Patrick Hagenaars: Das Schicksal als Chance. Ein Sportler-Portrait.
Patrick Hagenaars: Mit Armprothese aufs Ötztaler-Podium
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Eine Frage der Perspektive
Gar nichts machen. Regenerieren. Den Kopf ausschalten. Für sich sein. Nur mit einem Rucksack und dem nötigsten darin. Patrick Hagenaars liebt diese Wochen am Ende einer langen Saison. Er streift dann durch seine Heimat, die Kitzbüheler Alpen. Zeitlos. Ohne Hektik. Ohne Rennrad. Drei Wochen lang betrachtet er die Welt von oben. Die Berge geben ihm Kraft. An den Gipfeln tankt er Energie. Mal steigt er schon zum Sonnenaufgang hinauf. Mal erklimmt er sie zum Sonnenuntergang. Von oben betrachtet, sehen die Probleme der Menschen im Tal sehr klein aus. Alles ist eine Frage der Perspektive. Für Patrick Hagenaars’ Leben gilt das ganz besonders.
Ziel vor Augen
„Schon als 13-Jähriger hatte ich ein festes Ziel vor Augen: Ich wollte als Sportler ganz nach oben. Ich war von klein auf aktiv und sportbegeistert, ging ständig meinem Bewegungsdrang nach und versuchte mich in einigen Sportarten. Schließlich kam ich zum Skispringen und somit auch zur Nordischen Kombination. Sportlich lief alles nach Plan, um an die erweiterte Weltspitze zu kommen. Ich war Mitglied im B-Kader des Österreichischen Skiverbandes. Dann kam mein Unfall. Selbstverschuldet.“
Altes Leben – neues Leben
Eine Partynacht 2003 veränderte das Leben des damals 20-Jährigen von einem Tag auf den anderen. Patrick Hagenaars feierte mit Freunden, erst gemütlich, dann im Rausch. Am Bahnhof Wörgl stürzt er plötzlich aufs Gleis. Zwischen Bahnsteig und einem abfahrenden Zug bleibt er liegen. Der Zug rollt über seinen linken Ellenbogen. Danach wird es dunkel. Patrick Hagenaars kann sich an die Minuten danach nicht erinnern. Als er wieder zu sich kommt, hat er eine Not-Operation in Innsbruck gerade hinter sich. Die Ärzte retten sein Leben – doch für seinen linken Arm kam die Hilfe zu spät. Er muss amputiert werden. Hagenaars’ Karriere als Nordisch Kombinierer ist schlagartig beendet – und mit ihr der Kindheitstraum vom Spitzensportler. Mit gerade einmal 20 Jahren muss er sein Leben neu beginnen.
Positives Denken
Es gibt Menschen, die zerbrechen an dem Zerplatzen ihres Traums. Sie leiden ein Leben lang darunter. Sie quält das „Warum ich?“. Sie quälen sich an der Frage nach dem „Was wäre gewesen, wenn?“. Patrick Hagenaars gehört nicht zu diesen Menschen. Schon im Krankenhaus wird das klar. Er blickt nach vorne und setzt sich neue Ziele: Erst die Rehabilitation, dann der Abschluss einer Ausbildung zum Holzbau-Techniker im Betrieb seines Bruders. Hagenaars erweist sich als das, was Mediziner als „resilient“ bezeichnen: Er ist in besonderem Maße widerstandsfähig und zäh. Resiliente Menschen besitzen die Gabe, Krisen nicht nur zu bewältigen, sondern stärker aus ihnen hervorzugehen. Weil sie mentale und soziale Ressourcen haben. Weil sie stark sind.
Grenzen verschieben
Patrick Hagenaars greift bei seiner schrittweisen Rückkehr in die Normalität auf seine Erfahrungen aus dem Leistungssport zurück. Denn: Leistungssport heißt in den seltensten Fällen „Gold und Glamour“. Oft heißt es „Leistung durch Leiden“. Man muss sich über Schmerzgrenzen hinaus quälen, physisch wie mental. Patrick Hagenaars helfen diese Erfahrungen aus seiner Zeit im Ski-Kader, er münzt sie in Stärke um. Für ihn gilt: Grenzen sind dazu da, dass man sie überwindet. Spätestens bei seinem Lebensmotto wird das klar: „Alle sagten, es geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht und hat es einfach gemacht.“
Höhen und Tiefen
„Ich akzeptierte mein Schicksal ziemlich bald und fasste relativ schnell wieder Fuß im Arbeitsleben. Mit den Jahren musste ich aber feststellen, dass mich belangloses Training und auch die Arbeit nicht vollständig zufrieden stellten. Ich fiel erstmals in ein psychisches Loch. Der Grund: Viele Jahre habe ich das plötzliche Aus meines Kindheitstraums, den Sport zu meinem Beruf zu machen, verdrängt. Dieser Ursache kam ich irgendwann auf die Schliche und mein sportlicher Ehrgeiz war wieder geweckt. 2011 fuhr ich die ersten Wettkämpfe auf dem Rennrad.“
Radfahren mit Prothese
Dass Patrick Hagenaars seit 2011 fast ohne Einschränkungen Rennradfahren kann, verdankt er vor allem seiner Prothese. Die ist eine Spezialanfertigung. Ein Kumpel, der Maschinenschlosser ist, hat sie auf die Bedürfnisse beim Radfahren angepasst. Die Prothese klickt am Lenker ein. Bei einem Sturz löst sich die Verbindung wie bei einer Skibindung. Geschalten wird mit dem gesunden Arm auf der rechten Lenkerseite. Die modernen Sprint-Shifter der elektronischen Schaltsysteme machen es möglich. Vorder- und Hinterradbremse sind zusammengeschlossen.
