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Breitensport vs. Leistungssport: Leitartikel zur gegenläufigen Entwicklung

Parallelwelt

Breitensport vs. Leistungssport: Leitartikel zur gegenläufigen Entwicklung

Der deutsche Radsport boomt – und stirbt. Parallel. Es sind Entwicklungen, die in einer Sportart gleichzeitig ablaufen: Breitensport vs. Leistungssport.
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Auf der einen Seite fahren immer mehr Menschen Rennrad, es entstehen Rad-Cafés, Trainingsgruppen, Apps und Online-Trainingsplattformen werden Teil des Alltags, die Startplätze der großen Radmarathons sind innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Der Breitensport ist die eine Seite des Sports. Die andere spielt sich heute meist in kleinen Dörfern ab, rund um Kirchen, Marktplätze und Industriegebiete. Diese Seite ist der Ursprung des Rennrades und des Radsports. Sie heißt: Radrennen. Die klassischen Rennen – Straßenrennen, Zeitfahren, Kriterien, Rundfahrten – für Fahrer, die in einem Verein sind und eine Rennlizenz haben. Dieser, der ursprüngliche Teil, des Radsports verliert immer weiter an Bedeutung. Die Rennen werden weniger, die Fahrerfelder werden kleiner.

Woran liegt das? Was ist an Radrennen so unattraktiv? Und: Braucht der Radsport, braucht eine Gesellschaft, den Leistungssport? Oder entsteht gerade ein neuer Radsport? Einer ohne Vereine, ohne Lizenzen, ohne die alten Traditionen.  Einer, der zur generellen und nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft passt. Einer des Individualismus.

Weniger Rennen, weniger Chancen

Vor dem Ötztaler Radmarathon zahlen jedes Jahr mehr als 20.000 Menschen je fünf Euro, um in den Lostopf für einen der rund 4000 Startplätze zu kommen. Dafür, an einem Tag 227 Kilometer über vier Alpenpässe und 5100 Höhenmeter fahren zu dürfen.

Heute zeichnen viele Rennradfahrer jede ihrer Fahrten auf. Man vergleicht, mit der App Strava, seine Leistung mit der von anderen – an jedem Hügel, an jedem Flachstück. Man zahlt 15 Euro im Monat, um auf Online-Plattformen wie Zwift, auf dem Hometrainer vom eigenen Wohnzimmer aus, in einer virtuellen Welt mit anderen zu fahren – oder in Radrennen gegen sie anzutreten.

Was spricht gegen echte Radrennen? Was spricht gegen Vereine? Die verkrustete Struktur? Aktuell gibt es in Deutschland rund 500 Juniorenfahrer: 500 Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren haben eine Lizenz gelöst, um Radrennen zu fahren. Zwischen 1997 und 2016 hat sich ihre Zahl halbiert.

Aus diesem immer kleiner werdenden Talentpool sollen einmal die deutschen Tour-de-France-Stars der Zukunft hervorgehen. Während auch die Zahl der Radrennen sinkt. Die beispielhafte Entwicklung in Nordrhein-Westfalen zwischen 2005 und 2015: Von einst rund 130 blieben zehn Jahre später noch weniger als 70 Straßenrennen übrig.

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Grundprobleme

2019 soll das Jahr der Gegenbewegung werden. Zumindest wenn es nach dem Bund Deutscher Radfahrer (BDR) geht. Der hat eine Reform beschlossen – mit dem großen Ziel: die Einstiegshürden in den Radrennsport zu senken. Das Lizenzsystem wurde vereinfacht. Statt der gewohnten drei gibt es nun nur noch zwei Renn-Klassen: Elite-Amateure und Amateure. Der Lizenzsport wurde für Hobby- und Jedermann-Fahrer etwas weiter geöffnet. Und umgekehrt: Denn seit diesem Jahr dürfen bei der größten deutschen Jedermann-Rennserie, dem German Cycling Cup (GCC), auch alle Lizenzfahrer teilnehmen.

Doch ob dies die Rettung des traditionellen Rennsports ist, ist mehr als fraglich. Natürlich werden sich beide Szenen – die Rennszenen der Fahrer mit und ohne Lizenz – etwas stärker mischen. Doch die großen Jedermann-Rennen sind schon seit Jahren attraktiver als die meisten Lizenz-Rennen: schönere Strecken durch die Innenstädte statt durch Industriegebiete, mehr Zuschauer, mehr Medieninteresse und deshalb in vielen Fällen auch: mehr Sponsoren. Die große Chance einer Reform wurde vertan. Sie hätte beiden Seiten genutzt.

