Krušnoton: Grenzerfahrung
Krušnoton: Radmarathon durch das deutsch-tschechische Grenzgebiet
in Race
Der Duft von Heu liegt in der Luft. Bunte Blätter fallen lautlos am Straßenrand zu Boden. Die Natur ist gezeichnet – von Trockenheit und Hitze. Viele Felder sind schon abgeerntet. Die Wiesen färben sich in Ockertönen. Doch ein paar Kilometer und Höhenmeter weiter, aus dem Nichts, ändert sich das Bild. Unweit von Gebirgswäldern und einem einsamen Hochtal findet man noch saftige Farben und sprudelnde Bäche. Hier ist das Klima etwas rauer. Hier ziehen deutschlandweit die meisten Gewitter vorbei. Dies ist eine Region, die von vielen unterschätzt wird. Dabei ist sie ursprünglich, natürlich – und voller Anstiege. Es ist ein idealer Ort für Rennradfahrer: das Erzgebirge. Das Mittelgebirge erstreckt sich über 100 Kilometer zwischen Dresden und Prag. Dort im Grenzgebiet findet ein Radmarathon statt, der noch ein Geheimtipp ist: der Krušnoton.
Alle Informationen zum Krušnoton finden Sie auf der offiziellen Website!
Krušnoton: Bergauf & bergab
Rückblick: Es ist sieben Uhr morgens in Teplice, dem Startort des Krušnoton. Um mich herum stehen Hunderte andere: alle in Lycra, alle behelmt. Es riecht nach Massageöl oder Wärmeöl. Die Stimmung ist gut. Noch ahne ich nicht, welche emotionalen Erfahrungen heute noch auf mich warten. Doch ich weiß, was vor mir liegt – denn dies ist nicht mein erster Krušnoton: die extrem steilen, extrem harten, extrem kräftezehrenden Anstiege.
In Summe: 250 Kilometer und 4900 Höhenmeter. Das sind die nackten Zahlen. Sie kleben als Höhenprofil auf meinem Oberrohr. Noch bin ich entspannt, kein Anflug von Aufregung. Die Menschen um mich herum strahlen Ruhe aus. Dieser Radmarathon in Tschechien ist anders als all die bekannten Marathons der Alpen, die ich kenne. Er ist familiärer, ruhiger, entspannter, authentischer. Hier geht es nicht primär um Leistung und Wattzahlen. Vieles dreht sich ums Radfahren um des Radfahrens willen. Rennräder aus Stahl, Alu – ja sogar Mountainbikes erblicke ich. Es ist ein Radmarathon in einer anderen Welt. Doch eines ist dieser Radmarathon sicher nicht: weniger steil, weniger schmerzhaft, weniger anstrengend.
Startschuss zum Krušnoton
Als der Startschuss ertönt, passiert erstmal nichts. Nur langsam setzt sich das Feld in Bewegung. Keine Spur von Nervosität. Alle scheinen Respekt zu haben: Respekt vor dem Südhanganstieg, Respekt vor den Höhenmetern, für den diese Seite des Erzgebirges steht. Die Faustregel für den Krušnoton lautet: Je länger die Strecke, desto öfter muss man den Südhang des Erzgebirgkamms hinauf. Mehr Höhenmeter. Mehr Schmerzen.
Auf der 110-Kilometer-Runde führt die Strecke einmal den Südhang hinauf. Die rund 500 Höhenmeter soll man auf der mittleren der drei Strecken hinaus. Und noch dazu die bis zu neun Prozent Steigung gleich dreimal erklimmen. Auf der 250 Kilometer langen Strecke muss man fünfmal hinauf. Daneben gibt es weitere Anstiege. Zum Beispiel von Hrob nach Nove Mesto, vorbei am Stürmer.
Harmonisch, gleichmäßig und mit wenigen Gangwechseln rolle ich ihn hinauf. Es ist der Gegensatz dessen, was mich sonst in dieser Region erwartet. Die restlichen Anstiege des Krušnoton sind steil, in vielen Fällen sogar sehr steil – bis hin zu extrem steil: 14, 15, 16 Prozent. Eine solche Rampe steht zum Beispiel im Örtchen Krupka. Dies ist der erste echte Anstieg nach dem Start. Das Fahrerfeld hat sich mittlerweile in die Länge gezogen. Man klebt am Hinterrad des Vordermanns, sucht Windschatten und versucht, Kraft zu sparen.
