Wissen und Bewegung
Bewegungslose Gesellschaft: Bedeutung von Sport und Digitalisierung
in Allgemein
Der Stellenwert des Sports nimmt ab – die Gesellschaft wird bewegungslos. Die Kindheit und Jugend wird immer stärker durchgetaktet: verschult, verhäuslicht – verschwendet?
Fakt ist, dass die Freiheitsgrade von Kindern und Jugendlichen massiv abnehmen. Gibt es etwas Wertvolleres als eine erfüllte Kindheit, als die Zeit zum Spielen, die Zeit in der Natur? Gibt es etwas Wertvolleres als Freiheit? Rund 40 Prozent der Schüler besuchen Ganztagesschulen, in Sachsen fast 80 Prozent. Für Hobbys, Sport, Spiel, Musik bleibt immer weniger Zeit.
Der durchschnittliche Tag eines Kindes besteht inzwischen aus: neun Stunden Liegen, neun Stunden Sitzen, fünf Stunden Stehen, einer Stunde Bewegung – davon zwischen 15 und 20 Minuten intensiv. Die Zeit des unbeaufsichtigten Spielens, des Bewegens, ging innerhalb weniger als einer Generation um weit mehr als 50 Prozent zurück. Nur jedes dritte Kind spielt noch täglich im Freien, 25 Prozent nur einmal pro Woche oder gar nicht (Ergebnisse der KIGGS-Studie mit rund 4500 Kindern zwischen sechs und zehn Jahren, zusammengefasst von Prof. Klaus Bös).
Kinder und Jugendliche bewegen sich weniger
Kinder und Jugendliche bewegen sich heute weniger als je zuvor. 15 Prozent der Kinder sind übergewichtig, mehr als sechs Prozent sogar fettleibig. 35 Prozent der Vier- bis 17-Jährigen können keine zwei oder mehr Schritte auf einem drei Zentimeter breiten Balken rückwärtsgehen. 86 Prozent schaffen es nicht, eine Minute lang auf einem Bein zu stehen. 43 Prozent erreichen nicht den Boden, wenn sie sich mit durchgestreckten Beinen nach vorne beugen. Dies sind aktuelle Zahlen – von vor der großen digitalen Revolution, die dieser Gesellschaft noch bevorsteht.
Mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Dieser Leitsatz wird, ebenso wie viele Freiheitsgrade, auf dem Altar der Verschulung, des Digitalismus und des Aufbaus von „Humankapital“ für die Wirtschaft willentlich geopfert. Der neue „große Wurf“ der Bildungspolitik lautet: Digitalpakt. Man hat das Grundgesetz geändert, damit der Bund direkt in das Schulsystem investieren kann. Fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung von Schulen. Das klingt gut. Solange man nicht nachfragt.
Anfang der 90er-Jahre wurden an Haupt- und Realschulen noch bis zu vier Stunden Sport pro Woche unterrichtet – heute liegen die Durchschnittswerte zwischen 2,2 und 2,4 Stunden. In elf der 16 Bundesländer wurde der Grundschul-Sportunterricht auf zwei Stunden gekürzt. Davon fällt jeder vierte aus. Ein Fünftel der Sportanlagen sind veraltet und marode.
Sport fördert Ausdauer, Kraft und Koordinationsfähigkeit
Dabei haben etliche Studien gezeigt: Ausdauer, Kraft und Koordinationsfähigkeit nehmen zu, je mehr Sport getrieben wird.
Und: Mit der Leistungsfähigkeit steigt auch das Selbstwertgefühl. Körperlich trainierte Kinder weisen Verbesserungen der Reaktionszeiten, der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses auf. Zudem zeigen viele Untersuchungen einen positiven Zusammenhang zwischen dem Grad der Aktivität und der Schulleistung (Unter anderem: Hillman, Pontifex et al., 2009 und Tomporowski et al., 2008.). „Es gibt eindeutige Belege dafür, dass regelmäßige körperliche Aktivität, vor allem koordinative Bewegungsaufgaben, eine Zunahme der Synapsen im Gehirn zur Folge hat“, sagt Helmut Altenberger, Sportpädagoge an der Universität Augsburg.
Abbau von Aggression, Zunahme von Toleranz, Aufgeschlossenheit
Wie sich eine tägliche Sportstunde bei Grundschulkindern konkret auswirkt, haben Sportwissenschaftler der Universität Karlsruhe untersucht: Wie erwartet, schnitten die Schüler der Versuchsschule bei den sportmotorischen Tests deutlich besser ab als jene einer Vergleichsschule – die bewegungsschwächsten Kinder profitierten am stärksten.
Bemerkenswerter waren jedoch die weiteren Ergebnisse: der Abbau von Aggression, die Zunahme von Toleranz und Rücksichtnahme sowie eine höhere Aufgeschlossenheit dem Unterricht gegenüber.