Den Bremshebel bedient Hagenaars ebenfalls mit seiner rechten, der gesunden Hand. Die Dosierung, etwa 50 Prozent Bremskraft vorne und 50 Prozent Bremskraft hinten, kann er noch während eines Rennens durch eine kleine Schraube am Lenker verändern. Natürlich hat Hagenaars mit der Prothese einen Nachteil gegenüber anderen Topfahrern eines Radmarathons. Vor allem bergauf und im Sprint.
Balanceakt
Auch der Wiegetritt ist mit der Prothese fast unmöglich. Es fehlt die Balance. Umso bemerkenswerter sind die Leistungen des 36-jährigen Brixenthalers in den vergangenen Jahren: Sieger bei der Premiere des Kufsteinerland Radmarathons 2016 und dazu ein zweiter Platz 2017. Den Arlberggiro 2017 gewann er ebenso wie den Amadé Radmarathon. Beim Ötztaler Radmarathon wurde er 2016 Fünfter. 2017 kam Hagenaars zeitgleich mit Vorjahressieger Bernd Hornetz (Team Corratec) als Zehnter ins Ziel. 2018 folgte der große Coup: Patrick Hagenaars fährt aufs Ötztaler-Podium und belegt hinter Mathias Nothegger und Samuele Porro Rang drei. Hagenaars Zeit: 7:14:53 Stunden. Seine „Ötzi-Bestzeit“ liegt bei 7:06:14 Stunden. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 33,5 Kilometern pro Stunde. Über 5500 Höhenmeter.
Kraft und Gefühl
Wo seine Konkurrenten an steilen Anstiegen am Lenker ziehen, kommt Patrick Hagenaars’ Kraft vor allem aus den Beinen – und seinem Gluteus Maximus. Oder wie er es scherzhaft ausdrückt: „Ich habe mehr Kraft im Arsch als andere.“ Im Winter legt er im Fitnessstudio die Grundlagen. Bei der Freien Kniebeuge schafft er bis zu 120 Kilogramm. Aber auch Rumpf- und Stabilisationstraining stehen dabei mindestens dreimal pro Woche auf dem Trainingsplan. Lässt es die Schneelage zu, zieht es Patrick Hagenaars in die Natur.
Training
Skitouren und lange Wanderungen baut er ebenso oft ins Grundlagentraining ein wie Intervalle auf der Rolle. Doch am liebsten trainiert er nach Gefühl. Einen Wattmesser hatte er bis Ende 2017 noch nicht. Radfahren ist für ihn mehr als stupides Treten nach (Watt-)Zahlen. Seinen Trainingsplan schreibt er selbst. Seine einzige Regel, an die er sich immer hält: Auf drei ansteigende Trainingswochen folgt eine Ruhewoche.
Ernährung
Auch in Ernährungsfragen ist Patrick Hagenaars konsequent aber nicht fatalistisch. Viele Bio-Produkte, kaum Fleisch, keine Fertigprodukte. Stattdessen: Alles, was frisch ist und in der Natur vorkommt. „Lebensmittel, die leben“, so sagt er es. Nüchterntraining setzt er hin und wieder ein. Dogmatisch ist er hier nicht. In intensiven Trainingsphasen dürfen auch die Portionen an Kohlenhydraten deutlich größer ausfallen.
