Leitartikel, ADHS
ADHS und andere psychische Erkrankungen: Pandemie

Pandemie

ADHS und andere psychische Erkrankungen: Pandemie

Gesundheit und Bewegung hängen zusammen – physisch wie psychisch. Von einer stillen Epidemie. Und einem Gegenmittel, das nichts kostet.
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Von Corona spricht jeder. Von einer anderen „Pandemie“ fast keiner. Vier bis sechs Prozent der Sechs- bis Achtzehnjährigen in Deutschland entwickeln ADHS, das „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom“. In den USA werden fast 20 Prozent aller Jungen an der High School mit ADHS diagnostiziert – dies entspricht einem Anstieg von 37 Prozent seit 2003. Jungen sind fünfmal häufiger von ADHS betroffen als Mädchen. Weltweit sollen zudem rund 2,5 Prozent der Erwachsenen darunter leiden.

Typische Symptome sind unter anderem: Unruhe, Unaufmerksamkeit, Ungeduld, häufiges Unterbrechen anderer, Lern- und Leistungsstörungen, Angst und Depressionen. Der Begriff Pandemie ist definiert als weltweite Epidemie beziehungsweise als kontinentübergreifende Ausbreitung einer Krankheit.

ADHS ist ein Diagnose-Virus

Im Falle von ADHS ist es kein Erreger, der sich ausbreitet – es ist ein Diagnose-Virus.  ADHS gilt als Modekrankheit des 21. Jahrhunderts. Das bekannteste ADHS-Medikament: Ritalin. Allein 2017 soll der Hersteller Novartis damit einen weltweiten Umsatz von fast 600 Millionen US-Dollar gemacht haben. Der Wirkstoff Methylphenidat ähnelt strukturell Amphetaminen, stimuliert das Gehirn und hat eine ähnliche Wirkweise wie Kokain. Die Entwicklung der Methylphenidat-Verordnungen in Deutschland zwischen 1999 und 2013: plus 600 Prozent. Verschriebene Tagesdosen 2013: 56,7 Millionen.

Auch immer mehr gesunde Menschen setzen ADHS-Medikamente gezielt als Gehirn-Doping-Mittel ein. Mehrere Studien zeigten, dass rund jeder zehnte US-Student mehr oder weniger regelmäßig Ritalin einnimmt. In einer aktuellen Studie aus den Niederlanden wurde jüngst festgestellt, dass Ritalin bei Kindern lebenslange Änderungen in der Arbeitsweise des Gehirns bewirken kann.

Studie der LMU München zu ADHS-Diagnosen

Einschub: Um die Qualität der Diagnosen einschätzen zu können, sei an dieser Stelle auf eine Studie der LMU München und des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung hingewiesen.

Darin wurden die Daten von sieben Millionen gesetzlich versicherten Kindern zwischen vier und 14 Jahren ausgewertet. Das Ergebnis: Kinder, die früher in die Schule kommen, sind eher ADHS-Patienten. Zumindest werden sie als solche diagnostiziert.

Konkret: Kinder, die kurz nach ihrem sechsten Geburtstag eingeschult wurden, werden mit einer klar höheren Wahrscheinlichkeit als ADHS-krank eingestuft als etwas ältere Kinder, die mit fast sieben Jahren in die Schule kommen. Von den jüngeren Kindern war demnach jedes 20., von den älteren jedes 25. betroffen. Mit was dies wohl zusammenhängen könnte? Vielleicht, aber nur vielleicht, mit dem höheren Bewegungsdrang der Jüngeren? Sarkasmus Ende.

Videospiel als ADHS-Gegenmittel

Gibt es – neben den in die Gehirn-Chemie eingreifenden Mitteln wie Ritalin oder Modafinil – andere ADHS-Gegenmittel? In den USA wurde in diesem Jahr eines zugelassen: ein Videospiel.

Auf dem Smartphone- oder Tablet-Display ist zu sehen: Ein kleines, etwas pixeliges Raumschiff, das durch eine Welt aus Eis fliegt. Die Aufgabe des Spielers: den auftauchenden einäugigen Wesen ausweichen – oder sie einfangen. Der Name des Spiels: Endeavor RX. Es ist das erste Videospiel überhaupt, das es in den USA auf Rezept gibt. Ärzte dürfen es Kindern im Alter von acht bis zwölf Jahren als Medikament verschreiben. Es soll dabei helfen, sich auf eine Sache zu konzentrieren.

Sieben Jahre lang wurde das Spiel zuvor in Studien mit mehr als 600 Kindern getestet. Sie spielten jeweils über vier Wochen an je fünf Tagen pro Woche für 25 Minuten.

