Wandel
Bewegungslosigkeit in der Gesellschaft: Leitartikel zum Wandel
in Allgemein
Drei Millionen US-Dollar Preisgeld erhielt der Sieger eines E-Sports-Worldcups 2019. Das Preisgeld für einen Tour-de-France-Etappensieg: 11.000 Euro. Und warum? Weil die Welt geldgetrieben ist und nach dem einen Prinzip funktioniert: Angebot und Nachfrage. Millionen – vor allem junger und sehr junger – Menschen schauen online live zu, wie virtuelle Kriege geführt oder Städte gebaut werden. Der Hersteller Epic Games setzte 2019 allein mit einem Spiel, Fortnite, 1,9 Milliarden Dollar um. Allein bei Fortnite-Turnieren wurden 2019 64,4 Millionen Dollar Preisgelder ausgeschüttet. Manche dieser Spiele haben mehr mit den uralten Strategiespielen gemein, als viele denken – mit Schach und Go. In beiden Spielen, von denen das chinesische Go das weitaus komplexere ist, haben Menschen gegen Computer längst keine Chance mehr. Wird Computerspielen einmal olympisch werden? Vielleicht. Dann, wenn die Konsumentenzahl noch größer wird – und das damit verbundene Monetarisierungspotenzial. Fände ich das gut? Nein. Würde ich es akzeptieren? Selbstverständlich. Alles tariert sich aus – in dem ewigen Spiel von Angebot und Nachfrage.
Sieben Stunden sitzen 14-Jährige hierzulande täglich vor Bildschirmen – zweieinhalb Stunden davon vor dem Smartphone. Mit Konsequenzen: Die groß angelegte BLIKK-Studie zeigte einen Zusammenhang zwischen einem erhöhten Medienkonsum und Entwicklungsauffälligkeiten wie Hyperaktivität, Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen.
RennRad 4/2020: Die Inhalte der Ausgabe im Überblick
Gesellschaft entwickelt sich zur Bewegungslosigkeit
Der durchschnittliche Tag eines Kindes besteht inzwischen aus neun Stunden Liegen, neun Stunden Sitzen, fünf Stunden Stehen, einer Stunde Bewegung. Die Zeit des unbeaufsichtigten Spielens, des Bewegens, ging innerhalb weniger als einer Generation um weit mehr als 50 Prozent zurück.
Nur jedes dritte Kind spielt noch täglich im Freien, 25 Prozent nur einmal pro Woche oder gar nicht. 15,4 Prozent der Drei- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, 5,9 Prozent sogar fettleibig. Die umfangreiche KIGGS-Welle-2-Studie zeigte: Nur 22,4 Prozent der Mädchen und 29,4 Prozent der Jungen sind mindestens 60 Minuten pro Tag körperlich aktiv – und erreichen damit die Bewegungsempfehlung der WHO.
Bewegung
Ist dieser Wandel aufzuhalten? Nein. Kann und muss man etwas gegen die Konsequenzen tun? Absolut. Ein Anfang wäre es bereits, Bewegung in den Schulalltag zu integrieren und die Rolle des Schulsports zu stärken, statt ihn immer weiter abzubauen: Anfang der 90er-Jahre wurden an Haupt- und Realschulen noch bis zu vier Stunden Sport pro Woche unterrichtet – heute liegen die Durchschnittswerte zwischen 2,2 und 2,4 Stunden.
In elf der 16 Bundesländer wurde der Grundschul-Sportunterricht auf zwei Stunden gekürzt. Davon fällt jede vierte aus. Dabei ist der Sport sowohl die günstigste und beste Prävention als auch eine Sozialisationsinstanz. „Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Teilnahme am Schulsport und körperlicher Aktivität in der Freizeit und einem geringeren Risiko für psychische Erkrankungen. Zudem kann die Förderung körperlich-sportlicher Aktivität im Kindes- und Jugendalter zur Prävention von Adipositas und der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, zu einer gesunden Entwicklung sowie einer besseren kognitiven und schulischen Leistung beitragen“, heißt es in der Studie.