Bürokratie

Die Vertreter des BDR und jene des GCC hätten sich vielleicht einigen – und auf den Strecken zusätzlich zu Jedermann- auch Lizenzrennen austragen – können. Die Grundprobleme des Radrennsports werden weiter bestehen bleiben: Zu wenige Rennen, zu wenige Fahrer, zu wenig Nachwuchs, zu wenige ehrenamtliche Helfer – und vor allem der rosa Elefant im Raum, der ein enormes Problem für alle Sportveranstalter darstellt, und der, wenn er weiter so wächst, der Tod der nicht-professionellen und nicht-durchkommerzialisierten Sport-Veranstaltungen in Deutschland sein wird: die Bürokratie.

Die immer strengeren Auflagen, die einzuholenden Genehmigungen, die immer weiterwachsenden Kosten. Die Bürokratie und der damit enorm steigende Arbeitsaufwand ist eine der Hauptursachen dafür, dass viele Vereine die Organisation von Events nicht mehr durch das Engagement ihrer ehrenamtlichen Helfer stemmen können.

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Defizite

Vielleicht kann der Niedergang etwas verlangsamt werden – aufgehalten wird er so nicht. Die dahinterstehende, die große Frage lautet: Braucht Deutschland, braucht eine Gesellschaft, den Leistungssport? Die Antwort lautet: ja.

Gerade jetzt, in einer immer stärker körper- und bewegungslosen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der Menschen durchschnittlich mehr als acht Stunden täglich sitzend verbringen. In der fast 80 Prozent der Befragten einer DKS-Studie außerhalb des Berufs nicht einmal das Mindestmaß an Bewegung, 150 Minuten pro Woche, erreichten. Einer Gesellschaft, in der immer mehr Kinder motorische Defizite haben: Laut einer Krankenkassen-Studie hat der Anteil der 6- bis 10-Jährigen mit motorischen Entwicklungsstörungen in zehn Jahren um 63 Prozent zugenommen. Eine Befragung der AOK ergab, dass nur jedes zehnte Kind ausreichend Bewegung hat. Und dies in einer Gesellschaft, der die große Digitalisierungs- und Automatisierungswelle erst noch bevorsteht. In der eine „Generation Smartphone“ heranwächst, die Krankheitsbilder wie den „Handydaumen“, eine Sehnenentzündung, entwickelt. Heute leiden die Hälfte der 14- bis 17-jährigen Patienten an Rücken- und Nackenschmerzen. Über die Hälfte der Erwachsenen und mehr als 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig.

Selbstoptimierung als Trend

Menschen brauchen positive Beispiele. Eine Gesellschaft braucht mehr als das „Ins-Fitnessstudio-Müssen“, hinter dem für Viele derselbe Antrieb steht: den eigenen Marktwert zu erhalten. Sich zu optimieren. Eine Gesellschaft braucht das Miteinander, das Zusammenarbeiten, das Ehrenamt, den Leistungssport – denn nur in diesem einen Teilsystem der Gesellschaft sind alle gleich – an jeder Startlinie.

Hier haben alle dieselben Chancen und das Versprechen: Der Beste gewinnt. Wer im Sport und mit dem Sport sozialisiert wird, verinnerlicht die Ideal-Grundregeln dieser Gesellschaft: Leistung, Ausdauer, Wille, Fairness und vor allem Teamwork.

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Anachronismus

Das Engagement einzelner und ganzer Vereine muss anerkannt und belohnt werden. Die Bürokratie muss weniger werden. Der Schulsport muss gestärkt werden, der Radrennsport bekannter gemacht werden. Die Gesellschaft braucht einen Gegenpol zur immer weiter zunehmenden Bewegungslosigkeit. Zum immer volleren Alltag. Zur Verschulung der Kindheit und Jugend. Zum Verlust von Freiheit. Zum Starren-auf-Bildschirme.

Der Radsport ist ein Anachronismus. Er fordert viel Zeit. Er dreht sich um Schmerz, um Härte gegen sich selbst, Willenskraft, Verzicht, Selbstdisziplin, Selbstaufgabe – im Verbund mit anderen. Er ist ein absoluter Teamsport. Wer nicht mit und für die anderen arbeitet, wer nicht alles gibt, ist weg vom Fenster. Der wird nichts erreichen. Es gibt Hoffnung. Positive Beispiele. Engagement. Genau damit wurde das Junioren-Rennen des Klassikers Paris-Roubaix gerettet. Den Veranstaltern fehlten 10.000 Euro, es drohte die Absage. Das Ende einer Tradition – und einer Chance für den Nachwuchs.

Bis sich mit einem Facebook-Posting alles änderte. Denn es war der Paris-Roubaix-Sieger von 2015, John Degenkolb, der die erste Spende tat. Und per Crowdfunding zur Rettung des Rennens aufrief. Erfolgreich. Gerade die heutige entkörperlichte, sitzende Gesellschaft braucht den Leistungssport. Als etwas, das sehr weit über den modernen Instagram-Selfie-Selbstoptimierungs-Fitnessstudiosport hinaus geht. Als Gegenpol zum Alltag.


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