In einer der fünf Testreihen wurde festgestellt, dass ein Drittel der Kinder danach „kein messbares Aufmerksamkeitsdefizit bei mindestens einem Maß objektiver Aufmerksamkeit“ mehr hatte.

Doch es traten auch Nebenwirkungen auf: Frustration, Kopfschmerzen und Schwindel. Dies ist nur der eine Fakt, der zu denken gibt. Der andere: Wie das Technik-Portal „The Verge“ berichtet, waren an der Erstellung dieser Studie Ärzte beteiligt, die für die Herstellerfirma arbeiten – beziehungsweise Aktienoptionen dieses Unternehmens besitzen.

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Bewegung als ADHS-Gegenmittel

Warum einfach, wenn es auch kompliziert – und wissenschaftlich kaum validiert – geht, scheint das Motto zu sein. Das günstigste Medikament lautet: Bewegung. Nebenwirkungen: keine. Weltweit sind mehr als 80 Prozent der Elf- bis Siebzehnjährigen nicht ausreichend aktiv – in Deutschland bewegen sich 88 Prozent der Mädchen und 80 Prozent der Jungen nicht in einem ausreichenden Ausmaß.

Dass Sport die kognitiven Fähigkeiten – besonders die Aufmerksamkeit und die Gedächtnisleistung – von Kindern mit ADHS verbessern kann, haben unter anderem Sportwissenschaftlerinnen der Universität Regensburg nachgewiesen.

Studie der Universität Regensburg

In ihrer Studie teilten sie 43 Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren in drei Gruppen ein. Zwei Gruppen absolvierten je ein anderes zwölfwöchiges Sportprogramm. In dem einen wurden vor allem Ball-, Geschicklichkeits- und Balance-Fertigkeiten trainiert. Im anderen eher ausdauerorientierte Sportarten. Die Kinder in der Kontrollgruppe machten keinen zusätzlichen Sport.

Die Ergebnisse: Die Kinder aus den beiden Sport-Gruppen zeigten signifikante Leistungssteigerungen in ihren kognitiven Funktionen. So konnten sie sich nun etwa Zahlenfolgen klar besser merken. Zudem verbesserten sie, erwartungsgemäß, ihre motorischen Fähigkeiten deutlich.

Die Effekte von Bewegung sind ähnlich zu jenen stimulierender Medikamente. Selbst eine leichte körperliche Aktivität verbessere die Stimmung und die kognitive Leistung, indem sie das Gehirn dazu stimuliere, Glückshormone freizusetzen, sagt der Psychologe John Ratey von der Harvard University. Er schlägt deshalb vor: Sport solle als ADHS-Medikament eingestuft werden.

Sportunterricht

Sport ist das einfachste Gegenmittel gegen viele psychische wie auch physische Leiden – in der Freizeit, im Verein, in der Schule. Jedes siebte Kind in Deutschland ist übergewichtig, jedes fünfte hat Haltungsschäden. Jedoch sorgt die Politik für eine immer stärkere Entwertung des Sports. Die Freiheitsgrade von Kindern und Jugendlichen werden immer weiter eingeschränkt. Die Kindheit wird verschult. Die Zeit für Sport und andere Hobbys nimmt ab.

Auch der Sportunterricht wird – politisch – nicht wertgeschätzt. So sind in Nordrhein-Westfalens Schulen zwar drei Stunden Sportunterricht pro Woche vorgesehen. Doch in der Realität liegt der Durchschnitt bei 2,4 Stunden – rechnet man die Ferien ein, bei 1,8 Stunden. In Sachsen wurde 2019 die Zahl der vorgesehenen Sportstunden von drei auf zwei reduziert.

Zudem zeigen Studien, dass sich Kinder in Deutschland pro Sportstunde durchschnittlich „ganze“ 8,5 Minuten in einem moderaten bis intensiven Intensitäts-Bereich bewegen. Maximal 17 Minuten Bewegung pro Schulwoche. Über die Auswirkungen dessen kann, und sollte, sich jeder selbst Gedanken machen. Wo sollen Kinder hin mit ihrer Energie? Mit ihrem, völlig natürlichen, Bewegungsdrang?

Auswirkungen der Corona-Krise

Die Auswirkungen der Corona-Krise sind vielfältig. Gerade Kinder und Jugendliche waren beziehungsweise sind in einem besonderen Maße betroffen.

In einer Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf mit Daten des Krankenversicherers DAK wurden die Gaming- und Social-Media-Gewohnheiten von Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und 17 Jahren untersucht: Einmal im September 2019 und ein zweites Mal während des „Corona-Höhepunkts“ im April.

