DRF Luftrettung, Ötztaler Radmarathon, Ziel
DRF Luftrettung beim Ötztaler Radmarathon am Start

Und dann fuhr noch einer mit...

DRF Luftrettung beim Ötztaler Radmarathon am Start

Den RennRad-Lesern sind diese Daten vertraut: 5500 Höhenmeter, verteilt auf vier Alpenpässe und 66 Serpentinen, im Ziel hat man dann nach dem Ritt im Ziel in Sölden 230 Kilometer auf dem Tacho. Gemeint ist natürlich der Ötztaler Radmarathon. Im Feld der 4285 Teilnehmer war in diesem Jahr auch ein Team der DRF Luftrettung dabei und alle Acht haben bravourös das Ziel erreicht. Und mit ihnen auch der neunte Starter des DRF-Teams...
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Es geschah am 23. Januar 2018. Christian Neuner ist Pilot bei der DRF Luftrettung und muss einen seiner letzten Übungsflüge absolvieren. Dann geschieht das Unfassbare: Ein Kleinflugzeug verliert die Kontrolle und kollidiert mit Neuners Rettungshubschrauber, er stürzt ab und stirbt im Alter von nur 27 Jahren. Auch für den 46-jährigen DRF-Ausbilder an Bord sowie den Piloten (61) des Kleinflugzeugs und dessen Flugschüler (48) aus der Schweiz kommt jede Hilfe zu spät. Einfach so aus dem Leben gerissen. Eine unglaubliche Tragödie für Familien und Freunde.

Krystian Pracz (50) hat gut zwei Monate zuvor seinen Job als Vorstandsmitglied bei der DRF Luftrettung angetreten. Beim kondolierenden Treffen der Firma mit der trauernden Familie lernt der begeisterte Rennrad-Sportler Pracz auch Christians Bruder Daniel kennen. Schnell ist man auf einer Wellenlänge: Dank der Leidenschaft zum Sport. Der jetzt 32-jährige Gymnasiallehrer Daniel Neuner unterrichtet in seiner Heimat Garmisch-Partenkirchen Englisch und Latein, ist in seiner freien Zeit aber sportlich jeden Tag unterwegs, auch auf dem Rad. Praczs‘ Idee: „Ich fahre den Ötztaler Radmarathon und würde gerne für deinen Bruder fahren.“ Und lädt ihn ein, dabei zu sein.

Daniel überlegt nicht lange und aus dem „Ich“ wird schnell ein „Wir“. Sie fahren 2018 den Ötztaler zusammen, doch der erste Versuch scheitert an Regen und Kälte. „Ich war schon am Kühtai unterkühlt und am Jaufen war Schluss“, erinnert sich Daniel Neuner, der am dritten der vier Anstiege das Zeitlimit überschritten hatte. „Das Wetter hat nicht mitgespielt, ich habe mich aber auch in der Renneinteilung verzockt“, gibt er zu.

Christian Neuner war Pilot bei der DRF Luftrettung

Christian Neuner, DRF Luftrettung

In Gedanken war er als neunter Starter beim Ötztaler Radmarathon dabei

„Christian drückt mir die Daumen“

Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. „Dieses Jahr wollte ich unbedingt den Zielstrich erreichen.“ Neuner hat ein besseres Timing und auch das Wetter spielt mit. „Ich habe trotzdem gelitten wie nie. Am Timmelsjoch war der Tank leer, aber der Wille umso größer.“ Wohl so, als führe noch einer mit und schiebt an. Jedenfalls sagt Neuner: „Ich habe mir immer wieder gesagt ‚Der Christian schaut zu und drückt dir die Daumen. Du schaffst das‘.“

Und er schafft es! Daniel Neuner überquert nach 11:45 Stunden Fahrzeit die Ziellinie an der Söldener Freizeit-Arena. Daniel Neuner: „Christian und ich hatten noch einen Auftrag. Der ist erfüllt.“

DRF Luftrettung, Ötztaler Radmarathon, Ziel

Daniel Neuner fährt beim Ötztaler Radmarathon ins Ziel

Gänsehaut pur…

Auch für Wolfgang Katzamaier (33), der im Ziel auf seinen Freund wartete. „Das war ein Teil der Bewältigung des Unglücks. Ich wusste, wie wichtig es für Daniel war und ist, ins Ziel gekommen zu sein. Das war ein sehr emotionales und intensives Erlebnis“, blickt der Münchner zurück, der mit 10:05 Stunden nebenbei noch „Sieger“ der DRF-internen Wertung nach seiner tollen Tour durch die Alpen war. „Es ist erstaunlich gut gelaufen. Das hätte ich nicht erwartet und kann es mir auch nicht erklären“, sagte der begeisterte MTBler nach seinem allerersten Radrennen. Katzameier: „Sölden muss man einfach mal gemacht haben. Irgendwann komme ich wieder!“

