Radverkehr
Diskussion: Radfahrer gegen Autofahrer

Radfahrer: gefährlich oder gefährdet? Ein Offener Brief

Diskussion: Radfahrer gegen Autofahrer

„Radfahrer sind rücksichtslos, ignorant und gefährlich“, schreibt der Kabarettist Christian Springer in einem Offenen Brief in der Münchner „Abendzeitung“. Und füllt damit das Sommerloch. Hier ist die Antwort darauf. Denn es ist gefährlicher, ohne Empathie Statistiken zu missinterpretieren – und als Lösung für überfüllte Städte mit einer fehlenden Infrastruktur eine ganze Bevölkerungsgruppe auszugrenzen.
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Der Kabarettist Christian Springer ist Autofahrer, weil er nicht Radfahren kann und will. Er schreibt seine Alltagsbeobachtungen für die Münchner „Abendzeitung“ auf und kommt dabei zu dem Schluss, dass sich die meisten Verkehrsteilnehmer an die Regeln halten, nur die Radfahrer nicht. Zitat: „Alle? Nein. Aber leider fast alle.“ Dieser Schluss wird durch die Beobachtung begründet, dass in der Straße vor seiner Wohnung die Radfahrer nicht die beiden „breiten Radwege“ nutzen, sondern „fahren, wo sie wollen“. Zudem fußt diese Aussage auf „zwei Fußtritten gegen Auto und Spiegel“, auf „wüsten Beschimpfungen“ und auf einer Zahl, die wohl einen Hauch von Objektivität vermitteln soll. Zitat: „In Bayern gibt es jedes Jahr über 14.000 verletzte Radfahrer im Verkehr. An fast zwei Dritteln der Unfälle sind aber die Radfahrer schuld. Das ist Irrsinn.“

Radfahrer

Die Diskussion zwischen Autofahrern und Radfahrern ebbt nicht ab.

Falsch interpretierte Zahlen, die Objektivität vermitteln sollen

Irrsinn ist, wie diese Zahl umgedeutet wird. Diese Verdrehung der Tatsachen macht Opfer zu Tätern und grenzt damit an Fake News. Denn zu den Unfällen, an denen Radfahrer „Schuld sind“, zählen all jene, an denen sonst niemand beteiligt ist: Also alle „Alleinunfälle“, jeder Sturz, jedes Wegrutschen auf einer glatten Fahrbahn. Aussagekraft dieser Zahl: null. Was dagegen aussagekräftig ist, sind die Zahlen für Deutschland zu Unfällen mit zwei Beteiligten. Diese kommen vom Statistischen Bundesamt, umfassen die Jahre 2013 bis 2016 und zeigen ein völlig anderes Bild als es der Briefschreiber vermitteln möchte: Bei Unfällen zwischen Radfahrern und PKW waren die Autofahrer zu 75 Prozent die Hauptverursacher. Bei jenen zwischen LKW und Radfahrern traf die Hauptschuld zu 80 Prozent die LKW-Fahrer.

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Opfer zu Tätern machen

Zwischen 2006 und 2015 starben in Deutschland 4148 Radfahrer, mehr als 750.000 wurden verletzt. Die Zahl der Verkehrsunfälle fällt seit 2010 – die der verletzten Radfahrer steigt. Auch der Anteil der Radfahrer unter den Verkehrstoten in Deutschland steigt. Alle 36 Minuten wird ein Radfahrer verletzt. 2017 wurden in München fünf Radfahrer bei Unfällen getötet. In drei dieser Fälle war der tote Winkel die Ursache: Die Radfahrer wurden einfach übersehen. Eine Sekunde Unachtsamkeit – und ein Leben endet. Das ist es, was Radfahrer im Straßenverkehr erleben: Angst. Bei jeder Fahrt.

Angst – wovor?

Aber nein, halt, der Briefschreiber, der Nur-Autofahrer, ist es, der schreibt: „Ich habe Angst vor Radfahrern.“ Wovor? Davor, dass ihm ein airbag- und karosserieloser „Kampfradler“ mit einer Geschwindigkeit von 25 Kilometern pro Stunde gegen die Seitentür seines zwei Tonnen schweren Autos fährt? Aber die Diskussion um die rücksichtslosen „Radl Rambos“, „Rad-Rowdies“ oder „Kampfradler“ muss wohl sein. Sie füllt das mediale Sommerloch, die Zeit vor dem Bundesliga-Start. Natürlich kann und soll man sie führen. Nur kommt es auf das „Wie“ an. Denn natürlich gibt es radfahrende Idioten. Genauso wie es autofahrende oder joggende Idioten gibt. Nur wird hier eine ganze Menschengruppe ausgegrenzt, stigmatisiert und zu Tätern erklärt. Herr Springer möchte eine Nummernschildpflicht für Radfahrer. Das ist seine Lösung für die Probleme. Denn wenn Deutschland etwas braucht, dann mehr Bürokratie. Ironie Ende.

Nummernschilder für Radfahrer?

