Das Rennen seines Lebens
Bernd Hornetz und sein Sieg beim Ötztaler-Radmarathon: Tag des Lebens
in Race
Disclaimer: Dieser Artikel erschien erstmals am 8.3.2017 bei RennRad.
Dies ist eine unglaubliche Geschichte für mich. Ein unglaublicher Tag, unglaubliche 240 Kilometer, unglaubliche 5500 Höhenmeter. Eine Fahrt, ein Gefühl, etwas, das ich nie vergessen werde. Denn es ist etwas passiert, an das ich nicht geglaubt habe.
Ich habe den legendärsten Radmarathon gewonnen. Den Ötztaler. Mit 48 Jahren. 15 Jahre nachdem ich zum ersten Mal auf dem Rennrad saß. Doch dieses Jahr, diese Saison – sie sind anders. Was früher gegen mich lief, läuft jetzt für mich. Doch der Reihe nach: Der „Ötzi“ muss ordentlich vorbereitet werden. Das gilt für mich genauso wie für jeden anderen Hobbysportler. Meine Vorbereitung führte mich daher in ein neuntägiges Höhentrainingslager nach Le Sauze bei Barcelonette in den provencalischen Alpen. Dort habe ich gemeinsam mit meinen Freunden Bart Bury und Ben Witt auf langen Trainingsfahrten an meiner Form gefeilt. Direkt im Anschluss testete ich beim Highlander Radmarathon meine Wettkampfhärte. Unter den Umständen und trotz eines zwischenzeitlichen „Zuckermangels“ zum Schlussanstieg habe ich mich dort mit dem achten Platz noch ganz gut geschlagen.
Meine Vorbereitung
In den Tagen darauf habe ich die aktive Erholung in den Vordergrund gerückt und etwas kürzer trainiert. Meine viertägige Taperingphase begann genau eine Woche vor dem Ötztaler. Ich fühlte mich gut. Bis zum Mittwochabend. Der Besuch beim Asiaten ums Eck hat mir rückblickend wohl den Magen verkorkst. Den Donnerstag und Freitag war ich komplett platt. Erst mit ORS (Oral Rehydration Salt) und einigen Fitline-Mineralstoffen habe ich mich wieder aufgepeppelt. Die erste feste Nahrung habe ich erst am Freitagabend zu mir nehmen können. Dafür ging es am Samstag in Sölden schon wieder überraschend gut bei einem Bein- und Magentest auf dem Rad ins Venter Tal. Meine Frau, mein Corratec-Team und viele Forchheimer Vereinskollegen halfen mir in den nächsten Stunden, dass ich mich möglichst schonen und voll auf das Rennen konzentrieren konnte.
Der Renntag
Es ist der Rennmorgen gegen fünf Uhr: Nach dem Frühstück, auf der Klobrille sitzend, chatte ich per Whatsapp mit Freund und Ötzi-Ikone Werner Weiss. Ich verspreche ihm zwei Flaschen am Jaufen von meiner Frau und erinnere ihn, für seine „Same-procedure-as-every-year-Flucht“ am Kühtai nicht zu viel zu frühstücken. Genauso obligatorisch ist seine Einladung zur Fluchtgruppe mit einem seiner Teamkollegen. Gleich nach Ötz, im ersten Kilometer des ersten von vier Pässen des Tages wird attackiert. Bis dato hatte ich jedes Jahr abgelehnt. Diesmal nicht. Ich denke darüber nach.
Es ist 6:45 Uhr. Ich starte aus der ersten Reihe. Welche Ehre. Die noch sehr kalte Abfahrt bis Ötz überstehe ich ganz vorne, während ich mindestens einmal knapp hinter mir über Straßenbelag schleifendes Carbon höre. Kaum geht es bergan, gibt es eine erste Attacke aus Werner Weiss’ Gobbi-Cannondale Team. Ich denke nicht, sondern handle instinktiv – und gehe mit. Dann fährt Werner selbst vorne raus. Ich stürze wieder hinterher und schaue, wer noch mitkommt. Es sind zwei Mann. Zwei Freunde! Mein Trainingskollege und quasi Nachbar Philipp Schädel und Ex-Profi Jörg „Lude“ Ludewig. Und damit ist meine Entscheidung gefallen: Wir ziehen das zusammen durch und schauen, wie weit wir kommen. Alles auf eine Karte. Auch wenn es eigentlich verrückt ist – gut 190 Kilometer und 5.000 Höhenmeter vor dem Ziel. Ein fünfter Mann hat sich noch an unsere kleine Gruppe gehängt, ein Aufpasser aus dem Team La Bagarre des Topfavoriten und Vorjahreszweiten Cecchini. Noch vor dem Steilstück Ochsengarten hängen wir ihn ab. Wir fahren den Kühtai auf Zug. Die ersten sechs Kilometer bergauf bewege ich mich knapp unter meiner FTP von 335 Watt. Bei meinem Gewicht von 62,5 Kilogramm sind das 5,4 Watt pro Kilogramm. Weiter oben am Berg pendeln wir uns bei 290 Watt ein und haben dennoch nur wenig Vorsprung. Die Verfolger sitzen uns mit ein bis zwei Minuten im Nacken. Sie wollen uns nicht fahren lassen.