Am Limit
Das Erste, was mir an Krupka auffällt, sind seine Mülltonnen. Sie stehen besonders schräg am Fußweg. Sie bieten Orientierung. Je schräger die Mülltonnen stehen, desto steiler wird die Straße, desto größer wird der Schmerz. Ich höre Keuchen und sehe die ersten Teilnehmer Schlangenlinien fahren. Schlangenlinien am ersten Anstieg. Puh. Weiter hinauf Richtung Mückenberg wird es mit dauerhaften sieben bis acht Prozent etwas „flacher“. Nach weiteren fünf Kilometern ist die erste Herausforderung des Tages geschafft. Doch es warten noch mehr Höhenmeter. Zum Beispiel hinauf nach Dlouha Louka. Der Anstieg ist so etwas wie eine Analogie des Krušnoton-Radmarathons: Erst eine idyllische, fast unberührte Natur, viel Wald, und dann ein extrem steiles Stück Asphalt. Im oberen Bereich, vorbei an der alten Kirche, ist der Anstieg so steil, dass er gefühlt nicht enden will. Als führe er direkt ins Himmelblau. Die Erlösung folgt erst ganz zum Schluss. Am Gipfel.
Es geht bergab. Dies ist ein kurzes Stück der Erholung. Danach wird die Straße wieder flacher, der Wald lichter, der Wind stärker. Am Erzgebirgskamm reihen sich solche Passagen fast nahtlos aneinander. Die Suche nach einem Rhythmus beginnt. Doch sie ist zwecklos. Die Böen sind zu stark. Der Asphalt unter meinen Füßen wird rauer. Dies muss er sein, der berüchtigte grobe Asphalt der Kammstraßen, vor dem man mich gewarnt hat. Meine Hände ziehen am Lenker, mein Oberkörper wiegt hin und her. Ich bin am Limit. Doch kurz darauf wird die Straße erst flacher und führt dann wieder steil bergab. Eine kurze Phase der Erholung in der Abfahrt. Soll ich mich freuen? Eher nicht, denn die Abfahrt vom Kamm ist schnell. 70, 75, 80 Kilometer pro Stunde zeigt mein Radcomputer. Ich starre aufs grobe Asphaltgrau vor mir – und versuche, mich zu konzentrieren.
Schlaglöcher
Vor mir tauchen immer wieder mit gelber Signalfarbe markierte Stellen auf dem Asphalt auf. Beinahe jedes Schlagloch dieser Abfahrt wurde gekennzeichnet. „Was für ein Service“, denke ich noch – und rumpele dann doch über eines der Löcher. Die besonders großen Asphaltgräben sind mit einem leuchtend gelben Ausrufezeichen markiert. Was hilft: ausweichen oder darüberspringen. Abschrecken sollte der Straßenzustand nicht. In den vergangenen Jahren hat die Region viel in den Straßenbau investiert. In Tschechien dauert es oft nur ein paar Tage, dann wird die alte Asphaltdecke abgefräst und aus dunklem Bitumen ein glattes Flüsterasphaltband aufgewalzt.
Doch es gibt sie noch, die buckligen Straßen mit aufgebrochener Oberfläche – und schlecht ausgebesserten Schlaglöchern. Ihre Anzahl wird von Jahr zu Jahr kleiner. Beim Krušnoton fährt man nur noch ganz wenige Kilometer auf diesen Pisten. Mein Blick ist dann fokussierter, liegt stur geradeaus auf dem Asphalt. Meine Strategie: vor einem Schlagloch den Hintern leicht anheben, ein paar Tritte auslassen, ein kurzes Rumpeln. Dann ist es vorbei. Ich kann mich wieder den landschaftlichen Schönheiten widmen. Dem Wald, dem Blick vom Kamm auf die Ebene. Ein Blick vom Wald auf viel Wald. Vom Grünen ins Grüne.
Flache Landschaft – das passt so gar nicht zum Krušnoton
Eigentlich könnte man nun direkt aus nordwestlicher Richtung kommend nach Teplice zurückfahren. Ich würde es mir wünschen. Meine Beine sind müde. Der Kopf ist es auch. Doch der Weg ist noch weit. Der Weg vom Kamm bis zum Ziel.