In dem Artikel zur Studie aus dem Journal of Health Monitoring werden weitere Maßnahmen gefordert: „Die Bewegungsförderung im Kindes- und Jugendalter sollte Maßnahmen umfassen, die Kindergärten und Schulen sowie das häusliche Umfeld der Kinder und Jugendlichen bewegungsfreundlicher machen. Dazu gehören auch eine gesundheitsorientierte Stadtplanung, die Reduzierung von Gefahren und Umweltbelastungen im Straßenverkehr, ein Ausbau von Fuß- und Radwegenetzen sowie eine kinder- und jugendgerechte Gestaltung von Grünflächen und Freizeitanlagen.“ In beiden Bereichen – dem Erhalt und Ausbau des Schulsports und einer bewegungsfreundlichen Infrastruktur – hat die Politik versagt.
Bewegungsfreundliche Infrastruktur
Auch für die Erwachsenen – von denen hierzulande mehr als 53 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig sind – gilt: Alles, was dazu führt, dass sich Menschen mehr bewegen, ist positiv. Der Bewegungsmangel ist einer der größten Feinde der westlichen Industriegesellschaften – und größtenteils selbst verschuldet.
Nach Schätzungen der Global Burden of Disease Study 2016 verursacht die zu geringe körperliche Aktivität in Deutschland 12,3 Prozent der Todesfälle durch koronare Herzkrankheiten, 7,6 Prozent durch Schlaganfälle, 3,1 Prozent durch Diabetes mellitus. Im Zuge der Klimadebatte gewann nun hierzulande auch das Thema „Fahrrad-Infrastruktur“ endlich an Stellenwert. Nach Jahrzehnten des Verschleppens, Negierens und Heiße-Luft-Absonderns.
Politik sollte Menschen im Feld Bewegungslosigkeit Anreize geben
Der Bewegungsmangel ist eines der Felder, in dem die Politik Menschen Anreize geben sollte – etwa in Form von an das Ausmaß der Bewegung gekoppelten Krankenkassenbeiträgen. Auch E-Bikes oder Fahrräder mit Motoren bringen mehr Menschen, etwa bislang bewegungsferne Zielgruppen, auf Fahrräder – und sind deshalb eine Chance.
Die Radhersteller und -händler profitieren enorm von dem anhaltenden E-Bike-Trend bei den City- und Trekkingrädern und vor allem den Mountainbikes. Der durchschnittliche Kaufpreis eines Citybikes lag 2018 hierzulande bei 520 Euro, der eines Mountainbikes bei 1014 Euro, der eines Rennrades bei 1850 Euro – der eines E-Bikes bei 2354 Euro.
Trends gegen Bewegungslosigkeit
Eine Chance ist auch eine Entwicklung, die innerhalb des traditionellen Radsports stattfindet. Diese Entwicklung heißt: Gravel. Zu Deutsch: Schotter. Rennlenker, breitere Stollenreifen, Robustheit und Geländegängigkeit – das sind Gravelbikes. Wir werden sie zukünftig noch stärker berücksichtigen.
Auch hier gilt: Diese Räder sprechen sowohl Rennradfahrer als auch völlig neue Zielgruppen an. Und haben so das Potenzial, mehr Menschen dazu zu bringen, Radfahren zu ihrem Hobby zu machen. Für viele ist der Kauf eines Gravelbikes der Einstieg in die „sportive“ Welt des Radfahrens. Die Hemmschwelle für viele Neueinsteiger, sich ein solches Allroundrad, mit dem man fast überall durchkommt, zu kaufen, ist sehr viel niedriger als jene vor der Entscheidung, sich ein Rennrad zuzulegen. Viele dieser Neu-mit-Rennlenker-Fahrenden werden „auf den Geschmack kommen“: das geringere Gewicht, die höheren Geschwindigkeiten, das direktere Handling. Vielleicht wird das nächste Rad dann schon ein Rennrad sein.