Schüler werden auch zu Hause zu „Sitzkindern“
Nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause werden Schüler immer mehr zu „Sitzkindern“. Die bewegungslose Zeit nimmt immer weiter zu. Und die Reaktion der Politik? „Mehr Smartphones und Tablets an Schulen“ – so könnte man den Digitalpakt wohl überschreiben.
Die Fragen dazu lauten: Sind die fünf Milliarden Euro so am besten eingesetzt? Was bringt diese Hard- und Softwareausstattung den Schülern? Und gibt es in der Bildungspolitik keine anderen, größeren Probleme?
Jährlich werden neue Erfolgsmeldungen verkündet. Mehr Abiturienten. Mehr gute Noten. In den 1950er-Jahren erwarben rund vier Prozent eines Jahrgangs das Abitur, heute sind es 53 Prozent. Mitte der 1990er-Jahre gab es pro Jahr rund 250.000 Studienanfänger, heute sind es rund 520.000. In Berlin hat sich die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse innerhalb von zehn Jahren vervierzehnfacht. Erfolge über Erfolge. Für die man das über Jahrzehnte extrem erfolgreiche duale Bildungssystem aus Schule und Ausbildung nach und nach abschafft – und die man sich über eine massive Niveauabsenkung herbeireformiert.
Niveauabsenkung deutscher Schüler
Die Kinder und Jugendlichen verbringen immer mehr Zeit in betreuten Einrichtungen, was wohl politisch gewollt ist, da beide Elternteile möglichst viel Lebenszeit als Arbeitszeit verbringen sollen – und ihr Können und Wissen nimmt immer weiter ab. Was wie ein Paradoxon klingt, ist die Realität.
Der Forschungsstand zu Ganztagesschulen zeigt: Es sind keine Leistungsverbesserungen festzustellen. Die Leistungsfähigkeit deutscher Schüler nimmt seit Jahren massiv ab. Die Platzierungen Deutschlands im internationalen TIMSS-Test, in dem die mathematischen Fähigkeiten von Viertklässlern verglichen werden, in den Jahren 2007, 2011, 2015: 12, 16, 24. Der aktuelle Anteil sehr leistungsfähiger Schüler: 5,3 Prozent. In Singapur sind es rund zehnmal, in Japan rund sechsmal, in England rund dreimal mehr.
Auch die „Bildungstrend“-Studie zeigt, dass sich das Können deutscher Grundschüler innerhalb von fünf Jahren massiv verschlechtert hat. Gerade einmal etwas mehr als die Hälfte der Viertklässler erreicht den Regelstandard beim Schreiben. Nur 62 Prozent erreichen den Mindeststandard in Mathematik. Die Daten der „Vera-3“-Studie mit 24.000 Berliner Drittklässlern wollten die Hauptstadt-Politiker unter Verschluss halten.
Kompetenzen?
Erst auf massiven Druck wurden sie veröffentlicht. Die schockierenden Ergebnisse: Drei Viertel der Schüler können nicht oder kaum schreiben – sie erreichen die Regelstandards nicht. Die Hälfte bleibt sogar unter den Mindestanforderungen. Beim Lesen blieben 30 Prozent unter dem Mindeststandard, beim mathematischen Thema „Größen und Messen“ schaffen mehr als ein Drittel der Schüler die einfachsten Aufgaben nicht. In einem Land, dessen einzige Ressource das Wissen und Können seiner Bewohner ist. Man reformiert ohne Not die Basis des Wohlstandes weg.
Das Thema einer anderen Untersuchung waren die Mathematik-Abituraufgaben, die in Hamburg gestellt wurden. Mit dem Ergebnis: Zwischen 2005 und 2013 gab es eine klare Absenkung der Anforderungen.
Der Bildungsforscher Hans Peter Klein ließ die Schüler einer neunten Klasse in NRW eine Abitur-Leistungskursarbeit in Biologie schreiben – ohne jede Vorbereitung. Das Ergebnis: Zwei Drittel der Schüler hätten die Abiturprüfung bestanden. „Die Bildungsstandards berücksichtigen nicht mehr, dass ein Schüler etwas wissen muss“, sagt Klein. „Wenn man bedenkt, dass seit Pisa in der Lehrerausbildung das inhaltliche Studium um bis zu 50 Prozent reduziert wurde, dann ist davon auszugehen, dass die jüngeren Lehrer die Inhalte selbst nicht mehr in ausreichendem Maße kennen.“ Das deutsche Bildungswesen ist nicht mehr auf Wissen, sondern auf „Kompetenzen“ ausgerichtet. „Das Wissen ist durch die neue Kompetenzorientierung zu 90 Prozent abgeschafft worden.“
Digitale Technik: Mehrwert oder Ablenkung?