Die Ergebnisse: Regelmäßige Nutzer verbrachten allein an Werktagen während der Kontaktbeschränkungen 75 Prozent mehr Zeit mit Internet-Spielen. Das Zeit-Investment der Kinder stieg von 80 Minuten im September auf fast 140 Minuten im April. Die Nutzungsdauer sozialer Medien erhöhte sich von knapp zwei auf mehr als drei Stunden. Pro Tag. In jedem zweiten der befragten Haushalte gibt es, laut der Studie, keine zeitliche Obergrenze der Handy-, PC- beziehungsweise Internet-Nutzung.

Bereits die „Vor-Corona-Zahlen“ waren mehr als bedenklich. Schon nach der Erhebung im September stuften die Experten die Gaming-Gewohnheiten einer halben Million Jugendlicher als „riskant“ ein. Rund 150.000 Kinder und Jugendliche waren bereits damals „pathologische Nutzer“.

Gegenmittel

Im Durchschnitt verbringen Kleinkinder unter zwei Jahren täglich rund 40 Minuten damit, auf Bildschirme zu schauen. Dies suggeriert eine große Studie aus den USA.

In einer anderen Umfrage gab fast die Hälfte aller US-amerikanischen Teenager an, fast durchgehend online zu sein. Für eine aktuelle Studie, an der unter anderem Forscher des Cincinnati Children’s Hospital beteiligt waren, wurden die Gehirne von Kindergartenkindern im MRT untersucht.

Der Befund: Die vor Bildschirmen verbrachte Zeit stand im Zusammenhang mit strukturellen Veränderungen des Gehirns. Mehr vor Bildschirmen verbrachte Stunden korrelierten mit einer Verringerung der weißen Gehirnmasse. Über die kognitiven Effekte der übermäßigen Nutzung digitaler Medien und der „Digitalisierung“ der Schulen hatte ich im Leitartikel der RennRad 6/2019 geschrieben – und unter anderem auf das Buch „Digitale Demenz“ des Neurowissenschaftlers und Psychiaters Manfred Spitzer verwiesen.

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Psychische Erkrankungen nehmen durch Corona-Krise zu

Nach einer Erhebung der Krankenkasse KKH nahm die Zahl der psychischen Erkrankungen in der Corona-Krise um 80 Prozent zu – im Vergleich zum Vorjahr. Im ersten Halbjahr 2020 verzeichnete die KKH unter ihren rund 1,7 Millionen Versicherten rund 26.700 Krankmeldungen wegen seelischer Leiden.

Als mögliche Gründe führen die Experten Existenzängste, die Furcht vor dem Virus und das Problem gravierender plötzlicher Lebensveränderungen an. Zudem nahm die Zahl sozialer Kontakte ab.

Die Ergebnisse der aktuellen COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zu den Auswirkungen der Corona-Krise: Zwei Drittel der befragten Kinder und Jugendliche gaben eine verminderte Lebensqualität und ein geringeres psychisches Wohlbefinden an. Eine enorme Steigerung von mehr als 30 Prozent im Vergleich zu vor den Corona-Maßnahmen. Das Risiko für psychische Auffälligkeiten stieg von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Krise.

Offensichtliche Lösungen

Die Effekte des Sporttreibens auf die Psyche habe ich bereits in früheren Leitartikeln anhand von Studienergebnissen aufgeführt. Sie sind valide und klar belegt. Eindrucksvoll untermauert dies auch eine im „JAMA Psychiatry Journal“ erschienene Untersuchung mit 2000 Probanden. Die Forscher ließen die Studienteilnehmer ein besonderes Therapieprogramm absolvieren: Gewichtheben.

Das Ergebnis: Depressionen und depressive Verstimmungen wurden durch das Training klar gemindert – unabhängig vom Alter, dem Geschlecht und der Stärke der Symptomatik zu Beginn der Untersuchung.

Dr. James Blumenthal von der Duke University Durham, USA, ließ seine depressiven Patienten während eines Winters regelmäßig joggen.

Das Ergebnis: Das Laufen linderte die Depressionen im gleichen Maße wie verschreibungspflichtige Antidepressiva – nur ohne Nebenwirkungen. Die Ergebnisse sind klar.

Die Lösungen liegen auf der Hand. Sie wären günstig, gesund, effizient, präventiv. Wenn die Menschen an den entscheidenden Stellen sie denn sehen wollen würden.


Weitere Leitartikel von RennRad-Chefredakteur David Binnig

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