„Gravel-Szene ist relaxter“
„Die Gravel-Szene ist sehr viel relaxter. Man trinkt abends nach dem Rennen zusammen ein Bier am Lagerfeuer. Es gibt so viel Kameradschaft“, sagt Peter Stetina. Zehn Jahre lang war der heute 32-jährige Radprofi in den Teams Garmin, BMC und Trek-Segafredo. Vor dieser Saison hat er sich entschlossen, von der Straße ins Gelände zu wechseln – und zukünftig nur noch Gravel-Rennen zu fahren. „Ich habe gelernt, dass meine Gefühle des Glücks direkt mit meiner sportlichen Leistung verbunden sind.“
Auch Ian Boswell war zehn Jahre lang Radprofi – und unter anderem Zweiter des Klassikers Lüttich-Bastogne-Lüttich und Dritter der Tour of Utah. Auch er wechselte, mit 28 Jahren, vor der neuen Saison von Slicks auf Stollenreifen: In das neue „Wahoo-Frontiers-Campaign-Gravel-Team“, für das auch Peter Stetina und Colin Strickland antreten.
Gravel-Boom
Strickland ist ein Star der Gravel-Szene. Der US-Amerikaner ist 33 Jahre alt – und hätte in dieser Saison als Profi in der WorldTour fahren können. Das Team EF Education bot ihm einen Vertrag an. Doch er lehnte ab. Denn: Er hätte als Straßenprofi zunächst weniger verdient als jetzt – und seine persönlichen Sponsoren verloren. Er war bislang ein Ein-Mann-Gravel-Projekt-und-Selbstvermarkter. Sein Helm ist in Blau und Silber gehalten und zeigt das Logo eines omnipräsenten Energie-Brause-Produzenten aus Österreich.
Beim wohl bedeutendsten Gravel-Rennen des Planeten, dem Dirty Kanza, schlug er mehrere WorldTour-Profis und gewann nach einem Rekord-Solo. Das Dirty Kanza steht symbolisch für den Gravel-Boom: Was 2006 mit 34 Teilnehmern begann, ist jetzt ein riesiges Event, dessen Startplätze verlost werden müssen. Die Daten der Strecke: 322 Kilometer und mehr als 4000 Höhenmeter.
Follow the Boom – könnte das Motto des Weltradsportverbandes UCI lauten. Dessen Präsident David Lappartient ließ verlautbaren, dass die UCI bald auch eine Gravel-Weltmeisterschaft ausrichten wolle. „Wir leben im Umbruch. Das heißt, dass die Dinge nicht bleiben, wie sie waren“, sagte er. Der Gravel-Sport ist eine Alternative. Eine, die noch nicht die Bürde des Doping-Images mit sich trägt.
Während im Straßen-Radsport weiter in Doping verstrickte Figuren wie Alexander Winokurov, Bjarne Riis oder Jonathan Vaughters an den Strängen ziehen, ist das Image der Gravel-Events positiv: bodenständig, authentisch, eine Mischung aus Radrennen, Lagerfeuerromantik und Spaß. Noch. Denn: Wie lange wird dies so bleiben, wenn sich die Szene immer weiter professionalisiert? Wenn immer mehr Geld im Spiel ist?
Weitere Leitartikel von RennRad-Chefredakteur David Binnig
- Autofahrer vs. Radfahrer: Leitartikel zur öffentlichen Diskussion
- Verkehrswende und Umweltschutz: Leitartikel zum Politikversagen
- Leistungssport, Ehrenamt, Radrennen: Leitartikel zum Stand des Radsports
- Breitensport vs. Leistungssport: Leitartikel zur gegenläufigen Entwicklung
- Warum dopen Hobby-Radsportler?
- Unfallrisiko für Radfahrer: Politisches Totalversagen
- Verkehrsinfarkt: Der verheerende Umgang mit Radfahrern
- Psychische Erkrankungen durch wenig Bewegung: Erklärung und Lösungsideen
- Geld im System Sport