Zeit für Komplimente
Werner meint, ich sei der falsche Mann in unserer Vierer-Gruppe. Er spielt auf meine gelungene Flucht und meinen Sieg bei Granfondo Charly Gaul fünf Wochen zuvor an. Dort waren auch viele der heutigen Favoriten am Start. Das Kompliment gebe ich sofort an Werner zurück, indem ich ihn an seinen fünften Platz im Vorjahr erinnere, als er eben mit Ludewig schon in der Abfahrt nach Ötz davon fuhr. Zum Glück kennen sie unseren vierten Begleiter, Philipp Schädel, noch nicht. Er ist mit seinen 33 Jahren der jüngste von uns und hat noch keinen großen Namen in der Radmarathonszene – aber er ist ein brutal starker Bergfahrer. Wir verlieren keine Zeit bei der Verpflegungsübernahme am Kühtai, wo uns mein Team Corratec und meine Forchheimer im Vorbeiflug mit Trinkflaschen, Riegeln und Gels versorgen.
Wir stürzen uns sofort in die Abfahrt. Bis Innsbruck harmoniert die Gruppe prächtig, wir wechseln uns in der Führungsarbeit ab. Bis zum Brenner haben wir bereits vier Minuten Vorsprung herausgearbeitet.
Obwohl Werner, von heftigen Sitzproblemen geplagt, kaum helfen kann und hinter uns keinesfalls gebummelt wird, wächst unser Vorsprung auf 7:20 Minuten am Gipfel des Brennerpasses an. In den Führungen bewegt sich mein Wattmesser bei 300-330 Watt. Leider kann Werner nicht mehr weiter, er krümmt sich vor Schmerzen und muss aufgeben. Zu dritt müssen wir nach Sterzing weiter durchziehen, wieder mit aufgefrischten Vorräten von meinen Brixener Freunden. Peter Stier, seine Frau und Matthias Burster verpflegen uns. Auch am Jaufenpass ist unser Rhythmus noch gut. Wir sind nicht am Limit, haben mit 295 Watt die gleiche Leistung und einen ähnlichen Puls wie am Kühtai. Zunächst. Doch nach einigen Kilometer, ab etwa der Hälfte des Passes, bekommt der, der am stärksten von uns aussah, plötzlich Krämpfe: Philipp. Sein linker Oberschenkel macht komplett dicht. Er lässt abreißen. Ich habe die Lücke gespürt und frage meinen Mitstreiter Jörg Ludewig, wo unser dritter Mann bleibt. Wir nehmen etwas das Tempo raus. Doch leider kommt Philipp nicht zurück. Das Spiel geht weiter. Jetzt nur noch zu zweit.
Ausscheidung am Timmelsjoch
„Lude“ und ich nehmen wieder Tempo auf und fahren zu zweit zügig über den Pass. Wir fliegen kontrolliert über den zerklüfteten Straßenbelag der Abfahrt nach Sankt Leonhard. Wir kennen jeden Meter der Strecke auswendig. Am Jaufenpass müssen wohl die ersten Favoriten hinter uns nervös geworden sein und sich in Attacken zerschossen haben. Denn trotz alledem vermeldet man uns im Flachstück nach Moos jetzt acht Minuten Vorsprung. Vorher am Jaufen meist an meinem Hinterrad, schiebt Lude jetzt mächtig an und ich muss kämpfen, um in seinem Windschatten zu bleiben und meinen Part der Führungsarbeit zu schaffen. Die Anfeuerungen der zahlreichen Zuschauer werden immer lauter – und so langsam glauben wir, dass heute etwas Gutes geschehen könnte.
Aber wir wissen beide um die endlosen Serpentinen bis zum großen Tunnel vor der Passhöhe. Wir wissen, wie schnell die Minuten zerrinnen können, wenn die ganz schnellen Kletterer voll in die Offensive gehen. Lude quält sich brutal. Doch dann ist es nicht er, sondern ich bin in es, der in der Krise ist. Nach dem ersten Drittel des Timmelsjoch wird mein Tritt schwer. Die erste Steilpassage sind wir noch mit 285 Watt getreten, in der zweiten nach Schönau fällt sie auf 280 Watt. Wir hören, dass unser Vorsprung kleiner geworden ist: auf nur noch zweieinhalb Minuten. Cecchini kommt angeflogen. Die Rechnung, bis wann er an uns vorbeifliegt, ist nicht schwer.