Mentale Stärke
Mental zählt Patrick Hagenaars wohl schon jetzt zu den stärksten Athleten der Radmarathonszene. Demut und Bescheidenheit angesichts seines Unfalls zeichnen ihn aus, einerseits. Andererseits weiß er durch seine starke Rückkehr in die Sportszene, zu welchen Leistungen sein Körper auch jetzt noch in der Lage ist. Wer Hagenaars – wie der Autor dieses Texts – am Vortag eines Radmarathons erlebt hat, der erlebt einen besonnenen, in sich ruhenden und unglaublich fokussierten Sportler. Am Renntag explodiert er dann vom ersten Meter an: wach und das Tempo in der Spitzengruppe mitbestimmend. Wer wie Hagenaars bei den großen Radmarathons in die Top Ten fährt, der muss kritische Fragen und manchmal auch Verdächtigungen aushalten können. Er selbst bezeichnet die 2017 eingeführte Dopingkontrolle nach dem Ötztaler Radmarathon als „das Beste, was passieren konnte“. Dass es 2018 zu keiner einzigen Dopingkontrolle gekommen ist, bedauert Patrick Hagenaars.
„Doping ist Beschiss am eigenen Körper“
„Doping ist für mich der größte Beschiss am eigenen Körper. Doper bescheißen in erster Linie nicht die anderen, sondern sich selbst. Ich mache mir keine Gedanken darüber, was andere vielleicht tun könnten, sondern versuche Gerüchte und Vermutungen von mir fernzuhalten. Ich gehe mit der Grundannahme ins Rennen: Jeder ist sauber. Vielleicht ist das naiv, aber ich brauche diesen Umgang mit dem Thema für mich selbst, um mental klarzukommen. Es ist natürlich verständlich, wenn zu dem Einen oder Anderen Vermutungen geäußert werden. Und eines ist ohnehin klar: Wir brauchen viel mehr Doping-Kontrollen bei den großen Radmarathons. Auch beim Ötztaler. Wenn im Ziel die ersten zehn Fahrer kontrolliert werden, hilft das allen.“
Verstecktes Potenzial
Sein eigenes, natürliches Leistungspotenzial sieht Patrick Hagenaars noch nicht ausgeschöpft. Ein paar Prozentpunkte will er in 2018 herauskitzeln. „Ausdauersport ist ein langfristiges Vorhaben. Ich habe das Gefühl, dass ich noch nicht am Zenit angekommen bin“, schätzt er sich selbst ein. Mit 36 Jahren ist er ohnehin im besten Radmarathon-Alter. Je länger und bergiger die Strecken werden, desto größer sieht Hagenaars seine Chancen. Fragt man ihn nach konkreten Saisonzielen, blockt er aber ab:
Wettkampftyp
„Grundsätzlich setze ich meine Ziele nie platzierungsorientiert. Da bin ich viel zu stark von anderen abhängig. Ich will mein Niveau in jeder Saison weiter steigern. Wenn ich spüre, das es einen, zwei, drei Prozent besser läuft, bin ich zufrieden. Zeiten und Platzierungen sind für mich Schall und Rauch. Klar gibt dir das was: Anerkennung und Zufriedenheit. Aber man muss das relativieren. Andersherum darf man auch bei einer schlechten Platzierung nicht die Flinte ins Korn werfen. Wenn ich Top-Tage habe, merke ich das schon, wenn ich am Morgen aufs Rad steige. Da weiß ich sofort, ob heute was geht. Da macht alles wirklich mehr Spaß. Eine meiner Stärken ist: Bei Wettkämpfen, die mir wichtig sind, bin ich immer fit und voll da.“
Saisonpause
Patrick Hagenaars weiß, was er will. Schon immer, nicht erst seit seinem Unfall, der so viel verändert, der so viel erweckt hat. Selbst für die Zeit nach der Saison 2018 hat er schon Pläne. Er will sich einen Traum erfüllen. Diesmal wird er eher nicht nur durch seine Heimat streifen. Er möchte reisen. Mit seinem Rad, einem Rucksack und ohne konkretes Ziel. Weit weg. Von Tirol in die weite Welt. Spanien oder Bulgarien kann er sich vorstellen. „Alles geht, wenn du es dir in den Kopf setzt und es einfach tust.“ //
Steckbrief
Patrick Hagenaars, geboren am 7. Februar 1982 in Kitzbühel, ist ein österreichischer Radmarathon-Spezialist. Er ist 1,80 Meter groß und hat dabei ein Wettkampfgewicht zwischen 64 und 67 Kilogramm. Er ist ledig und lebt in Brixen im Thale. Vor seinem Unfall im Jahr 2003 zählte er zur österreichischen Nationalmannschaft in der Nordischen Kombination. Ursprünglich absolvierte er eine Lehre als Technischer Zeichner im Maschinenbau, nach seinem Unfall machte er eine Umschulung zum Bautechnischen Zeichner für den Holzbau. Patrick Hagenaars Rad-Jahreskilometerleistung beträgt circa 16.000 Kilometer. Dabei absolviert er circa 300.000 Höhenmeter. Im Durchschnitt trainiert er zwischen 12 bis 16 Stunden pro Woche.
Mehr Informationen: Homepage von Patrick Hagenaars