Und die Digitalisierung kann hier gegensteuern? Nein. Eher im Gegenteil. Das zeigt unter anderem Australien, das genau jenen Weg, den Deutschland gehen will, beschritt – und sich bereits korrigiert hat: Die einst für 2,4 Milliarden Dollar angeschafften Laptops wurden inzwischen wieder eingesammelt, da die Effekte auf die Schüler negativ waren.
Gerade für die schwächeren Schüler ist die digitale Technik vor allem: Ablenkung. Selbst der OECD-Bericht „Students, Computers and Learning“ aus 2015, der den Nutzen der Digitaltechnik an Schulen belegen sollte, erbrachte andere Ergebnisse als von den politischen Entscheidern erhofft: Es gibt „keine nennenswerten Verbesserungen in der Schülerleistung in Lesen, Mathematik oder Wissenschaft in den Ländern, die stark in die Digitalisierung der Bildung investiert hatten“.
Schaden
In einer großen, 2014 veröffentlichten Studie aus Deutschland wurde festgestellt: Jene Grundschüler, die einmal pro Woche Computer im Unterricht nutzten, schnitten in Mathematik und Naturwissenschaften signifikant schlechter ab als jene, die dies seltener oder nie taten. Selbst der PISA-Koordinator der OECD hat es klar formuliert: „Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt.“
Das zeigen etliche Studien – unter anderem eine der London School of Economics zu den Effekten eines Handyverbots an Schulen. Ergebnis: Im Durchschnitt verbesserten sich die Leistungen der Schüler um mehr als sechs Prozent. Am stärksten profitierten schwache Schüler aus ärmeren Verhältnissen. Ihre Leistungen steigerten sich durchschnittlich um mehr als 14 Prozent.
Die Medienpädagogin Paula Bleckmann kommt in ihrer Auswertung der Studienlage zu digitaler Technik an Schulen zu dem Schluss: „Nachgewiesen ist ein erhöhtes Risiko für Verzögerungen in der Sprach- und Bewegungsentwicklung, für Übergewicht, für Schlafstörungen, für Empathieverlust und für Schulversagen.“
Die Gründe dafür liegen auch im Gehirn. Maryanne Wolf, Neurowissenschaftlerin an der University of California, hat in ihrer Metaanalyse mehr als 50 Studien berücksichtigt und kam zu demselben Fazit wie rund 130 andere Wissenschaftler, die die sogenannte „Stavanger-Erklärung“ unterschrieben: Papier ist der beste Träger für Informationen – gerade beim Lernen, wenn man etwas im Gedächtnis behalten will. In einem Interview mit der NZZ fasst sie zusammen: „Der Verlust des Tiefenverständnisses und des analytischen Denkens ist ein Kollateralschaden unserer digitalen Kultur. Wir fühlen uns gut informiert, sind es aber nicht und wissen gar nicht, was wir nicht wissen. Unsere Aufmerksamkeitsspanne liegt bei etwa fünf Minuten. Vor zehn Jahren waren es noch zehn.“
Bruch mit dem humanistischen Bildungsauftrag
In Deutschland findet längst ein Bruch mit dem humanistischen Bildungsauftrag statt. Es geht um anwendungsorientierte Kompetenzen statt um kritisches Denken. Bildung ist Haltung – sie ist die Fähigkeit, Wissen in ein Wertesystem einzuordnen.
Ist das Erziehungsziel heute noch der im humboldtschen Sinne erzogene, gebildete und mündige Mensch? Oder ist es eher der Homo Oeconomicus, Humankapital – passend zu einer „marktkonformen Demokratie“?
Bildungssystem wird kommerzialisiert
Schon 1961 war in einem Grundsatzpapier der OECD zu lesen: „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen.“ Das Bildungssystem wird US-amerikanisiert, ergo: kommerzialisiert.
Der Anteil der Schüler auf Privatschulen hat sich in 15 Jahren mehr als verdoppelt. Die soziale Spaltung wird vertieft. Manfred Spitzer, der renommierte Neurowissenschaftler und Autor des Bestsellers „Digitale Demenz“, fasst die Pläne zum „Digitalpakt“ wie folgt zusammen: „Das ist eine Verdummungsmaßnahme.“ Und: „Das Wichtigste am Unterricht ist ein guter Lehrer.“ Dafür solle man das Geld investieren. Der Investitionsstau an deutschen Schulen beträgt rund 48 Milliarden Euro. Mehr als 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sind funktionale Analphabeten.
Die Gruppe der deutschen Spitzenschüler bei den Pisa-Studien wird kontinuierlich kleiner: Zwischen 2006 und 2015 ist der Anteil der 15 Jahre alten Schüler, die das Mathematik-Höchstniveau erreichen, von 4,5 Prozent auf 2,9 Prozent gesunken.
Anscheinend ist diese Entwicklung politisch gewollt. Cui bono – wem nützt es?
„Dumm sein und Arbeit haben, das ist Glück.“ — Gottfried Benn
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