Plötzlich ändert sich die Landschaft. Es folgt eine Passage, die so gar nicht zu diesem Radmarathon passt: Es wird flach. Ich rolle durch fast steppenartig anmutende Landstriche im Egergraben Richtung Süden. In der Ferne erblicke ich riesige Löcher in der Landschaft. Es sind die Braunkohletagebaugebiete der Region. Sie liegen westlich von Teplice. Doch der Krušnoton führt noch weiter, immer weiter ins böhmische Mittelgebirge. Vor mir tauchen kegelförmige Berge auf. Vor einigen Millionen Jahren waren dies aktive Vulkane.
Je schräger die Mülltonnen am Straßenrand stehen, desto steiler wird der Anstieg, desto größer wird der Schmerz.
Der finale Sprint
Einer dieser Kegelberge ist besonders markant: der 837 Meter hohe Milleschauer. An seiner Bergflanke führen die 180- und die 250-Kilometer-Strecken des Krušnoton zurück nach Teplice. Der Milleschauer ist nicht irgendein Berg. Alexander von Humboldt bezeichnete den Blick vom Milleschauer einst als „drittschönsten Ausblick auf der Erde“. Heute herrscht in dieser Region vor allem eines: Ruhe. Die alten Dörfer sind verschlafen. Die Straßen sind schmal. Auf ihnen herrscht wenig bis kein Verkehr.
Die finalen Kilometer bis ins Ziel gleichen einer Triumphfahrt. Der Asphalt ist neu, die Beine pedalieren wieder im Takt. Mein Rhythmus wird von einzelnen kleineren Anstiegen unterbrochen. Auch die Zielgerade in Teplice steht wie ein Symbol für diesen Radmarathon. Es geht bergauf. Mit letzter Kraft. Ein letzter Sprint. Ein letzter Krampf. Ich habe es geschafft. 250 Kilometer und fast 5000 Höhenmeter liegen hinter mir. Jetzt habe ich vor allem eines: Hunger. Dem Pasta-Buffet beim Krušnoton eilt sein Ruf voraus. Serviert werden die Nudeln in einer speziellen Glasschüssel, in die der Name des Radmarathons eingraviert ist.
Wer seinen Hunger gestillt hat, darf die Glasschüssel mit nach Hause nehmen. Auch sonst bietet der Krušnoton für rund 50 Euro Startgeld extrem viel. An den offiziellen Verpflegungsstellen entlang der Strecke gibt es nichts, was es nicht gibt: Apfelsaft, isotonische Getränke, Kaffee, alkoholfreies Bier, Wasser und die in Osteuropa mittlerweile Kultstatus genießende Kräutercola namens „Kofola“. Für Äpfel, Melonen und Bananen muss man als Teilnehmer während der Radmarathons gar nicht absteigen. Sie werden von den freiwilligen Helfern am Straßenrand während der Fahrt gereicht. Wer noch größeren Hunger hat, kann zu Riegeln greifen, zu süßen und herzhaften Brötchen, Gebäck – ja sogar den süßen Palatschinken gibt es.
Zeitreise
Der Krušnoton ist wie eine Zeitreise. Hier geht es weder darum, sich und seinen Körper zu optimieren noch darum, ehrgeizigen Trainingsplänen zu folgen. Hier kommt man zusammen und hat Respekt voreinander. Was ich hier erlebt habe, findet man so nur noch sehr selten: Man spürt echte, ungekünstelte Sportbegeisterung – am Start, am Streckenrand, im Ziel. Viele Tschechen leben eine Freizeitkultur in der Natur vor. Der Radsport ist ein Teil der Identität.
Alle Informationen zum Krušnoton finden Sie auf der offiziellen Website!
Für die Veranstalter ist es in Tschechien unkompliziert, eine Genehmigung für einen Radmarathon mit Startnummern, Zeitnahme und Zwischenwertungen zu erhalten. In Deutschland dagegen kämpft man mit den wachsenden bürokratischen Auflagen. Beim Krušnoton steht an jeder Straßenkreuzung ein Streckenordner, der den Autoverkehr anhält und den Radfahrern für einen Tag freie Fahrt ermöglicht. Immer mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Nach 250 Kilometern und 4900 Höhenmetern, einem Tag voller Schweiß, Schmerz und Spaß beim Krušnoton, ist mein Körper leer. Doch mein Geist ist voll. Dieser Radmarathon hat mich in den Bann gezogen. Die Landschaft, die Menschen, die Begeisterung haben Spuren hinterlassen. Ich werde wiederkommen. Ganz bestimmt. Na shledanou, Krušnoton!
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