Der Glauben
Aber wir bleiben ruhig. Ein Freund reicht mir vom Straßenrand eine Cola und ein Gel. In einem flacheren Stück kann ich wieder mehr Druck aufs Pedal geben. Ludes Atem wird immer lauter. Auf den Flachstücken schiebt er sich immer wieder vorbei und ich muss 100 Prozent fahren, um dranzubleiben. Auf der Passmitte werden wir noch einmal verpflegt. Wir füttern uns gegenseitig, bis die Flucht weitergeht. Dann kommt die Nachricht: Wir haben vier Minuten Vorsprung. Das kann doch gar nicht sein?! Ich glaube es nicht. Es ist eh egal, wir haben eh keine Option, wir können und müssen nur Vollgas geben. Bis zum Tunnel auch der Höhe Tribut zollend fällt unsere Leistung auf 245 Watt. Man sieht, die Leistung fällt kontinuierlich, aber nur leicht ab dem Brenner und mit zunehmender Höhe. Insgesamt sehr gleichmäßig und ökonomisch, ein wichtiger Baustein für eine schnelle Zeit. 100 Höhenmeter vor dem Tunnel blicken wir nach unten – auf die vielen Serpentinen, auf den Weg, den wir hinter uns haben. Wir sehen niemanden, keine Verfolger, keinen Cecchini, der mit leichtem Tritt näher kommt. Wir sehen nicht das, was wir erwartet hatten.
Mein Adrenalinspiegel steigt. Auf der Passhöhe nehme ich noch eine Cola. Mit Highspeed, auf dem Oberrohr kauernd, läuft mein Rad wie auf Schienen in die Rampe zur Zollstation. Wir fahren flüssig, ich im Wiegetritt, Lude drückt im Sitzen diese fiese Gegensteigung hinauf.
Der größte Triumph
Jetzt ist mir klar, dass wir es unter die magische Sieben-Stunden-Marke schaffen können. Damit versuche ich Jörg nochmals zu pushen und tatsächlich spannt auch er sich bergab und im Flachstück nach Obergurgl wieder vor – obwohl auch er Krämpfe bekommen hat. Seine psychische Stärke ist einfach unglaublich. In Zwieselstein, kurz vor der letzten Welle, ruft er dann: „Bernd fahr endlich, ich bin erledigt.“ Es fällt mir schwer, aber ich bin auch sicher, dass er nicht mehr eingeholt wird. Also trete ich los und der Wattmesser zeigt über die Kuppe 450 Watt, dann donnere ich hinunter nach Sölden. Unten wird das Zuschauerspalier immer enger und lauter. Alle scheinen mich mit ihren Schreien anschieben zu wollen. 200 Meter, rechts abbiegen, über die kleine Brücke – als ich die Ziellinie vor mir sehe, bin ich fassungslos. 6:57 Stunden. Es ist Irrsinn. Mein größter Sieg überhaupt.
Auch wenn die Triumphe beim Nove Colli, der Transalp der UCI-Amatuer-WM schon gigantisch waren, der Ötztaler Radmarathon übertrifft sie alle. Der „Ötzi“ begleitet mich seit meinen Radanfängen. Vor 15 Jahren, gerade vier Monate, nachdem ich mein erstes echtes Rennrad kaufte und ein Jahr zuvor ein Mountainbike. Mein Ziel damals hieß: Abnehmen. Wenige Tage später habe ich mit dem Renner zu Hause in Karlsruhe meinen ersten Trainingspartner Moritz Kruse angetroffen. Er, der erste deutsche Ötzisieger 1995 als 18-Jähriger, brachte mich auf die Idee, noch im gleichen Jahr 2001 an den Start zu gehen. Es war meine erste von nun genau einem Dutzend Teilnahmen. Damals wollte ich die Strecke irgendwie überstehen. Wie es zu dem kam, was bei diesem Ötztaler 2016 passiert ist, verstehe ich selbst nicht zu 100 Prozent. Ich habe mich selbst überrascht. Und noch heute, Wochen nach dem Marathon, empfinde ich vor allem eines: tiefe Dankbarkeit gegenüber all den Menschen, die mich auf diesem Weg unterstützt haben und unterstützen. Ich hoffe, ich kann möglichst viel zurückgeben. Ich will noch lange Rennrad fahren.