Das ist seine Lösung. Während die Städte im Verkehr ersticken. Während die Staus immer länger werden und Milliarden-Schäden verursachen. Während die Mieten immer unbezahlbarer werden und die Pendelwege immer länger – 60 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten nicht in der Gemeinde, in der sie leben. Der durchschnittliche Weg zum Arbeitsplatz stieg zwischen 2000 und 2015 von 14,6 auf fast 17 Kilometer. Während über CO2- und Feinstaub diskutiert wird. Während selbst der öffentliche Nahverkehr an seine Grenzen kommt und eine Einzelfahrt in München unsozial teure 2,90 Euro kostet. Während die Menschen sich immer weniger bewegen und immer dicker werden. Jedes Auto weniger auf den Straßen ist eine Entlastung – für die Stadt, für deren Haushalt, für die Lebensqualität, für die Umwelt.

Isar-„Rad“-Weg

Das Radfahren ist die Zukunft des Stadtverkehrs. Es ist eine der Lösungen – nicht das Problem. Das Problem ist, dass die deutschen Städte Autostädte sind. Dass es keine ausreichende Infrastruktur für Radfahrer und Fußgänger gibt. Dass „Radwege“ oft keine Wege sind, sondern zugeparkte schmale Streifen. Eine „Haupt-Rad-Verkehrsader“ durch München, die einst selbsternannte „Radl-Hauptstadt“, ist der Isarradweg. Schon der Name führt in die Irre. Denn dies ist kein Radweg, sondern ein teilweise keine zwei Meter breiter Pfad, auf dem zu großen Teilen Fußgänger, Jogger und Hunde unterwegs sind. Gerade im Sommer gilt für diesen „Radweg“, was auch für sehr viele andere in der Stadt gilt: Zum Pendeln ist er gänzlich ungeeignet. Die Radfahrer stauen sich, bei Gegenverkehr ist jegliches Überholen unmöglich – und dazwischen sind noch Fußgänger und Tiere unterwegs. Diese Situation muss Unfälle provozieren. Und sie steht exemplarisch für die in vielen anderen Städten.

Radfahrer

Die Verkehrssituation in Deutschland muss Unfälle provozieren.

Autostädte

Wie eine Infrastruktur aussehen muss, die ein sicheres Radfahren ermöglicht, sieht man in unseren Nachbarländern, in Kopenhagen oder Amsterdam zum Beispiel. In Deutschland wurde die Verlautbarung medial bejubelt, dass man 25 Millionen Euro in „Radschnellwege“ investieren wolle. Was laut Schätzungen des ADFC für ganze 15 bis 20 Kilometer Radwege ausreicht. Zum Vergleich: Allein die Stadt Paris will in fünf Jahren 500 Millionen, London in zehn Jahren eine Milliarde Euro in den Radverkehr investieren. In Kopenhagen kam im Jahr 2012 ein einziger Radfahrer ums Leben. Und das in einer Stadt, in der die Einwohner jeden Tag rund 1,3 Millionen Kilometer mit dem Rad zurücklegen. In Kopenhagen und vielen anderen Städten konnte ein Safety-in-Numbers-Effekt festgestellt werden: Steigt die Zahl der Radfahrer in einer Region, verringert sich deren Unfallrisiko signifikant. In der Hauptstadt Dänemarks ist das Unfall-Risiko für Radfahrer in 15 Jahren um mehr als 70 Prozent zurückgegangen.

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Radfahren bereichert

Warum ist das so? Weil die Menschen es so wollten und wollen. Auch Fahrrad- waren einst Autostädte. Nicht mehr die Menschen, die Fußgänger, Radfahrer, Kinder mussten sich an den motorisierten Verkehr anpassen. Sondern dieser wurde an die Bedürfnisse der Menschen angepasst. Das Ergebnis: weniger Tote und Verletzte, weniger Umweltverschmutzung, gesündere Menschen, eine sauberere Luft, eine hohe Lebensqualität und Zufriedenheit. So zeigten etwa dänische Forscher in einer Studie mit 30.000 Teilnehmern, dass Nicht-Radfahrer – auch nach dem Ausschluss von Störvariablen – eine um fast 40 Prozent höhere Sterblichkeit aufwiesen als Rad-Pendler. Radfahren verlängert – und bereichert – das Leben.

Radfahrer haben keine Knautschzone

Was in München und in Deutschland fehlt, ist eine Rad-Infrastruktur, die ein sicheres Radfahren ermöglicht. Wenn die Politik nicht handelt, dann müssen es die Menschen tun. Wie es etwa der „Volksentscheid Fahrrad“ in Berlin vorgemacht hat. Es gilt aufzuwachen, etwas zu tun und aufeinander zuzugehen. Radfahrer und Fußgänger haben keine Knautschzonen, keine Airbags, keinen Schutz. Ihr einziger Schutz ist Übersicht, Vorsicht – und die gegenseitige Rücksichtnahme aller Verkehrsteilnehmer. Diese ist in Deutschland ohnehin eher gering ausgeprägt. Eine pauschalisierende mediale Kampagne gegen Radfahrer kann dazu beitragen, sie noch weiter zu zerstören. Sie zerstört Verständnis und Empathie, statt sie zu fördern.

Mit besten Grüßen,
David Binnig
Radfahrer, Autofahrer, Chefredakteur des Magazins RennRad

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