Und dann wird er wieder um 5 Uhr in der Früh aufstehen und frühstücken – um damit die erste Hürde genommen zu haben. Um ab 6 Uhr bei einstelliger Temperatur auf der Ötztaler Bundesstraße stehend auf den traditionellen Start um Punkt 6:45 Uhr zu warten. Um eine gute Position zu haben für die zweite Herausforderung des Tages, bevor der erste Alpenpass in Angriff genommen wird: Die 35 Kilometer von Sölden bergab nach Oetz. Gewaltiges Sturzpotenzial. Da ist man schon froh, wenn einem keiner ins Hinterrad gefahren ist. Und dann steht er im Aufstellungschaos des ansonsten wie immer perfekt organisierten Marathon-Klassikers beim nächsten Mal vielleicht nicht zwischen der nächtlich noch gut besuchten Table Dance Bar und dem Dixie-Klo, dass früh morgens noch mehr Besucher hat. Der Ötztaler Radmarathon ist halt extrem…

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„Nicht für jede Sekunde sein Leben riskieren!“

Dr. Ulf Aschenbrenner ist nach 10:41 Stunden im Ziel und im nächsten Jahr „unbedingt wieder dabei“. Der 44-jährige Düsseldorfer ist begeistert nach seinem ersten reinen Radrennen: „Das war fantastisch. Perfektes Wetter, tolle Streckenführung, Natur und Organisation. Dafür lohnt sich der Aufwand“, sagt der eigentliche Triathlet, der hartes Training gewohnt ist und eine sehr intensive Art Verquickung von Beruf und Hobby lebt. „Das Rad ist immer dabei. Ich nutze jede Möglichkeit zum Training. Auch auf der Luftrettungsstation, wenn da ein Ergometer steht.“

Der Abteilungsleiter im Fachbereich Medizin der DRF Luftrettung hat natürlich auch eine andere Sicht auf den Ötztaler und schickt ein großes Lob an den Veranstalter: „Das war schon ein sehr gutes Sicherheitskonzept. Bei über 4000 Startern – beeindruckend, dass außer Stürzen nicht mehr passiert ist.“

Und Aschenbrenner weiß, was passieren kann. „Pro Jahr habe ich es mit ein bis zwei toten Radrennfahrer zu tun – das prägt einen.“ Und schickt einen Appell hinterher: „Denkt dran, nicht mit dem letzten Quantum der Physik durch die Kurven zu rauschen. Da reicht manchmal ein Sandkorn auf der Straße. Es ist es nicht wert, für jede Sekunde sein Leben zu riskieren!“

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Ex-Kaderfahrer…

Mit Jérome Gehri und Mario Wüstner waren auch zwei Piloten der Hubschrauber-Staffel der „DRF Luftrettung“ in Sölden dabei. Gehri als einziger DRF-Starter, der eine aktive Radsportler-Karriere vorweisen und dabei auf eine beachtliche Karriere im Bund Deutscher Radfahrer zurückblicken kann: Als Junior war er Mitglied im MTB-Kader des deutschen Radsportverbandes sowie in der Rennrad-Bundesliga aktiv. Heute fährt er meist MTB auf seinem alten „Rocky Mountain Hardtrail Vertex“. Dabei oft belächelt. „Macht mir nichts. Ich liebe mein Retro-Bike…“

Die Rennrad-Vorbereitung auf seine Ötztal-Premiere war hingegen bescheiden. Gehri vor dem Start: „Über meine Jahreskilometer 2019 reden wir am besten gar nicht.“ Entsprechend hieß (nicht nur) für den gebürtigen Freiburger die Devise: „Ankommen!“ Reicht auch, denn mit „Ankommen“ ist man beim Ötztaler Radmarathon ein Sieger und entsprechend ließ sich der 42-jährige Held der Lüfte im Ziel nach 11:54 Stunden am Boden von seinen Kollegen feiern.

…und ein Extrem-Marathoni

Obwohl erst fünf Jahre im Rennrad-Sattel, ist Mario Wüstner, der im Standort Dresden den Rettungshubschrauber „Christoph 38“ steuert, der Extrem-Marathoni in der DRF-Truppe. Ob 312er auf Mallorca, 3-Länder-Giro, Fichkona oder Krusnoton – viele Meilensteine der Langstreckenhelden hat der 53-Jährige aus dem sächsischen Ottendorf schon abhaken können. Und eine Woche vor Sölden hatte er in strömenden Regen noch mal eben 250 Kilo- und 5000 Höhenmeter beim Marathon im tschechischen Teplice absolviert…

Die schlechten Wetterprognosen für Sölden trafen zum Glück nicht ein. Fast alle kamen trocken ins Ziel, nur die Starter jenseits der 11:30-Uhr-Zielzeit wurden noch nass. Dazu zählte Wüstner nicht. Mit 10:30 Stunden im Ziel war er sehr gut unterwegs. Und lächelte dabei. Getreu seinem Motto: „Quäl dich und habe Spaß“. Wäre sichervauch ein guter Werbespruch für den Veranstalter…

Die Rheinland-Fraktion in Tirol

Ähnlich „bekloppt“, wie man im Rheinland sagt, ist auch Krystian Pracz. „Im Ziel ist die Quälerei vergessen und man plant die Rückkehr – verrückt, aber schön“, sagt der „Ötztal-Junkie”, der immer wieder neue Mitstreiter animiert,  diesmal nach 10:51 Stunden im Ziel war und mit der 10. Teilnahme ein stolzes Jubiläum feierte. Pracz: „So oft wie diesmal wollte ich aber noch nie aufgeben“, sagte er schon am Brenner. Doch er hielt mal wieder durch und quälte sich auf Südtiroler Seite auch den 29 Kilometer langen Anstieg zum 2.509 Meter hohen Timmelsjoch hinauf – er weiß einfach, wie man die gefühlt 1000 inneren Schweinehunde bekämpft. Und wie man sich im Feld der über 4000 Teilnehmer bewegt.

