlklingende Name steht für einen teils keine zwei Meter breiten Pfad entlang der Isar, den sich schnelle mit langsamen Radfahrern, Jogger mit Walkern, Spaziergänger mit Hunden, E-Roller- mit Segway-Fahrern – also alle mit allen – teilen. Entsprechend hoch fällt das Unfallrisiko und entsprechend niedrig die Pendel-Tauglichkeit aus.
Auch in Köln nimmt der Radverkehr zu – in jener Stadt, die im ADFC-Fahrradklima-Test das Schlusslicht ihrer Größen-Kategorie belegt. Mit der Note: 4,4. 2020 wurden an zwölf Dauerzählstellen im Kölner Stadtgebiet insgesamt 14.212.358 Radbewegungen gemessen. Und damit rund elf Prozent mehr als im Vorjahr. Ein neuer Allzeit-Rekord. Trotz der vorhandenen – beziehungsweise nicht vorhandenen – Rad-Infrastruktur. Nicht wegen ihr.
Vorbilder
Was passieren müsste, wie man das Radfahren sicherer macht und wie man vor allem mehr Menschen dazu verleiten kann, öfter auf ein Fahrrad zu steigen, ist klar. Dazu muss nichts evaluiert oder erfunden oder in Gremien, Ausschüssen oder Räten jahrelang diskutiert werden. Es würde genügen, die Erfolge einiger Nachbarländer wahrzunehmen. Und denselben Weg zu gehen wie sie und dieselben Maßnahmen zu ergreifen. Zum Beispiel indem man klar vom übrigen Verkehr abgetrennte und ausreichend breite Radwege baut.
Die weltweite „Fahrradfreundlichkeit“ von Städten wird unter anderem im sogenannten „Copenhagenize-Index“ erfasst. Er ist definiert durch 13 Bewertungskriterien für Großstädte über 600.000 Einwohner weltweit. Auf Basis dieser Kriterien – wie etwa der Interessenvertretung, der Rad-Infrastruktur, dem Anteil des Radverkehrs insgesamt und der Stadtplanung – wird ein Ranking erstellt. 2019 weltweit auf Platz eins der radfahrer-freundlichsten Städte: Kopenhagen, Dänemarks Hauptstadt. 49 Prozent aller Kopenhagener fahren mit dem Fahrrad zur Arbeit, zur Schule oder zu ihrer Ausbildungsstätte. Im Modal-Split macht der Radverkehr unter allen Wegen 28 Prozent aus. 84 Prozent der Bewohner bewerten die Radverkehrssituation der dänischen Hauptstadt als gut. 77 Prozent fühlen sich beim Radfahren sicher. Und in Deutschland?
Menschen wollen mehr Radfahren
„Seit Corona ist überdeutlich geworden: Die Menschen in Deutschland wollen mehr Radfahren – und zwar auf guten, breiten Radwegen. Häufige Alltagserfahrung ist aber immer noch: Radwege sind zu schmal, zugeparkt oder durch Baustellen unterbrochen“, sagt die ADFC-Vizebundesvorsitzende Rebecca Peters. Laut der Ergebnisse des Fahrradklima-Tests liegen die höchsten Prioritäten aus Sicht der radfahrenden Menschen hierzulande in: einem hohen Sicherheitsgefühl, für 81 Prozent der Befragten – der Akzeptanz von Radfahrern durch andere Verkehrsteilnehmer, für 80 Prozent – und einem konfliktfreien Miteinander von Rad- und Autoverkehr, für 79 Prozent.
Die mit der schlechtesten Note bedachte Frage des Fahrradklima-Tests lautet übrigens: Gab es aus Ihrer Sicht während der Corona-Zeit handfeste Signale für mehr Fahrradfreundlichkeit? Die Note dazu: 5,3.
Dieser Leitartikel erschien in der RennRad 6/2021. Hier können Sie die Ausgabe als E-Paper oder Printmagazin bestellen.
Die „Sieger“ beim ADFC-Fahrradklima-Test 2020
Klasse über 500.000 Einwohner
Platz | Stadt | Note |
1 | Bremen | 3,6 |
2 | Hannover | 3,7 |
3 | Frankfurt am Main | 3,7 |
Klasse über 200.000 Einwohner
Platz | Stadt | Note |
1 | Karlsruhe | 3,1 |
2 | Münster | 3,2 |
3 | Freiburg | 3,4 |
Klasse über 100.000 Einwohner
Platz | Stadt | Note |
1 | Göttingen | 3,3 |
2 | Erlangen | 3,3 |
3 | Heidelberg | 3,5 |
Klasse über 50.000 Einwohner
Platz | Stadt | Note |
1 | Nordhorn | 2,6 |
2 | Bocholt | 2,8 |
3 | Konstanz | 3,2 |
Klasse über 20.000 Einwohner
Platz | Stadt | Note |
1 | Baunatal | 2,4 |
2 | Meckenheim | 2,7 |
3 | Westerstede | 3,0 |
Klasse bis 20.000 Einwohner
Platz | Stadt | Note |
1 | Wettringen | 2,0 |
2 | Reken | 2,1 |
3 | Rutesheim | 2,2 |