Beim gemeinsamen Vorabend-Essen hatte er noch wertvolle Tipps an seine Kameraden vom DRF-Team parat: „Vorsicht im Kreisverkehr von Oetz vor dem ersten Anstieg, wenn im Feld die Regenjacken während der Fahrt ausgezogen werden. Und vor denen, die einen Turnbeutel auf dem Rücken tragen. Wo am Streckenrand ‚Slow‘ steht, auch Slow machen. Vorsicht vor den Kühen, nicht nur am Kühtai. Und vor den Straßenrillen auf der Abfahrt vom Jaufenpass. Und Respekt vor Anstieg und Abfahrt vom Timmelsjoch.“

Seine Bestzeit von 9 Stunden und 20 Minuten (!) möchte er nächstes Jahr knacken. Diesmal war aber Pracz-Junior Marcus mit 10:17 Stunden der Schnellste. Der 45-Jährige aus Köln konnte beim ersten Anstieg hinauf zum Kühtai lange im ersten Drittel des Feldes mithalten. Auf der Abfahrt stellte er dann mit 98,26 km/h sogar einen persönlichen Geschwindigkeitsrekord auf. Geschätzte 30 Minuten verlor er aber hinter dann dem Brennerpass, als ihm eine Sicherheitsnadel auf der Straße zum Verhängnis wurde. Er musste den technischen Support des Veranstalters in Anspruch nehmen, das dauerte. „Ich habe aber mittlerweile ein eher entspanntes Verhältnis zur Zeit und bin einfach froh, das Ziel erreicht zu haben.“ Um schnell eine Ansage an seinen Bruder nachzulegen: „Ich hab schon wieder Lust. Nächstes Jahr knöpfe ich Krystian die Kendenicher Bestzeit ab.“

DRF Luftrettung, Team

Das motivierte Team DRF Luftrettung beim Ötztaler Radmarathon

Persönlicher Auftrag erfüllt

Unter den 4285 Teilnehmern (4024 Männer und 261 Frauen) in Sölden genoss auch Jochen Bartel „die einzigartige Atmosphäre“. Jährlich spult der 61-Jährige Hürther bis zu 12.000 Kilometer auf dem Rennrad ab – auch als Vorbereitung auf diese Alpen-Qual. „Meine Ärztin meint, dass der Ötztaler eigentlich Gift für meinen Körper sei. Aber mein Leben auf diese Herausforderung mit auszurichten – das sei Gold wert“, so Bartel, der zum vierten Mal am Start stand und nach 11:02 Stunden in seiner Altersklasse einen mehr als beachtlichen 91. Platz einfuhr. Auf dem Weg dorthin musste aber auch Bartel das Timmelsjoch besiegen: „Da hat man schon 170 Kilometern in den Beinen und dann geht´s fast 30 Kilometer nur hoch. Eigentlich sagt dir dein Körper unten ‚Hör auf‘. Aber der Kopf widerspricht.“

Und deshalb steht auch der top fitte und junggebliebene Oldie nächstes Jahr wieder im Ötztal am Start. So wie eigentlich alle.

Nur Daniel Neuner wohl nicht. „Dafür war mir das bergab zu gefährlich.“ Was Motivation und Emotion angeht, könnte zudem kein weiterer Start beim Ötztaler mithalten. Und sowieso: Daniels ganz persönlicher Auftrag war in diesem Jahr am 1. September um 18:30 Uhr bereits erfüllt.


Das ist die DRF Luftrettung

Schnelle Notfallrettung aus der Luft und schonende Transporte von Intensivpatienten zwischen Kliniken – das sind die Aufgaben der DRF Luftrettung. Am 19. März 1973 startete der erste DRF-Rettungshubschrauber, mittlerweile sind über 50 Hubschrauber an 29 Standorten Teil eines flächendeckenden Luftrettungsnetzes in Deutschland, in Österreich hat die DRF zwei Stationen. Mit rund 570 Notärzten, 120 Notfallsanitätern, 170 Piloten und 130 Technikern hilft die DRF täglich Menschen in Not – bei über 900.000 Einsätzen in den bislang 46 Jahren des Bestehens. Das Unternehmen hat seinen Sitz im württembergischen Filderstadt. Seit November 2017 ist Krystian Pracz aus Hürth (Rheinland) Vorstandsvorsitzender der DRF Luftrettung.

Mehr Informationen finden Sie auf der offiziellen Website der DRF Luftrettung.

Hilfe der DRF Luftrettung

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